Leitsatz (amtlich)
Zur Berücksichtigung der besonderen Kenntnisse und Erfahrungen eines Hauers, der infolge der Unfallfolgen seinen Beruf nicht mehr ausüben kann, bei der Festsetzung der Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit nach RVO § 581 Abs 2.
Normenkette
RVO § 581 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. Dezember 1967 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der am 21. Februar 1919 geborene Kläger erlitt als Hauer am 13. Dezember 1960 einen Arbeitsunfall. Es handelte sich um einen Schien- und Wadenbeinbruch des rechten Unterschenkels und um Schürfungen am linken Unterschenkel.
Die Beklagte gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 30. Oktober 1961 für die Zeit vom 14. Juni 1961 bis zum 16. Juli 1961 die Vollrente und ab 17. Juli 1961 eine vorläufige Teilrente von 30 v.H. der Vollrente. In einem Gutachten vom 3. Dezember 1962 nahmen Dr. D und Dr. P noch eine durch die Unfallfolgen bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 v.H. an. Mit Bescheid vom 27. Dezember 1962 stellte die Beklagte ab 1. Februar 1963 eine Dauerrente von 20 v.H. der Vollrente fest. Nach einem von Dr. A erstatteten Gutachten vom April 1966 war gegenüber dem Gutachten vom 3. Dezember 1962 eine wesentliche Besserung der Unfallfolgen eingetreten; das rechte Bein habe sich gekräftigt und eine Bewegungsbehinderung im rechten unteren Sprunggelenk bestehe nicht mehr. Die MdE betrage noch 10 v.H. Mit Bescheid vom 18. April 1966 entzog daraufhin die Beklagte die Rente mit Ablauf des Monats Mai 1966.
Gegen den Entziehungsbescheid erhob der Kläger Klage vor dem Sozialgericht (SG) Münster. Das SG holte ein Gutachten des Facharztes für Chirurgie Dr. ... vom 2. September 1966 ein. Hiernach hatte sich gegenüber den Feststellungen im Gutachten vom 3. November 1962 die Oberschenkelmuskulatur rechts meßbar gekräftigt und war die Bewegungseinschränkung im rechten unteren Sprunggelenk so geringgradig geworden, daß sie als bedeutungslos zu werten sei. Die Beschwielung der rechten Fußsohle habe sich weiter gekräftigt und sei jetzt stärker als die linke ausgebildet. Die unfallbedingte MdE sei nur noch auf 10 v.H. zu schätzen. Daraufhin hat das SG mit Urteil vom 25. Januar 1967 die Klage abgewiesen. Die vom Kläger dagegen eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 14. Dezember 1967 zurückgewiesen. Nach den Feststellungen des LSG hat sich der unfallbedingte Gesundheitszustand des Klägers seit der Gewährung der Dauerrente im Dezember 1962 wesentlich gebessert, dennoch sei er wegen der Unfallfolgen nicht mehr in der Lage, seine frühere Hauertätigkeit zu verrichten. Das LSG ist der Ansicht, daß § 581 Abs. 2 RVO bei einem Hauer, der diese Tätigkeit wegen Unfallfolgen nicht mehr verrichten könne, unter Umständen zur Annahme einer höheren als der normalen MdE führen könne. Dennoch sei beim Kläger die Anerkennung einer MdE um 20 v.H. nicht möglich. Dieser könne noch als Anschläger, Aufseher von Bergebrech- und Versetzanlagen, Förderaufseher, Grubenlokführer, Sprengstoffausgeber und Wettermann unter Tage tätig sein. Innerhalb dieser Tätigkeiten könne er die für den Hauerberuf erforderlichen Kenntnisse und Erfahrungen nutzen. Die Anerkennung einer MdE um 20 v.H. sei nicht möglich, weil der vom Kläger jetzt zu erzielende Verdienst nicht um 20 v.H. geringer als der Verdienst eines Hauers sei. Bei Prüfung dieser Frage sei weder vom Effektivlohn einer bestimmten Schachtanlage noch vom Effektivlohn des Tarifgebiets auszugehen, sondern vom tariflichen Hauerdurchschnittslohn (Gedingerichtsatz). Jeder Effektivlohn enthalte Elemente, die durch die Besonderheiten der einzelnen Arbeitsplätze beeinflußt würden, während die Schadensbemessung in der Unfallversicherung aber gerade abstrakt sein solle, so daß die negativen und positiven Besonderheiten einzelner Arbeitsplätze außer Betracht bleiben müßten. Auch unterliege der Effektivlohn kurzfristigen und schwer kontrollierbaren Schwankungen und sei auch deshalb als Grundlage ungeeignet, weil ihm die praktisch kaum erfaßbaren Effektivlöhne der übrigen Tätigkeiten gegenübergestellt werden müßten, zu deren Verrichtung der Versicherte noch fähig sei. Die Differenz zwischen dem Gedingerichtsatz und den Tätigkeiten der Lohngruppe I b unter Tage, zu deren Verrichtung der Kläger noch in der Lage sei, habe aber in der streitigen Zeit weniger als 17 v.H. betragen. Daher könne auch unter Berücksichtigung des § 581 Abs. 2 RVO nicht angenommen werden, daß die MdE 20 v.H. erreiche, so daß ein Anspruch auf Unfallrente nicht bestehe. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.
Mit der Revision macht der Kläger geltend, es sei nicht richtig, daß bei der Einkommenseinbuße vom Gedingerichtsatz ausgegangen werde. Es müsse vom effektiven Gedingelohn eines Hauers ausgegangen werden, der regelmäßig wesentlich über dem Gedingerichtsatz liege.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. Dezember 1967 und des Urteils des Sozialgerichts Münster vom 25. Januar 1967 sowie des Bescheides der Beklagten vom 18. April 1966 zu verurteilen, dem Kläger Rente in Höhe von 20 v.H. über den 31. Mai 1966 hinaus zu gewähren,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beklagte ist der Ansicht, durch den unfallbedingten Zwang zur Aufgabe der Hauertätigkeit würden für den Kläger keine Nachteile im Sinne des § 581 Abs. 2 RVO begründet. Hierfür wäre erforderlich, daß der Verletzte bestimmte besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen infolge des Unfalls nicht mehr im gleichen Maße wie früher auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens wirtschaftlich verwerten könne. Weder die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts noch die Behauptungen des Klägers böten aber Anhaltspunkte für die Annahme, daß ein besonderer Umstand vorgelegen habe, der von den Verhältnissen abweiche, wie sie auch sonst bei Lehrberufen üblicherweise gegeben seien. Der Umstand allein, daß der Kläger als Hauer im Gedinge gearbeitet und aus diesem Grunde einen höheren Lohn erzielt habe, könne nicht zu einer Erhöhung der festgestellten MdE führen.
II
Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen war.
Die Höhe der Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung richtet sich nach der durch den Arbeitsunfall bedingten MdE (§ 581 Abs. 1 RVO), die nach den Grundsätzen der abstrakten Schadensbemessung festgestellt wird. Bei der Bemessung der MdE sind jedoch nach § 581 Abs. 2 RVO zusätzlich Nachteile zu berücksichtigen, die der Verletzte dadurch erleidet, daß er bestimmte, von ihm erworbene besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen infolge des Unfalls nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfange nützen kann, soweit sie nicht durch sonstige Fähigkeiten, deren Nutzung ihm zugemutet werden kann, ausgeglichen werden. Diese Vorschrift soll sicherstellen, daß bei der Feststellung des Grades der MdE die besonderen Verhältnisse des Verletzten berücksichtigt werden, soweit sie für das Erwerbsleben Bedeutung haben können (vgl. BT-Drucks. IV/120 zu § 581 S. 58). Wenn auch bei der Festsetzung der MdE die in der gesetzlichen Unfallversicherung anzuwendenden Grundsätze der abstrakten Schadensbemessung und der Verweisung des Unfallverletzten auf das Gesamtgebiet des Erwerbslebens maßgebend sind (vgl. BSG 23, 253, 254), so ermöglicht § 581 Abs. 2 RVO doch die Vermeidung unbilliger Härten durch zusätzliche Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse eines Verletzten. Daß ein Versicherter infolge eines Arbeitsunfalls den erlernten Beruf nicht mehr ausüben kann, hat allerdings nicht zwangsläufig eine über die Grundsätze der abstrakten Schadensbemessung hinausgehende Höherbewertung der MdE zur Folge. Als wesentliche Merkmale für die Beurteilung der Frage, ob eine höhere Bewertung der MdE nach § 581 Abs. 2 RVO gerechtfertigt ist, hat das BSG insbesondere das Alter des Verletzten, die Dauer der Ausbildung, sowie vor allem auch die Dauer der Ausübung der speziellen beruflichen Tätigkeit und auch den Umstand bezeichnet, ob die bisher verrichtete Beschäftigung eine günstige Stellung im Erwerbsleben gewährleistete (vgl. BSG in SozR Nr. 10 zu § 581 RVO). Bei der Beurteilung der besonderen Verhältnisse des Klägers ist zu berücksichtigen, daß der Kläger Hauer war. Der Hauer ist der qualifizierte Facharbeiter des Bergmannsberufs mit besonderen Kenntnissen und Erfahrungen und mit einer wirtschaftlich hervorgehobenen Stellung, weil für seine Tätigkeit die Gedingeentlohnung charakteristisch ist. Für einen Hauer ergeben sich besondere Härten, wenn er seine Tätigkeit nicht mehr verrichten und damit seine erworbenen besonderen Kenntnisse und Erfahrungen nicht mehr nutzen kann, mithin dadurch einen erheblichen Verdienstausfall hat, daß er nicht mehr im Gedinge tätig sein kann.
Allerdings kann die bei dem Kläger nach den allgemeinen Bemessungsgrundsätzen festgestellte MdE um 10 v.H. im Rahmen des § 581 Abs. 2 RVO nur dann auf einen rentenberechtigenden Grad von mindestens 20 v.H. erhöht werden, wenn die Lohndifferenz zwischen der Hauertätigkeit und den dem Kläger trotz der Schädigung noch möglichen Tätigkeiten mindestens eine Höhe erreicht, die der Höhe einer Rente des Klägers nach einer MdE um 20 v.H. entspricht. Hierbei kann nicht - wie das LSG meint - aus Gründen der Praktikabilität von der Differenz zwischen dem Gedingerichtsatz und dem Tariflohn der Tätigkeiten der Lohngruppe Ib unter Tage, die der Kläger in der streitigen Zeit verrichtet hat, ausgegangen werden. Eine solche Handhabung entspräche nicht dem Sinn des § 581 Abs. 2 RVO, die individuellen Verhältnisse des einzelnen Verletzten zu berücksichtigen. Diese Handhabung ist zwar geboten, wenn - wie im Fall des § 45 Abs. 2 Reichsknappschaftsgesetz - die wesentliche wirtschaftliche Gleichwertigkeit bestimmter Tätigkeiten zu prüfen ist, sie ist aber nicht geeignet, in Fällen der vorliegenden Art die vom Gesetzgeber erstrebte Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse eines Unfallverletzten sicherzustellen. Hier müssen grundsätzlich die Effektivlöhne, d.h. im vorliegenden Falle der effektive Gedingelohn eines Hauers, der regelmäßig wesentlich über dem Gedingerichtsatz liegt, dem effektiven Lohn gegenübergestellt werden, den der Kläger jetzt noch verdienen kann. Aus Gründen der Praktikabilität wird allerdings in der Regel auf die effektiven Durchschnittslöhne des Tarifgebiets, hilfsweise der betreffenden Zeche zurückgegriffen werden können.
Da das Revisionsgericht die hiernach für die Entscheidung des Rechtsstreit noch erforderlichen tatsächlichen Feststellungen selbst nicht treffen kann, mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden hat.
Fundstellen