Leitsatz (redaktionell)
Zur Frage der Berücksichtigung der besonderen beruflichen Betroffenheit eines Gedingehauers bei Bemessung der unfallbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit.
Normenkette
RVO § 581 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 27. November 1963 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I.
Der Kläger erlitt am 19. Januar 1960 als Kohlenhauer einen Grubenunfall, der zum Teilverlust des linken Daumens führte. Die Beklagte gewährte ihm eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v. H. Mit Bescheid vom 24. November 1961 hat sie ihm die Rente zu Ende Dezember 1961 mit der Begründung entzogen, die unfallbedingte MdE betrage nach ärztlicher Schätzung nur noch 10 v. H. Das Sozialgericht (SG) hat die hiergegen erhobene Klage abgewiesen, nachdem der von ihm beauftragte Sachverständige die Bewertung der MdE sowohl für den früheren wie für den jetzigen Zustand als angemessen bezeichnet hatte. Das Landessozialgericht (LSG) hat unter Zulassung der Revision die Berufung des Klägers zurückgewiesen und dazu folgendes ausgeführt:
Durch den Arbeitsunfall sei die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht um ein Fünftel gemindert. Der Teilverlust des linken Daumens könne nach übereinstimmender Beurteilung der ärztlichen Sachverständigen Dr. T und Dr. S nur mit einer MdE von höchstens 10 v. H. bewertet werden. Allerdings sei der Kläger dadurch besonders betroffen, daß er seine beruflichen Kenntnisse und Erfahrungen als Gedingehauer vor Ort wegen der Unfallfolgen wohl nicht mehr nutzen könne. Der Kläger könnte aber trotz der Unfallfolgen noch die Tätigkeit eines Schachtanschlägers verrichten, wenn er nicht inzwischen aus anderen Gründen nach Übertage verlegt worden wäre. Der relative Lohnabfall vom Kohlenhauer zum Schachtanschläger sei jedoch geringer als 20 v. H. so daß also auch unter Berücksichtigung der beruflichen Betroffenheit eine MdE in dieser Höhe nicht angenommen werden könne.
Mit der Revision rügt der Kläger unrichtige Anwendung des § 581 Abs. 2 der Reichsversicherungsverordnung (RVO). Bei Prüfung der besonderen beruflichen Betroffenheit eines verletzten Hauers dürfe man nicht vom tariflichen Gedingerichtsatz ausgehen, sondern müsse seinen tatsächlichen Gedingelohn zugrunde legen.
Hiernach betrage der Lohnabfall mit Abstand mehr als 20 v. H.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung sowie des Urteils des Sozialgerichts vom 24. September 1963 und der entgegenstehenden Bescheide der Beklagten, diese zu verurteilen, ihm Unfallrente für eine Erwerbsminderung von mindestens 20 v. H. zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für richtig. Die Rüge des Klägers, das LSG habe zu Unrecht festgestellt, daß die Differenz zwischen dem Entgelt des Kohlenhauers und dem des Schachtanschlägers weniger als 20 v. H. ausmache, sei nicht hinreichend substantiiert. Die Feststellung des LSG sei aber auch richtig, da es für die Bemessung der MdE allenfalls auf den tariflichen Richtlohn, nicht aber auf den tatsächlich erzielten Lohn des Verletzten ankomme. Ein Fall besonderer beruflicher Betroffenheit liege indessen überhaupt nicht vor. Durch die Regelung in § 581 Abs. 2 RVO nF sollten nicht manuelle, physische Eigenschaften, sondern Fähigkeiten geistiger oder geistig-schöpferischer Art geschützt werden. Es sei aber nicht anzunehmen, daß der Kläger über "besondere" berufliche Kenntnisse und Erfahrungen verfügt habe, die über das bei Schwerarbeitern in der Regel zu vermutende Maß an beruflichen Kenntnissen und Erfahrungen hinausgingen. Außerdem habe sich das LSG offenbar seine Meinung über die Untauglichkeit des Klägers zur Hauertätigkeit ohne hinreichende Untermauerung durch Sachverständige gebildet, obgleich seine Sachkunde hierzu nicht ausreiche.
II.
Die Revision ist begründet; die Annahme des LSG, die Erwerbsfähigkeit des Klägers sei auch unter Berücksichtigung der Nachteile, die er dadurch erleide, daß er wegen der Unfallfolgen nicht mehr als Hauer arbeiten könne, nur um weniger als ein Fünftel gemindert, ist nicht bedenkenfrei.
Zutreffend hat das LSG erkannt, daß bei Bemessung der MdE Ausbildung und bisheriger Beruf des Verletzten angemessen zu berücksichtigen sind, wenn die Nichtberücksichtigung dieser Umstände zu einer besonders unbilligen Härte führen würde (BSG 1, 174; RVA in EuM Bd. 21, 97). Dieser in der Rechtsprechung für das Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung bisher bereits anerkannte Grundsatz ist inzwischen auch in § 581 Abs. 2 RVO nF gesetzlich niedergelegt worden. Voraussetzung für die Berücksichtigung der Nachteile ist hiernach, daß der Verletzte "von ihm erworbene besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen" infolge des Unfalls nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfange nutzen kann. Daß die Tätigkeit des Hauers - des qualifizierten Facharbeiters im Bergbau - im Vergleich zu anderen Arbeiten unter und über Tage besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen erfordert, bedarf keiner weiteren Begründung. Die Berücksichtigung der besonderen beruflichen Betroffenheit ist auch nicht etwa - wie die Beklagte wohl meint - auf Versicherte mit künstlerische oder geistig-schöpferischer Tätigkeit oder auf solche Versicherte beschränkt, die innerhalb ihres erlernten Berufes noch eine besonders qualifizierte Stellung einnehmen, wenn auch in solchen Fällen (vgl. BSG 4, 294 für einen Musiker) die Nichtberücksichtigung der beruflichen Betroffenheit besonders auffällig in Erscheinung treten kann.
Im vorliegenden Fall bestehen allerdings erhebliche Bedenken gegen die Annahme, daß der Teilverlust des linken Daumens, eine Schädigung, die nach Ansicht der ärztlichen Sachverständigen für das Gesamtgebiet des Erwerbslebens nur eine MdE von 10 v. H. verursacht, sich gerade auf die Tätigkeit des Hauers so stark behindernd auswirken soll, daß sie die Ausübung dieses Berufes unmöglich macht. Denn hinsichtlich der rein manuellen Verrichtungen unterscheidet sich die Tätigkeit des Hauers nicht erheblich von anderer körperlicher Schwerarbeit. Es kommt hinzu, daß - vor allem infolge der technischen Entwicklung des Bergbaues - für einen Hauer Einsatzmöglichkeiten verschiedener Art bestehen und der Hauertätigkeit insoweit auch die Tätigkeiten zuzurechnen sind, die nach der Lohnordnung für den Saarbergbau unter anderer Bezeichnung im Gedinge oder nach dem Durchschnittshauerlohn der Grube vergütet werden. Der Senat entnimmt aber dem angefochtenen Urteil, daß das LSG auch gar nicht tatsächlich festgestellt hat, der Kläger könne infolge seiner Verletzung nicht mehr in dieser Weise tätig sein, sondern daß es nur eine solche Vermutung zu seinen Gunsten als richtig unterstellt hat. Es konnte sich hierzu auch für berechtigt halten, weil es trotz dieser Unterstellung im Ergebnis die Annahme einer besonderen beruflichen Betroffenheit abgelehnt hat. Es ist nämlich davon ausgegangen, daß die relative Lohndifferenz zwischen der Hauertätigkeit und der dem Kläger trotz der Schädigung noch möglichen Schichtlohntätigkeit eines Schachtanschlägers weniger als 20 v. H. ausmache. Das LSG hat dieses Ergebnis nicht rechnerisch begründet. Es beruht aber offenbar auf einem Vergleich des damaligen Schichtlohns der Lohngruppe II unter Tage (17,17 DM) mit dem Gedingerichtsatz (21,- DM). Für die Bewertung der Nachteile, die dem Kläger aus dem Unfall erwachsen sind, ist aber - anders als bei Prüfung der wirtschaftlichen Gleichwertigkeit im Sinne des § 45 Abs. 2 des Reichsknappschaftsgesetzes - nicht vom Gedingerichtsatz, sondern von dem effektiven Gedingelohn eines Hauers auszugehen, der regelmäßig wesentlich über dem Gedingerichtsatz liegt. Hierbei bietet sich der Durchschnittshauerlohn des Tarifgebietes, hilfsweise der der Grube als geeigneter Vergleichsmaßstab an. Ausnahmsweise wäre der individuell erzielte Gedingelohn dann zu berücksichtigen, wenn er etwa wegen besonderer Kenntnisse und Fähigkeiten des Versicherten erheblich über oder etwa wegen bereits abgesunkener Leistungsfähigkeit erheblich unter diesem Durchschnitt liegen würde.
Ergibt sich hiernach - wenn man weiterhin unterstellt, daß der Kläger infolge des Unfalls unter Tage nur noch zu Schichtlohnarbeiten der Lohngruppe II tauglich sei - ein wirtschaftlicher Nachteil, dessen Berücksichtigung eine MdE von wenigstens 20 v. H. angemessen erscheinen läßt, so kann an der Unterstellung nicht festgehalten werden. Es bedarf dann der tatsächlichen Feststellung, ob der Kläger wirklich infolge des unfallbedingten Körperschadens untauglich geworden ist, als Kohlenhauer oder - im Rahmen seiner Kenntnisse und Fähigkeiten - als sonstiger Bergmann mit Gedinge- oder effektivem Durchschnittshauerlohn zu arbeiten. Trifft das zu, so kommt es weiter für die Bemessung der MdE darauf an, welche Erwerbsmöglichkeiten ihm mit Rücksicht auf die Unfallfolgen im Bergbau oder auch auf einem anderen Gebiet des Erwerbslebens verblieben sind.
Da das Revisionsgericht die hiernach noch erforderlichen tatsächlichen Feststellungen selbst nicht treffen kann, muß das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden hat.
Fundstellen