Entscheidungsstichwort (Thema)
Beweiswürdigung. Sachverständigengutachten. Gegengutachten. Sachkunde des Gerichts. Aufklärung von Widersprüchen
Leitsatz (amtlich)
Kommen zwei Sachverständige zu entgegengesetzten Ergebnissen, so müssen vor einer abschließenden Beweiswürdigung alle weiteren Aufklärungsmöglichkeiten (zB durch Fragen nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt, den medizinischen Lehrmeinungen und wissenschaftlichen Grundlagen) ausgeschöpft werden, um die Widersprüche zu konkretisieren, zu verringern oder auszuräumen.
Orientierungssatz
Das Gericht darf weitere Sachverständigengutachten oder Nachfragen bei Sachverständigen nicht ablehnen, wenn sich diese Nachfragen als notwendig erweisen, um das Gesamtergebnis des Verfahrens ausreichend und umfassend berücksichtigen zu können; es darf einem Gutachten in der Entscheidung nicht folgen, ohne sich mit den Gegengründen eines anderen Gutachtens nachprüfbar auseinanderzusetzen. Dabei müssen in der Abwägung wohlerwogene und stichhaltige Gründe dargelegt werden. Auch müssen aus dem Urteil die Gründe ersichtlich sein, die für die richterliche Überzeugungsbildung leitend gewesen sind; dabei dürfen nicht Sachverständigengutachten oder andere Beweismittel, die für die Entscheidung wesentlich sind, in den Gründen übergangen werden. Soweit sich das Gericht mit medizinischen Lehrmeinungen auseinandersetzt und dies aufgrund eigener Sachkunde tut, muß die Grundlage ersichtlich sein; das Gericht muß darlegen, worauf die Sachkunde beruht, damit die Beteiligten Stellung nehmen können.
Normenkette
BVG § 38 Abs 1; SGG §§ 103, 128
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 23.10.1984; Aktenzeichen L 4 V 1021/82) |
SG Fulda (Entscheidung vom 10.08.1982; Aktenzeichen S 2a V 137/79) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten in einem Prozeß um Witwenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) darüber, ob der Ehemann der Klägerin an den Folgen seiner Kriegsbeschädigung verstorben ist. Er starb im März 1979 im Alter von 55 Jahren an einem Myokardinfarkt bei Linksherzhypertrophie und schwerer Arteriosklerose. Die Klägerin meint, daß langjährige chronische Schmerzen, an denen ihr Ehemann wegen der anerkannten Schädigungsfolgen (Plexusschädigung des linken Armes mit Gebrauchsunfähigkeit der linken Hand, Bewegungsstörungen im linken Schulter- und Ellenbogengelenk sowie trophische Störungen; Kausalgie des linken Arms) gelitten habe, den Todeszeitpunkt mindestens ein Jahr vorverlegt hätten. Die Versorgungsverwaltung gewährte der Klägerin Witwenbeihilfe, lehnte jedoch den Anspruch auf Hinterbliebenenrente ab, weil die anerkannten Schädigungsfolgen den Tod des Versorgungsempfängers nicht verursacht hätten (Bescheid vom 12. Juni 1979).
Nachdem das Sozialgericht (SG) gem § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein Gutachten von Prof. Dr. J. eingeholt hatte, hat es der Klage stattgegeben (Urteil vom 10. August 1982). Das Landessozialgericht (LSG) hat unter Hinweis auf den von ihm gehörten Sachverständigen Prof. Dr. S. der Berufung des Beklagten stattgegeben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 23. Oktober 1984). In den Entscheidungsgründen wird ausgeführt, daß nach dem gegenwärtigen Stand der medizinischen Wissenschaft psychosoziale Faktoren zwar mitverursachend auf die Entstehung und den Verlauf von Herzkrankheiten einwirken könnten; der Einfluß dieser Faktoren, zu denen auch der Schmerz gehöre, auf das Krankheitsgeschehen sei aber qualitativ und quantitativ nicht gesichert. Dies habe auch das Expertengespräch der internationalen Gesellschaft für Kardiologie im Oktober 1983 in Titisee ergeben. Es sei daher davon auszugehen, daß die Schädigungsfolgen keinen Anteil an der Entstehung der Coronarsklerose und des Herzinfarktes gehabt hätten und der Versorgungsempfänger auch ohne die Schädigungsfolgen zu einem unbestimmbaren Zeitpunkt an einem Herzinfarkt verstorben wäre.
Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt die Klägerin, das LSG habe den Kausalitätsbegriff des § 38 BVG verkannt. Es habe sein Recht auf freie richterliche Beweiswürdigung fehlerhaft ausgeübt und mit Prof. Dr. S. einen Sachverständigen beauftragt, dessen Standpunkt aus anderen Verfahren bekannt gewesen sei. Ohne hinreichenden Grund sei ihr Antrag auf ergänzende Befragung des Sachverständigen Prof. Dr. J. übergangen worden.
Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für rechts- und verfahrensfehlerfrei.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin hat insoweit Erfolg, als das Berufungsurteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist.
Der Witwenrentenanspruch der Klägerin richtet sich nach § 38 BVG idF der Bekanntmachung vom 22. Juni 1976 (BGBl I S 1633). Danach ist Hinterbliebenenrente zu gewähren, wenn der Beschädigte an den Folgen einer Schädigung gestorben ist. Zutreffend hat das LSG erkannt, daß der Klägerin nicht die Fiktion des § 38 Abs 1 Satz 2 BVG zugute kommt, weil der Versorgungsempfänger nicht an einem Leiden gestorben ist, das als Schädigungsfolge anerkannt war. Weder war die Coronarsklerose als Schädigungsfolge festgestellt noch bestand ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den schädigungsbedingten Einwirkungen auf die linke Brustseite des Versorgungsempfängers und der zum Tode führenden Herzerkrankung.
Das LSG ist ebenfalls rechtlich zutreffend davon ausgegangen, daß der Tod auch dann als Folge der Schädigung anzusehen ist, wenn die Schädigungsfolgen den Eintritt des Todes beschleunigt, dh um mindestens ein Jahr vorverlegt haben (BSG SozR 3100 § 1 Nr 21 mwN). Dabei hat das LSG auch nicht den Kausalitätsbegriff im Versorgungsrecht verkannt; denn aus seiner Formulierung "das Gericht müsse Gewissheit darüber gewinnen, daß die Schmerzzustände am Ableben mit Wahrscheinlichkeit beteiligt waren", bleibt erkennbar, daß das LSG die Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung (BSGE 1, 72, 75; 1, 150, 157; 11, 50 ff) angewandt und dabei auch die Wahrscheinlichkeit für die richterliche Überzeugungsbildung hat ausreichend sein lassen (BSGE 32, 203, 209; 45, 285, 286).
Abschließend läßt sich jedoch nicht beurteilen, ob mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang zwischen den Folgen der Schädigung und dem Tod des Versorgungsberechtigten spricht. Denn gegen die im wesentlichen auf das Gutachten von Prof. Dr. S. gegründeten Feststellungen des LSG sind zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht worden (§§ 163, 164 Abs 2 S 3 SGG).
Gem § 128 SGG entscheidet das Tatsachengericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Dies schließt das Recht auf freie richterliche Beweiswürdigungen ein (BSGE 10, 46, 48). Das Gericht darf jedoch weitere Sachverständigengutachten oder Nachfragen bei Sachverständigen nicht ablehnen, wenn sich diese Nachfragen als notwendig erweisen, um das Gesamtergebnis des Verfahrens ausreichend und umfassend berücksichtigen zu können (vgl zum Gesamtergebnis - BSG SozR Nrn 40 und 56 zu § 128 SGG); es darf einem Gutachten in der Entscheidung nicht folgen, ohne sich mit den Gegengründen eines anderen Gutachtens nachprüfbar auseinanderzusetzen (BSG SozR Nr 33 zu § 128 SGG). Dabei müssen in der Abwägung wohlerwogene und stichhaltige Gründe dargelegt werden (BSG SozR Nr 2 zu § 128 SGG). Auch müssen aus dem Urteil die Gründe ersichtlich sein, die für die richterliche Überzeugungsbildung leitend gewesen sind (BSG SozR Nr 79 zu § 128 SGG); dabei dürfen nicht Sachverständigengutachten oder andere Beweismittel, die für die Entscheidung wesentlich sind, in den Gründen übergangen werden (BSG SozR Nr 10 zu § 128 SGG). Soweit sich das Gericht mit medizinischen Lehrmeinungen auseinandersetzt und dies aufgrund eigener Sachkunde tut, muß die Grundlage ersichtlich sein; das Gericht muß darlegen, worauf die Sachkunde beruht (BSG SozR Nr 33 zu § 103 SGG und Nr 61 zu § 128 SGG), damit die Beteiligten Stellung nehmen können (vgl BSG SozR 1500 § 62 Nrn 3 und 11).
Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Prof. Dr. J. und Prof. Dr. S. stimmen nur darin überein, daß Schmerzzustände wie sonstige psychosoziale Streßfaktoren mitverursachend auf coronare Herzkrankheiten einwirken können. Hinsichtlich der möglichen Schlußfolgerungen weichen sie jedoch weit voneinander ab. Beide Sachverständigen stützen sich auf medizinische Forschungsergebnisse und Lehrmeinungen, wobei jedoch dem schriftlichen Gutachten von Prof. Dr. J. die angeblich in der Anlage beigefügte "Hierarchie der Risikofaktoren für Herzkranke" (vgl beispielsweise die Tabelle S 176 bei Schaefer/Blohmke, Herzkrank durch psychosozialen Streß, Heidelberg 1977) nicht beilag und folglich vom LSG auch nicht gewürdigt werden konnte. Mit dem aus seiner Sicht wesentlichen Literaturbeleg zum Gutachten von Prof. Dr. S. konnte sich das angefochtene Urteil schon mangels hinlänglicher Bestimmtheit nicht befassen. Bei dem Expertengespräch in Titisee handelt es sich um eine englischsprachige Schrift (Secondary Prevention of Coronary Heart Disease, Workshop of the International Society and Federation of Cardiology Titisee, 21-24 October 1983, Edited by K. Pyörälä, E. Rapaport, K. König, G. Schettler, C. Diehm in co-operation with members of the WHO), die auf den Seiten 13 ff und 67 bis 70 nur grob zusammenfassend Standpunkte der übrigen sehr unterschiedlich argumentierenden Experten wiedergibt.
Das LSG hat in seinen Entscheidungsgründen auch nicht deutlich gemacht, woher es die Sachkunde genommen hat, sich gerade dem Gutachten von Prof. Dr. S. als dem überzeugenderen anzuschließen. Nach dem Verfahrensverlauf ist nicht auszuschließen, daß dem LSG Prof. Dr. S. aus früheren Verfahren bekannt und ihm damit zugleich die Sachkunde oder die überzeugende Grundlage für dessen Auffassung vermittelt worden war. Diese Erkenntnisse hat das LSG jedoch nicht ins Verfahren eingeführt. Sie werden auch nicht in den Entscheidungsgründen genannt. Es hat vor allem unterlassen, vor einer abschließenden Würdigung der Beweise alle weiteren Aufklärungsmöglichkeiten (zB durch Fragen nach dem tatsächlichen Ausgangspunkt, den medizinischen Lehrmeinungen und wissenschaftlichen Grundlagen) auszuschöpfen, um die Widersprüche zu konkretisieren, zu verringern oder sogar auszuräumen.
Ohne Auseinandersetzung mit der zugrundeliegenden medizinisch-wissenschaftlichen Literatur konnte das LSG nicht plausibel begründen, warum es dem einen oder dem anderen Sachverständigen folgte. Unter diesen Umständen hätte einerseits - wie von der Klägerin beantragt - die neuerliche Anhörung von Prof. Dr. J., der ebenso wie Prof. Dr. S. Experte auf dem Gebiet der psychosozialen Streßfaktoren bei Herzinfarkt ist, den eigentlichen Divergenzpunkt und seine Bedeutung für die Theorie der wesentlichen Bedingung verdeutlichen können. Zum anderen wäre es auch nicht ausgeschlossen gewesen, einen dritten Sachverständigen - nicht im Sinne eines Obergutachtens, das im sozialgerichtlichen Verfahren nicht vorgesehen ist - zur Erläuterung der angezogenen Literatur sowie zum Stand der wissenschaftlichen Lehrmeinungen zu dem Problemkreis zu befragen. Damit hätte die Grundlage der unterschiedlichen gutachterlichen Bewertungen erforscht (vgl hierzu BGH DB 1987, 44; BVerwGE 41, 359) und anschließend die erforderliche Beweiswürdigung vorgenommen werden können.
In welcher Form die noch notwendige Sachaufklärung zu erfolgen hat, wird das LSG zu entscheiden und in den Urteilsgründen darzulegen haben, ob und warum einer der wissenschaftlichen Meinungen gefolgt werden kann. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen