Leitsatz (amtlich)
Bestimmen die zu § 9 GAL erlassenen Richtlinien der Alterskasse, daß die Kosten einer selbstbeschafften Ersatzkraft nicht erstattet werden, wenn die ärztliche Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit nicht innerhalb von 2 Wochen nach Einsatzbeginn vorgelegt wird, dann muß die Alterskasse bei verspäteter Vorlage gleichwohl im Wege der Ermessensausübung noch berücksichtigen, daß nach einem im Sozialgesetzbuch enthaltenen Rechtsgrundsatz eine fehlende (verspätete) Mitwirkung dann nicht zur Versagung von Sozialleistungen führen soll, wenn dadurch die Aufklärung des Sachverhalts nicht erschwert worden ist.
Normenkette
GAL § 9 Abs. 1, § 7; SGB I §§ 37, 39, 60, 66-67
Verfahrensgang
SG Bayreuth (Entscheidung vom 14.02.1982; Aktenzeichen S 5 Lw 2/81) |
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 25.04.1984; Aktenzeichen L 1 Lw 1/83) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger Kosten für eine selbstbeschaffte Betriebs- und Haushaltshilfe auch für die Zeit vom 1. bis 19. August 1980 zu erstatten sind.
Der Kläger betreibt ein landwirtschaftliches Unternehmen; er ist beitragspflichtiges Mitglied der Beklagten und der landwirtschaftlichen Krankenkasse (LKK). Am 27. Juli 1980 kam seine (mitarbeitende) Ehefrau in stationäre Heilbehandlung, die bis zum 31. Juli dauerte. Der Kläger beantragte deshalb am 29. Juli 1980 Betriebs- und Haushaltshilfe für die Zeit der Krankenhaus- und der anschließenden offenen Heilbehandlung; vom 29. Juli an beschäftigte er eine selbstbeschaffte Ersatzkraft. Mit Bescheid vom 7. August 1980 übernahm die LKK deren Kosten für die Zeit der stationären Behandlung der Ehefrau; dabei wies sie darauf hin, daß bei anschließender ambulanter Behandlung eine gesonderte ärztliche Bescheinigung binnen 14 Tagen nach der Entlassung nachgereicht werden müsse. Die ärztliche Bescheinigung vom 7. bzw 11. August 1980 über die voraussichtliche Arbeitsunfähigkeit der Ehefrau bis Ende August ging jedoch erst am 20. August 1980 bei der LKK ein. Die Beklagte erklärte sich hierauf lediglich bereit, ab diesem Tage (bis zum 29. August 1980) die Kosten der Ersatzkraft zu übernehmen (Bescheid vom 21. August 1980, Widerspruchsbescheid vom 9. März 1981); für die vorherige Zeit ab dem 1. August lehnte sie das ab, da die Bescheinigung verspätet vorgelegt sei; der Einwand des Klägers, ihn treffe daran kein Verschulden, begründe keinen Anspruch auf frühere Erstattung.
Die Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) hat auf die zugelassene Berufung hin die Beklagte verpflichtet, über die Kostenerstattung für die Ersatzkraft vom 1. bis 19. August 1980 unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden (Urteile vom 14. Februar 1982 und vom 25. April 1984). Nach seiner Ansicht entsprechen die Bescheide der Beklagten zwar den aufgrund der §§ 9 und 7 des Gesetzes über die Altershilfe für Landwirte (GAL) erlassenen Richtlinien der Beklagten; sie verletzten jedoch die §§ 66 und 67 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB 1). Diese grenzten den Ermessensbereich der Beklagten nämlich dahin ein, daß sie zu formell-rechtlich abweichenden Sanktionen keine Möglichkeit mehr habe. Das gelte nach § 39 Abs 2 SGB 1 auch für Ermessensleistungen. Nach § 66 Abs 1 könne der Versicherungsträger die Leistung nur dann versagen, wenn durch die mangelnde Mitwirkung die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen seien. Hier werde die allein im Wege der Kostenerstattung zu erbringende Leistung durch die verspätete Vorlage des Attestes nicht erschwert. Im übrigen sei der Kläger auf die Folgen der unterlassenen Mitwirkung nicht § 66 Abs 3 SGB 1 entsprechend hingewiesen worden; auch habe er die Mitwirkung nachgeholt (§ 67 SGB 1).
Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt die die Beklagte eine Verletzung der §§ 9 und 7 GAL iVm den dazu ergangenen Richtlinien sowie der §§ 37, 39 und 60 ff SGB 1. Sie sei zu von den §§ 60ff SGB 1 abweichenden Regelungen befugt und müsse bei der Betriebs- und Haushaltshilfe die Möglichkeit haben, die oft nur vorläufigen Entscheidungen möglichst schnell überprüfen zu können.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet; dem von der Beklagten angegriffenen Urteil ist im Ergebnis zu folgen.
Für Fälle der vorliegenden Art hat die Beklagte die Gewährung von Betriebs- und Haushaltshilfe im zweiten Teil ihrer - nach dem Stande vom 1. Januar 1979 anzuwendenden - Allgemeinen Richtlinien (AR) geregelt. Danach kann Betriebs- und Haushaltshilfe auch für den Ehegatten des landwirtschaftlichen Unternehmers gewährt werden (§§ 26 bis 28, 33, 34). Hierbei gilt ebenfalls § 38 Satz 1 AR; gemäß dieser Vorschrift wird während der Dauer einer auf Krankheit beruhenden ambulanten Heilbehandlung, sofern ärztlich bescheinigte Arbeitsunfähigkeit besteht, eine Ersatzkraft in der Regel bis zur Dauer von vier Wochen gestellt, wenn Art und Schwere der Krankheit die Gestellung einer Ersatzkraft rechtfertigen und Übergangsgeld nicht gezahlt wird. Diese Voraussetzungen muß die Beklagte für die Zeit ab 20. August 1980 bejaht haben; sie sind nach dem festgestellten Sachverhalt auch für die streitige vorherige Zeit als gegeben anzusehen. Ebenso muß als festgestellt gelten, daß die Gestellung einer Ersatzkraft in der streitigen Zeit - wie vorher und nachher - aus den in § 35 AR genannten (§ 7 Abs 4 Satz 2 GAL entsprechenden) Gründen ausschied, so daß nur die Erstattung der Kosten für eine selbstbeschaffte betriebsfremde Ersatzkraft in Betracht kommt.
Nach der Anlage C (Teil II Nr 2 Abs 5 Buchst d, letzter Satz) der AR, die für die Betriebs- und Haushaltshilfe "Besondere Richtlinien" enthält (die AR verweist hierauf in § 37 Abs 2 und § 43 Abs 4 Satz 2), werden allerdings die Kosten für eine selbstbeschaffte Ersatzkraft nicht erstattet, wenn die notwendigen Unterlagen nicht innerhalb von zwei Wochen nach dem Einsatzbeginn der Alterskasse vorliegen. Diese Regelung engt die allgemeine Verfahrensregelung des § 43 AR ein, wonach dem Antrag auf Betriebs- und Haushaltshilfe eine ärztliche Bescheinigung beigefügt werden "soll"; sie schließt sich an Bestimmungen über die Zustimmung der Alterskasse zum Einsatz einer selbstbeschafften Ersatzkraft an (Abs 4 und Abs 5). Voraussetzung für eine solche Zustimmung ist ua nach Abs 5 Buchst d, daß der Alterskasse die erforderlichen Unterlagen vor Beginn des Einsatzes vorliegen; sofern das nicht möglich, der alsbaldige Einsatz aus betrieblichen Gründen aber erforderlich ist, sind (nach dem folgenden Satz) die notwendigen Unterlagen nach mündlicher oder fernmündlicher Abstimmung, spätestens jedoch zwei Wochen nach Einsatzbeginn vorzulegen. Im vorliegenden Fall sind die Voraussetzungen der Ausschlußbestimmung des Abs 5 Buchst d, letzter Satz gegeben. Die ärztliche Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit gehört zu den notwendigen Unterlagen, zumal sie schon nach § 38 AR materiell-rechtliche Voraussetzung der Betriebs- und Haushaltshilfe bei ambulanter Heilbehandlung ("sofern ärztlich bescheinigte Arbeitsunfähigkeit besteht") ist. Der Kläger hat sie nicht binnen zwei Wochen nach dem bei der ambulanten Heilbehandlung am 1. August 1980 beginnenden Einsatz vorgelegt. Die Beklagte konnte damit die Ausschlußbestimmung an sich auf die streitige Zeit vor der verspäteten Vorlage anwenden. Dies gilt auch dann, wenn - worüber Feststellungen im angefochtenen Urteil fehlen - ein besonderes Verfahren auf Zustimmung der Beklagten zum Einsatz der selbstbeschafften Ersatzkraft nicht eingeleitet worden ist (in Bl 3 Rückseite ihrer Verwaltungsakten findet sich nur eine Zustimmung der LKK bis zum 9. August 1980); die Ausschlußvorschrift folgt im Text der Anlage C zwar der Zustimmungsregelung, ist aber inhaltlich unabhängig von einem Zustimmungsverfahren gestaltet.
Gleichwohl sind die angefochtenen Bescheide rechtswidrig, weil die Versagung der Kostenerstattung im Ermessen der Beklagten stand und die Beklagte hiervon nicht in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Allerdings ergibt sich das entgegen dem LSG noch nicht daraus, daß die §§ 60 ff SGB 1 unmittelbar anwendbar wären und keine abweichenden Regelungen in den AR zuließen. Die §§ 60 ff SGB 1 gelten nur, soweit sich aus den besonderen Teilen des SGB nichts anderes ergibt (§ 37 SGB 1; für die Zeit von Januar 1980 bis Juni 1983: § 1 SGB 10); abweichende Regelungen können daher im GAL und in seinen Durchführungsvorschriften getroffen werden (Art II § 1 Nr 8 SGB 1; SozR 5075 Art 4 § 2 Nr 2; SozR 3870 § 8 Nr 2). Die AR sind solche Durchführungsvorschriften; sie beruhen in ihrem zweiten Teil auf § 9 Abs 5 und § 7 Abs 5 GAL; danach hat die landwirtschaftliche Alterskasse die allgemeinen Richtlinien zu erlassen, die zur Durchführung des § 9 Abs 1 GAL erforderlich sind, der zur Aufwendung weiterer Mittel ua für Einzelmaßnahmen zur Erhaltung der Erwerbsfähigkeit von landwirtschaftlichen Unternehmern und ihren Angehörigen ermächtigt. Diese Richtlinien sind, was der Senat früher noch offen ließ (SozR Nr 1 zu § 7 GAL 1965 und Nr 2 zu § 9 GAL 1965), Rechtsnormen, weil sie - wie die Richtlinien nach § 39 Arbeitsförderungsgesetz - zur Durchführung eines Gesetzes verbindliches Recht setzen und dementsprechend von der Vertreterversammlung als dem Rechtssetzungsorgan der Beklagten erlassen (§ 10 der Satzung) und veröffentlicht werden; dadurch unterscheiden sie sich von den in SozR Nr 1 zu § 1307 RVO zu beurteilenden "Grundsätzen", bei denen es sich lediglich um interne Verwaltungsregeln handelte.
Daß die §§ 60 ff SGB 1 im Bereich der hier streitigen Betriebs- und Haushaltshilfe nicht unmittelbar gelten, heißt jedoch nicht, daß die Beklagte ohne Grund die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die in den Vorschriften des SGB zum Ausdruck gekommen sind, unbeachtet lassen dürfe. Einen solchen Rechtsgrundsatz hat der Senat in SozR 3870 § 8 Nr 2 darin gesehen, daß - wie aus dem SGB 10 ersichtlich - einer Leistungsrückforderung in einem unter Umständen unterschiedlichen Stadium des Verfahrens eine Ermessensausübung voranzugehen hat; die Bundesanstalt für Arbeit dürfe daher die Rückforderung von nach Sonderprogrammen für Schwerbehinderte gewährten Zuschüssen nicht entsprechend ihren Richtlinien als unbedingte Verpflichtung ohne jede Ermessensausübung behandeln. Für die Fälle unzureichender Mitwirkung hat in den §§ 66, 67 SGB 1 ein weiterer allgemeiner Grundsatz seinen Niederschlag gefunden; nach ihm soll bei Sozialleistungen eine fehlende Mitwirkung dann nicht zur Versagung der Leistung führen, wenn hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts nicht erschwert worden ist.
Die Beklagte ist in der Lage, bei der Entscheidung über die Betriebs- und Haushaltshilfe in Fällen verspäteter Vorlage der ärztlichen Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit solche Sachlagen zu berücksichtigen. Die Bestimmung über die Versagung der Kostenerstattung für diese Fälle in Anlage C II 2 Abs 4 Buchst d, letzter Satz ist zwar als zwingende Norm formuliert; die Gesamtbetrachtung der AR zeigt jedoch, daß die Beklagte über die Gewährung der Einzelmaßnahmen des § 9 Abs 1 GAL "nach pflichtgemäßem Ermessen" (§§ 26 Abs 1, 33 AR) entscheiden will. Es muß daher auch bei zwingend formulierten Ausschlußvorschriften noch ein Ermessensbereich offen bleiben, wenn bei der Entscheidung zusätzlich allgemeine Rechtsgrundsätze oder sonstige wesentliche Umstände Berücksichtigung verlangen.
Im vorliegenden Fall hat die verspätete Vorlage der ärztlichen Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit die Klärung und Feststellung der für die Gewährung der Betriebs- und Haushaltshilfe für die Zeit vom 1. bis 19. August 1980 nach den AR erforderlichen Voraussetzungen nicht erschwert. Zwar kann auch in einer erheblichen zeitlichen Verzögerung eine Erschwerung liegen (SozR 1200 § 66 Nr 10); zwischen dem Fristablauf und der Vorlage liegen hier jedoch nur wenige Tage. Der Beklagten muß allerdings die Möglichkeit verbleiben, selbst bei nicht erschwerter Sachverhaltsaufklärung noch sonstige Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die bei ihren Entscheidungen über Betriebs- und Haushaltshilfe Beachtung verdienen. Einen solchen Gesichtspunkt hat der Senat in SozR 5420 § 36 Nr 1 darin gesehen, daß die Wahl der Leistungsform in ihrer Hand bleiben müsse; die Versagung einer Kostenerstattung für Zeiten vor der Antragstellung hat der Senat deshalb für rechtmäßig gehalten. Hier geht es demgegenüber nicht um die rechtzeitige Antragstellung, sondern um die rechtzeitige Vorlage der ärztlichen Bescheinigung. Insoweit ist aber auch in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat nicht deutlich geworden, welche berechtigten Belange die Beklagte noch ins Feld führen könnte, um hier wegen der verspäteten Vorlage der ärztlichen Bescheinigung die Kostenerstattung zu versagen. Schwierigkeiten, die dadurch entstehen, daß in Fällen der schon während der stationären Heilbehandlung zugleich für die anschließende ambulante Heilbehandlung gestellten Anträge die Beklagte nicht rechtzeitig vom Beginn der ambulanten Heilbehandlung erfährt, können nicht als durch verspätete Vorlage von ärztlichen Bescheinigungen über die Arbeitsunfähigkeit verursacht angesehen werden.
Die Beklagte muß daher erneut über die Kostenerstattung für die Zeit vom 1. bis 19. August 1980 entscheiden und dabei die diesem Urteil zugrunde liegende Rechtsauffassung des Senats beachten.
Die Kostenerstattung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes; sie schließt die Kosten des Beschwerdeverfahrens wegen der Nichtzulassung der Revision mit ein.
Fundstellen