Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewaltopfer. wesentliche (Mit-)Verursachung der Schädigung. Rauschtat. Leistungsversagung. Unbilligkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Hat das Opfer den nur fahrlässig handelnden Gewalttäter (§ 1 Abs 1 S 2 OEG) im Zustand alkoholbedingter Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) provoziert, so steht das der Annahme einer wesentlichen Mitverursachung iS des § 2 Abs 1 OEG jedenfalls dann nicht entgegen, wenn die Voraussetzungen des § 323a StGB (schuldhafte Selbstberauschung mit nachfolgenden Straftaten) vorlagen.
2. Ob eine schuldlose wesentliche Mitverursachung iS des § 2 Abs 1 OEG denkbar ist, bleibt offen.
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
OEG § 1 Abs. 1 S. 2, § 2 Abs. 1 S. 1 Alt. 1; StGB §§ 323a, 20
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 11. Mai 1995 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob das beklagte Land (Beklagter) den Klägern Hinterbliebenenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu gewähren hat.
Die Klägerin zu 1 ist Witwe, die Kläger zu 2 – 5 sind Waisen des am 6. Juni 1987 verstorbenen U. K. … (K.). In der Nacht vom 5. auf den 6. Juni 1987 war aus der in einem Mehrfamilienhaus gelegenen Wohnung des K. so laute Radiomusik gedrungen, daß Hausgenossen wiederholt die Polizei verständigten. Beim zweiten Einsatz einer Polizeistreife gegen 2.30 Uhr weigerte sich der stark alkoholisierte K. (Blutalkoholkonzentration ≪BAK≫ 2,32 Promille), die nächtliche Ruhestörung einzustellen, beschimpfte die beiden Polizeibeamten und wurde einem von ihnen gegenüber tätlich. Seiner vorläufigen Festnahme widersetzte er sich. Als eine zweite Polizeistreife, der ua der Polizeibeamte R. … (R.) angehörte, zur Verstärkung eingetroffen war, leistete K. weiterhin erheblichen Widerstand. Bei seiner folgenden zwangsweisen Festnahme, gegen die sich auch die Klägerin zu 1 zur Wehr setzte, kamen K. und R. vor dem Haus zu Fall. Drei, später zwei der Polizisten hielten K. am Boden nieder. Dabei fixierte R. K.'s rechten Arm, wobei er seine Knie zu beiden Seiten von K.'s rechter Schulter aufgesetzt hatte. Im weiteren Verlauf verlagerte R. das linke Knie von K.'s rechter Wange auf K.'s Hals. In dieser Stellung verblieb R. auch noch, als K. seinen Widerstand aufgegeben hatte und nur noch nach Luft rang, was R. jedoch als weiteren Widerstand mißdeutete. Als R. den K. nach Eintreffen einer dritten Polizeistreife schließlich freigab, war dieser durch Sauerstoffmangel bereits so stark geschädigt, daß die an ihm noch beobachtete „terminale”) Atmung bereits ein Erstickungssymptom darstellte. Die bald darauf eintreffende Notärztin konnte nur noch K.'s Tod feststellen. R. wurde wegen dieses Vorfalls vom Landgericht Rottweil (LG) zunächst mit Urteil vom 25. November 1988 wegen Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit Körperverletzung im Amt zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu je 100,00 DM, sodann – nach Zurückverweisung der Sache durch den Bundesgerichtshof (BGH) – mit Urteil vom 11. April 1990 wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 80,00 DM verurteilt. In den Gründen dieses Urteils heißt es ua, R. habe zuletzt ein Übermaß an Gewalt angewendet, das durch polizeirechtliche Vorschriften nicht mehr gerechtfertigt gewesen sei. Er habe die Gewaltanwendung aber noch für erforderlich gehalten und sich damit in einem Irrtum über die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes befunden. Damit könne ihm eine vorsätzliche Körperverletzung nicht zur Last gelegt werden. Die Revision der Klägerin zu 1 gegen dieses Urteil mit dem Ziel einer Verurteilung des R. entsprechend dem ersten aufgehobenen Urteil des LG vom 25. November 1988 wurde vom BGH mit Urteil vom 27. November 1990 verworfen.
Im Mai 1990 beantragten die Kläger Hinterbliebenenversorgung nach dem OEG. Mit Bescheid des Versorgungsamts Rottweil vom 22. März 1991 lehnte der Beklagte den Antrag ab. K. und die Klägerin zu 1 seien für den Polizeieinsatz und dessen Zuspitzung mitverantwortlich gewesen. Die Leistung sei daher „wegen Unbilligkeit” iS des § 2 Abs 1 OEG zu versagen. Der Widerspruch der Kläger vom 3. Mai 1991 blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamts Baden-Württemberg vom 2. Dezember 1991).
Das gegen diese Bescheide von den Klägern zu 1 – 5 angerufene Sozialgericht Reutlingen (SG) verurteilte mit Urteil vom 25. November 1993 den Beklagten unter Abänderung seiner Bescheide dazu, den Klägern zu 2 – 5 Hinterbliebenenversorgung zu gewähren, und wies die Klage im übrigen ab.
Auf die Berufung des Beklagten wies das LSG die Klage auch insoweit ab, als den Klägern zu 2 – 5 Leistungen zugesprochen worden waren. Die Berufung der Klägerin zu 1 wies das LSG zurück. In den Entscheidungsgründen führte es aus, K. habe seinen Tod entgegen der Meinung des SG wesentlich mitverursacht, so daß schon deswegen sämtlichen Klägern nach § 2 Abs 1 1. Alternative OEG Entschädigungsleistungen zu versagen gewesen seien. Es komme nur darauf an, ob das Verhalten des Opfers objektiv eine wesentliche Bedingung für den Eintritt eines Schadens dargestellt habe. Dies sei hier der Fall. Auf das Verschulden des K. sei für die Frage, ob er die Schädigung mitverursacht habe, nicht abzustellen. Deshalb sei es auch rechtlich unerheblich, ob K. infolge des Alkoholgenusses in schuldunfähigem Zustand gehandelt habe. Im übrigen habe sein mitursächliches Verhalten zumindest auf einer Rauschtat iS des § 323a Strafgesetzbuch (StGB) iVm §§ 113 und 223 StGB beruht. Sein Verhalten würde dann als sog Rauschtat eine wesentliche Ursache bleiben.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügen die Kläger eine Verletzung des § 2 Abs 1 OEG. Das Verhalten des K. sei keine wesentliche Bedingung für die an ihm begangene Gewalttat gewesen. K. habe zwar den Einsatz der Polizei in gewisser Weise herausgefordert, doch schließe eine Provokation nicht zwingend Leistungen für Schäden aus, die nach einem ungewöhnlichen und ganz unvorhersehbaren Geschehensablauf, insbesondere in unvorhersehbarer Höhe und Schwere eingetreten seien. Ein solcher Fall liege hier vor. Die nächtliche Ruhestörung habe völlig außer Verhältnis zu dem eingetretenen Erfolg – Tod des K. – gestanden. Von dem Zeitpunkt ab, in welchem der Polizeieinsatz des R. rechtswidrig geworden sei, habe sich K. rechtmäßig widersetzen dürfen. Dieser Zeitpunkt „Exzeßzeitpunkt”) bilde eine „Zäsur”, von der ab die von K. gesetzte Bedingung im Hinblick auf den Erfolg völlig hinter die Tötungshandlung des R. zurückgetreten sei. Außerdem dürfe nicht außer acht bleiben, daß K. – bei einer Blutalkoholkonzentration von 2,32 Promille – möglicherweise schuldunfähig gewesen sei. Die Mitwirkungshandlung des Opfers müsse aber stets schuldhaft sein.
Die Klägerin zu 1) beantragt sinngemäß,
die Urteile der Vorinstanzen abzuändern sowie den Bescheid des Beklagten vom 22. März 1991 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 2. Dezember 1991 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr Witwenversorgung zu gewähren.
Die Kläger zu 2 – 5 beantragen sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts abzuändern und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 25. November 1993 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision der Kläger zurückzuweisen.
Er hält das landessozialgerichtliche Urteil für richtig. Allerdings habe das LSG zu Unrecht einen rechtswidrigen tätlichen Angriff des R. gegen K. angenommen. R.'s. Verhalten sei durchgehend durch einen Rechtfertigungsgrund (zulässige Festnahme des K.) gerechtfertigt gewesen, denn hierfür sei das pflichtgemäße Ermessen der tätig gewordenen Polizeibeamten maßgebend.
Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision der Kläger ist nicht begründet. Dem Urteil des LSG ist im Ergebnis und im wesentlichen auch in der Begründung zu folgen. Der Beklagte hat den Klägern als Hinterbliebenen des K. zu Recht Leistungen nach § 1 Abs 8 Satz 1 iVm Abs 1 OEG idF des Gesetzes vom 21. Juli 1993 (BGBl I S 1262) versagt.
Gegen den verstorbenen K. wurde zwar durch den Polizeibeamten R. ein tätlicher rechtswidriger Angriff iS des § 1 Abs 1 OEG verübt, so daß insoweit die Voraussetzungen eines Entschädigungsanspruches für die Kläger erfüllt sind. Da K. aber seine Schädigung wesentlich mitverursacht hat, sind Leistungsansprüche nach dem OEG – auch solche an Hinterbliebene (BSGE 49, 104, 106 ff = SozR 3800 § 2 Nr 1; BSGE 57, 168, 169 = SozR 3800 § 2 Nr 5; BSGE 79, 87, 88; Kunz/Zellner, OEG, 3. Aufl RdNr 2 zu § 2 mwN) – zu Recht versagt worden (§ 2 Abs 1 Satz 1 1. Alternative OEG). Ob die Versagung im Fall der Klägerin zu 1 außerdem auch nach § 2 Abs 1 Satz 1 2. Alternative OEG (Unbilligkeit) gerechtfertigt wäre, kann offenbleiben.
Entgegen der Meinung des Beklagten hat R. – wie die Vorinstanzen zu Recht angenommen haben – einen rechtswidrigen tätlichen Angriff auf K. unternommen. Dieser muß nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG vorsätzlich erfolgt sein. Daran fehlt es hier. Denn R. hat, wie aus dem rechtskräftigen Urteil des LG Rottweil vom 11. April 1990 hervorgeht, bei der tödlichen Verletzung des K. – infolge irriger Annahme von Umständen, bei deren Vorliegen ein Rechtfertigungsgrund gegeben gewesen wäre (Erlaubnistatbestandsirrtum) – nur fahrlässig gehandelt. Ein derartiger Erlaubnistatbestandsirrtum ist aber in § 1 Abs 1 Satz 2 OEG ausdrücklich in den Schutzbereich des Gesetzes einbezogen worden. Nicht gefolgt werden kann dem Beklagten insofern, als dieser durchgehend ein durch einen Rechtfertigungsgrund – Befugnis zur Anwendung polizeilichen Zwanges – gerechtfertigtes Vorgehen des R. annimmt. Diese Frage hat bereits das LG Rottweil untersucht und festgestellt, daß es ab einem bestimmten Zeitpunkt nur nach der – irrigen – Vorstellung des R., aber nicht mehr objektiv erforderlich war, den am Boden liegenden K. dadurch zu fixieren, daß R. sein linkes Knie mit einem Teil seines Körpergewichts auf K.'s Hals ruhen ließ. Diese Maßnahme entsprach zuletzt nicht mehr den einschlägigen polizeirechtlichen Vorschriften des Baden-Württembergischen Polizeigesetzes (in der damals gültigen Fassung der Neubekanntmachung vom 16. Januar 1968 – GBl S 61, berichtigt S 322 – ≪PolG≫). Seit K. seinen Widerstand gegen die Vollzugsbeamten eingestellt und nur noch um Atemluft gerungen hatte, war die objektive Erforderlichkeit der genannten Einwirkung für seine Festnahme weggefallen und lag ein rechtswidriger Angriff des R. vor. Allerdings handelte R. nicht vorsätzlich, weil er zu Unrecht weiterhin einen Rechtfertigungsgrund annahm. Insoweit hat sich das LSG zu Recht dem LG Rottweil angeschlossen.
Es ist aber ebensowenig zu beanstanden, daß das LSG den Versagungstatbestand des § 2 Abs 1 Satz 1 1. Alternative OEG bejaht hat. Nach dieser Vorschrift, die seit dem Inkrafttreten des OEG am 16. Mai 1976 (vgl BGBl I S 1181 ff) unverändert geblieben ist, sind Leistungen zu versagen, wenn der Beschädigte die Schädigung entweder selbst verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere aus in dem eigenen Verhalten des Anspruchsstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Da bereits die Voraussetzungen der 1. Alternative dieser Bestimmung vorliegen, erübrigt sich die Prüfung der 2. Alternative (vgl zum Verhältnis der beiden Versagungsgründe in § 2 Abs 1 OEG die Entscheidungen des Senats BSGE 66, 115, 117 = SozR 3800 § 2 Nr 7 auf S 40 ff und BSGE 77, 18, 20 = SozR 3-3800 Nr 3 S 8). Bei der Mitverursachung iS der 1. Alternative hat der Gesetzgeber insbesondere an Fälle gedacht, in denen der Geschädigte Opfer einer Schlägerei geworden ist, in die er nicht ohne eigenes Verschulden hineingezogen worden war (vgl Begründung zu § 3 des Regierungsentwurfs vom 27. August 1974 BT-Drucks 7/2506 S 15). Ein vergleichbarer Fall ist hier gegeben.
Der Tatbeitrag des Opfers begründet nur dann eine Mitverursachung iS des § 2 Abs 1 Satz 1 OEG, wenn er wesentliche Ursache für die Schädigung iS der versorgungsrechtlichen Ursachenlehre gewesen ist (vgl Regierungsentwurf, aaO, S 11 und 15 ff; außerdem BSGE 66, 115, 118 = SozR 3800 § 2 Nr 7 S 41; zur entschädigungsrechtlichen Ursachentheorie vgl Fehl in soziales Entschädigungsrecht, 7. Aufl 1992, RdNr 67 zu § 1 BVG mwN). Das Verhalten des Opfers muß nach Bedeutung und Tragweite für den Eintritt der Schädigung gegenüber den sonstigen Umständen annähernd gleichwertig sein. Daß das LSG das Verhalten des K. in diesem Sinn als mitursächlich beurteilt hat, begegnet keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Auszugehen ist davon, daß die Entschädigung nach dem OEG nicht dem Ersatz des dem Opfer durch ein Fehlverhalten staatlicher Organe entstandenen Schadens, sondern seiner sozialrechtlichen Entschädigung für die Folgen einer – ohne eigene wesentliche Mitverursachung (§ 1 Abs 1 und § 2 Abs 1 OEG) – durch einen rechtswidrig handelnden Dritten erlittenen Gewalttat dient. Ausgehend von dem Grundzweck des OEG ist das Verhalten des K. für die an ihm begangene Gewalttat und damit für seine Schädigung wesentlich mitursächlich gewesen.
Insbesondere was die Vergleichbarkeit der von K. und von R. geleisteten Ursachenbeiträge nach der Schwere der Rechtsverstöße (vgl BSGE 79, 87, 90 ff), dh nach dem Rang der dabei verletzten Rechtsgüter und nach der Höhe der Strafdrohung für die dabei verwirklichten Straftatbestände angeht, ist die vom LSG angenommene Wesentlichkeit des von K. geleisteten Ursachenbeitrages zu bejahen. Nach den insoweit unangegriffenen Feststellungen des LSG hat K. „zumindest”, dh in der für die Kläger günstigsten denkbaren Fallgestaltung, die strafrechtlichen Tatbestände der Widerstandsleistung (§ 113 StGB) und der Körperverletzung (§ 223 StGB) in schuldunfähigem Zustand (§ 20 StGB) als sog Rauschtaten (§ 323a StGB) verwirklicht. Nach der letztgenannten Vorschrift wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer sich vorsätzlich oder fahrlässig durch alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel in einen Rausch versetzt und in diesem Zustand eine rechtswidrige Tat begeht, für die er deswegen nicht bestraft werden kann, weil er infolge des Rausches schuldunfähig war (Rauschtat). Für die Verwirklichung dieses Tatbestandes genügt die vorsätzliche oder fahrlässige Selbstberauschung (vgl Lackner, Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, 22. Aufl 1997, RdNr 13 zu § 323a). Davon, daß der Alkoholgenuß, sollte er den Kläger bis zur Schuldunfähigkeit enthemmt haben, seinerseits schuldhaft war, ist das LSG erkennbar ausgegangen. Der hier zu beurteilende Fall liegt deshalb anders als der vom Senat 1996 entschiedene Fall (BSGE 79, 87). Dort waren die Ursachenbeiträge des Opfers strafrechtlich nur als Privatklagedelikte zu werten, die höchstens mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bedroht waren; diesen provozierenden Taten hatte auf der Täterseite ein vorsätzlicher Totschlag an zwei Opfern gegenübergestanden, wofür – selbst in einem minderschweren Fall – eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis fünf Jahren (§§ 212, 213 StGB) verhängt werden kann. Hier dagegen stehen sich – selbst in dem für die Kläger günstigsten Fall – mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bedrohte Rauschtaten des Opfers (§ 323a Abs 2 StGB iVm § 113 Abs 1 und mit § 223 StGB) einerseits und eine fahrlässige Tötung mit einer Strafdrohung von ebenfalls höchstens fünf Jahren Freiheitsstrafe (§ 222 StGB) andererseits gegenüber. Wegen der Unvorhersehbarkeit der Folgen von Körperverletzungen, die die Beteiligten eines Handgemenges einander zufügen (vgl auch § 226 StGB), begründet auch die höhere Stufe des durch R. fahrlässig verletzten Rechtsgutes (Leben) gegenüber den von K. verletzten Rechtsgütern (körperliche Unversehrtheit und ungehinderte rechtmäßige Betätigung des Staatswillens – vgl dazu Lackner aaO Anm 1 zu § 113 StGB) keine erheblich mindere Gewichtung des von K. geleisteten Ursachenbeitrages.
Der Einwand der Revision, das Verhalten des K. sei nicht von der Rechtsordnung mißbilligt gewesen, greift nicht durch. Allerdings hat der Senat ausgesprochen, daß die Mitwirkungshandlung des Opfers, soll sie als wesentlich gelten, von der Rechtsordnung mißbilligt sein muß (vgl dazu insbesondere BSGE 77, 18, 20 = SozR 3-3800 § 2 Nr 3 mwN). Der Revision ist auch zuzugeben, daß die rechtliche Mißbilligung der Mitwirkungshandlung des Opfers – von Fällen der Selbstgefährdung abgesehen – im allgemeinen voraussetzt, daß die Mitwirkungshandlung rechtswidrig ist. Das vor dem „Exzeßzeitpunkt” liegende Verhalten des K. war indessen rechtswidrig. Es verwirklichte den Tatbestand verschiedener im Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) und im StGB genannter Tatbestände, nämlich: Erregung von unzulässigem Lärm (§ 117 OWiG), Beleidigung (§ 185 StGB), Körperverletzung (§ 223 StGB) und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB). Der von K. geleistete Widerstand war – bis zum „Exzeßzeitpunkt” – auch nicht durch eine Notwehrlage (§ 32 StGB) – gerechtfertigt, denn gegen rechtmäßige Einwirkungen gibt es keine Notwehr (§ 32 Abs 2 StGB). Bis zu dem fraglichen Zeitpunkt handelte R. rechtmäßig, so daß K.'s Widerstand gegen die von R. ausgehende Gewaltanwendung nicht rechtmäßige Notwehr, sondern rechtswidriger Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte war. Die Rechtmäßigkeit von R.'s Handeln ergab sich aus dem PolG. Nach den Bestimmungen dieses Gesetzes durften die Polizeibeamten den unter Alkoholeinfluß stehenden randalierenden K., der erklärtermaßen die erhebliche nächtliche Ruhestörung nicht einstellen wollte, in Gewahrsam nehmen (§ 22 Abs 1 Nr 1 PolG) und seinen Widerstand gegen diese Maßnahme durch Anwendung unmittelbaren polizeilichen Zwanges (§ 32, § 38 PolG) brechen.
Die angewandten Zwangsmittel waren auch nicht deswegen rechtswidrig, weil sie nicht angemessen gewesen wären. Die Angemessenheit der Zwangsmittel richtet sich ua nach dem Verhalten und dem Zustand des Betroffenen (vgl § 38 Satz 2 PolG). Leistet der Betroffene erheblichen Widerstand und steht er unter erheblichem Alkoholeinfluß, wie das LSG es für K. festgestellt hat, ist der Einsatz von Gewalt entsprechend dem Maß des geleisteten Widerstandes angemessen. Es lag in der Natur der Sache, daß die Vollzugsbeamten, darunter R., immer stärkere Gewalt anwenden mußten, je nachhaltiger und hartnäckiger ihnen K. Widerstand entgegensetzte. Die Anwendung des erforderlichen polizeilichen Zwanges kann nicht deswegen für unangemessen gehalten werden, weil der Betroffene besonders energisch und hartnäckig Widerstand leistet. Sonst dürfte die Polizei ihre Pflicht zum Schutz der öffentlichen Ordnung gerade denjenigen Personen gegenüber nicht erfüllen, welche die öffentliche Ordnung am nachhaltigsten und am empfindlichsten stören. Daher müssen die zur Überwindung des rechtswidrigen Widerstandes erforderlichen Zwangsmaßnahmen als angemessen angesehen werden. Solange K. seiner Festnahme Widerstand entgegensetzte, war sein Verhalten mithin rechtswidrig.
Auch der weitere Einwand der Revision, von dem Zeitpunkt ab, als die Anwendung der von R. ergriffenen Zwangsmaßnahme (Knien auf K.'s Hals) objektiv nicht mehr erforderlich war, sei K.'s Widerstand rechtmäßig gewesen, spricht nicht gegen die wesentliche Mitverursachung der Gewalttat durch K. Denn dessen – in dieser Phase etwa noch geleistete – Gegenwehr war nicht wesentliche Bedingung für die – durch den Irrtum des R. über die Notwendigkeit weiterer drastischer Zwangsmittel gekennzeichnete – fahrlässige Gewalttat. Vielmehr lassen die Feststellungen des LSG nur den Schluß zu, daß die Gewalttat und der ihr zugrundeliegende Erlaubnistatbestandsirrtum durch die Dauer und die Heftigkeit der vorausgegangenen rechtswidrigen Widerstandshandlungen des K. geprägt und wesentlich verursacht waren.
Daran ändert es nichts, daß K. seine mitverursachenden Handlungen unter erheblichem Alkoholeinfluß vorgenommen hatte. Das LSG hat es zugunsten des K. als möglich unterstellt, daß diese Handlungen alkoholbedingt in schuldunfähigem Zustand (§ 20 StGB) begangen wurden, dies allerdings für unerheblich gehalten, weil es nur auf die wesentliche (Mit-)Verursachung, nicht aber auf die den Mitverursacher treffende Schuld ankomme.
Insoweit kann der Senat allerdings der Auffassung des LSG nicht beipflichten. Wie der Senat wiederholt – insbesondere in seinem Urteil (BSGE 78, 270, 272 = SozR 3800 § 2 Nr 4 S 11; vgl auch SozR 3800 § 2 Nr 7 S 42) – entschieden hat, sind für die Prüfung, ob die Mitverursachung einer Gewalttat wesentlich ist, auch subjektive Gesichtspunkte heranzuziehen. Das gilt auch für das Ausmaß des Verschuldens von Täter und Opfer. Liegt auf beiden Seiten rechtswidriges Verhalten vor, so ist entscheidend, wer der beiden Tatbeteiligten sich subjektiv rechtstreu und wer sich rechtsfeindlich verhalten wollte. Dabei ist ggf das Verschulden der Tatbeteiligten gegeneinander abzuwägen. So wird die Mitverursachung einer vorsätzlich begangenen Gewalttat durch eine fahrlässige, in der Vorstellung des Opfers gerechtfertigte Handlung in der Regel als nicht wesentlich anzusehen sein (vgl BSGE 78, 270). In dem – vom LSG zwar nicht festgestellten, aber nach den getroffenen Feststellungen möglichen – Fall, daß K. die seiner Festnahme vorausgehenden Straftaten vorsätzlich begangen hat, läge hier das Gegenstück zu dem in dem vorzitierten Urteil entschiedenen Fall vor: die Verursachung einer fahrlässigen Gewalttat durch vorsätzliche Mitverursachungshandlungen des Opfers.
Der Senat hat in seiner bisherigen Rechtsprechung zwar ausgesprochen, daß als mitverursachendes Verhalten des Opfers iS des § 2 Abs 1 OEG nicht nur ein vorsätzliches Tun in Betracht kommt (BSGE 50, 95, 99 = SozR 3800 § 2 Nr 2 S 17). Er hat jedoch bisher nicht die vom LSG als entscheidungserheblich angesehene Frage entschieden, ob in Fällen, in denen ein Verschulden nur auf der Täterseite vorliegt, auf der Opferseite dagegen nicht, die Gewalttat gleichwohl durch das Opfer wesentlich mitverursacht sein kann (ablehnend insoweit Kunz/Zellner aaO RdNrn 5 ff zu § 2). Diese vom LSG, das einen solchen Fall angenommen hat, gestellte und bejahte Frage bedarf hier indessen keiner Entscheidung. Denn das Verhalten des K., das zu der an ihm begangenen Gewalttat geführt hat, war nach den Feststellungen des LSG auch dann von Verschulden gekennzeichnet, wenn er hinsichtlich der von ihm erfüllten Tatbestände der Beleidigung, der Körperverletzung und des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte alkoholbedingt schuldunfähig (§ 20 StGB) gewesen sein sollte. Denn diesen Taten war nach den Feststellungen des LSG eine zumindest fahrlässige Selbstberauschung vorausgegangen. Das darin liegende Verschulden genügte hier, um den subjektiven Ursachenbeitrag des selbst nur fahrlässig handelnden Täters aufzuwiegen. Die durch die Selbstberauschung in Gang gesetzte Ursachenkette ist nämlich durchgehend von dem an ihrem Beginn stehenden Verschulden geprägt. Schon diese Art des Opferverschuldens bildet ein annähernd gleichwertiges Element der subjektiven Mitverursachung gegenüber den Verschulden eines nur fahrlässig handelnden Täters.
Die ansonsten noch denkbaren, vom LSG offengelassenen Möglichkeiten des Verschuldens des K. bei seinem mitverursachenden Verhalten können nur stärker wiegen als die fahrlässige Selbstberauschung. In Betracht kommt (nach der Rechtsprechung der Strafgerichte wegen der noch unter 3 Promille liegenden Blutalkoholkonzentration sogar mit Wahrscheinlichkeit vgl Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl 1997, RdZiffn 16 ff zu § 20; BGHSt 34, 29, 31; BGHSt NJW 1997, 2460; auch Dreher/Tröndle, StGB, 47. Aufl 1995, RdNrn 9a ff zu § 20) verminderte Schuldfähigkeit des K. (vgl § 21 StGB) oder gar voll zurechenbarer Vorsatz (§ 15 StGB). Da das Verschulden des K. bei den übrigen denkbaren Fallgestaltungen erst recht den subjektiven Ursachenbeitrag des R. (Fahrlässigkeit) aufgewogen hätte, bedurfte es insoweit keiner Feststellungen des LSG.
Was die sonstigen Umstände des Falles betrifft, ist das LSG angesichts der Dauer und der Intensität der mitverursachenden Handlungen des K. nachvollziehbar von der wesentlichen Mitverursachung der Gewalttat durch K. ausgegangen.
Ob und inwieweit den Klägern bürgerlich-rechtliche Ansprüche aufgrund einer Amtspflichtverletzung des R. zustehen könnten (vgl § 839 des Bürgerlichen Gesetzbuches ≪BGB≫; Art 34 GG), ist hier nicht zu entscheiden. Ansprüche aus Amtspflichtverletzung durch einen Träger öffentlicher Gewalt nach § 839 BGB iVm Art 34 Grundgesetz bleiben neben Ansprüchen nach dem OEG unberührt. Das gilt auch dann, wenn dem Beamten – wie hier – nur Fahrlässigkeit zur Last fällt (§ 3 Abs 3 OEG). Ein Übergang etwaiger Ansprüche aus Amtshaftung (§ 5 Abs 1 OEG iVm § 81a BVG) auf den Versorgungsträger scheidet hier aus, da etwaige Ansprüche nur übergehen würden, wenn und soweit Ansprüche nach dem OEG bestünden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
NJW 1998, 2996 |
SozR 3-3800 § 2, Nr.7 |
SozSi 1999, 117 |