Entscheidungsstichwort (Thema)
Würdigung von Sachverständigengutachten. Aufklärung von Widersprüchen. Sachkunde des Gerichts
Orientierungssatz
1. Es ist - auch ohne entsprechende Anregung der Beteiligten - erforderlich, vor einer abschließenden Beweiswürdigung alle denkbaren Aufklärungsmöglichkeiten auszuschöpfen, um Widersprüche zwischen Sachverständigengutachten genau zu bezeichnen, sie möglichst zu verkleinern oder auszuräumen. Dazu kann auch gehören, bei unterschiedlichen anamnestischen Angaben in den Gutachten, diese Widersprüche aufzuklären, sofern sich die Anamnese auf die Schlußbeurteilung ausgewirkt hat.
2. Auch darf das Gericht nicht einem Gutachten in seiner Entscheidung folgen, ohne sich mit den Gegengründen eines anderen Gutachtens nachprüfbar auseinanderzusetzen (vgl BSG vom 17.7.1958 - 11/8 RV 1205/56 = SozR Nr 33 zu § 128 SGG).
3. Treten ganz neue medizinische Gesichtspunkte im Verlauf eines Verfahrens auf, muß zur Beseitigung von Unklarheiten in erster Linie auch früheren Sachverständigen Gelegenheit zu ergänzenden Äußerungen gegeben werden. Das gilt jedenfalls dann, wenn die neuen Gesichtspunkte nicht zugleich den Kenntnisstand der früheren Gutachten diskutieren und in überzeugender Weise darlegen, warum vergleichbare Erkenntnisse nicht oder noch nicht gewonnen werden konnten, ob das Leiden fortgeschritten ist oder neuere wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen oder ob - bei kritischer Auseinandersetzung die Vorgutachten fehlerhaft sind. Dies kann nicht durch gerichtliche Beweiswürdigung ersetzt werden, sofern nicht das Gericht darlegt, worauf die Sachkunde beruht (vgl BSG vom 17.7.1958 aaO).
Normenkette
SGG §§ 103, 128, 118 Abs 1 S 1, § 153 Abs 1; ZPO § 411 Abs 3
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 12.12.1985; Aktenzeichen L 7 V 136/84) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 08.08.1984; Aktenzeichen S 14 V 266/79) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten nur noch darum, ob die Coxarthrose des Klägers als weitere Schädigungsfolge nach Verlust des rechten Beins einen Anspruch auf höhere Rente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) begründet oder ob sie auf anderen Einflüssen im Kindesalter beruht.
Das Landessozialgericht (LSG) hat das zusprechende erstinstanzliche Urteil geändert und die Anerkennung der Coxarthrose als weitere Schädigungsfolge im Anschluß an ein von Prof. Dr. S. während des Berufungsverfahrens erstattetes Gutachten nicht für gerechtfertigt gehalten. Der Sachverständige hatte eine Epiphysenstörung im Kindesalter als Ursache bezeichnet. Das Gutachten war nach Auffassung des LSG überzeugend und weitere Beweisaufnahme nicht erforderlich. Den Antrag des Klägers, die in erster Instanz gehörten Sachverständigen, den Orthopäden Prof. Dr. T. , den Phlebologen Prof. Dr. A. ebenso wie den zweitinstanzlich gehörten Orthopäden Prof. Dr. S. mündlich zu ihren gegenteiligen Auffassungen anzuhören, hat das LSG mit der Begründung zurückgewiesen, die Sachverständigengutachten seien ausführlich und die unterschiedlichen Auffassungen unmißverständlich dargelegt.
Der Kläger hat die - vom Senat zugelassene - Revision eingelegt. Er rügt, das LSG habe nicht Prof. Dr. S. in seiner medizinischen Beurteilung folgen dürfen, ohne die anderen Sachverständigen zur Zusammenhangsfrage anzuhören. Die abweichende Bewertung der älteren Röntgenaufnahmen durch Prof. Dr. S. hätte besonderer Erläuterung bedurft. Dem LSG habe insoweit die medizinische Sachkunde gefehlt. Es habe sich diesem Gutachten daher nicht mit der Begründung anschließen dürfen, daß es in sich schlüssig und überzeugend sei, ohne daß im Urteil zugleich begründet werde, warum den übrigen - ebenfalls schlüssigen - Gutachten nicht gefolgt werde. Erst aufgrund einer Gegenüberstellung der Gutachter hätten die wesentlichen medizinischen Fragen und insbesondere geklärt werden können, ob hier unterschiedliche Lehrmeinungen zu unterschiedlichen Beurteilungen führten.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 28. September 1976 zu verurteilen, eine Coxarthrose links als weitere Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung anzuerkennen und dem Kläger ab 1. April 1976 eine Versorgungsrente nach einer MdE um 40 vH und ab 1. Juli 1985 nach einer MdE um 50 vH zu gewähren,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision hinsichtlich des Hauptantrages zurückzuweisen.
Nach seiner Auffassung ist der Rechtsstreit angesichts der begründeten Revisionsrügen nicht entscheidungsreif.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat Erfolg. Entsprechend dem Hilfsantrag des Klägers ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Das Berufungsgericht hat sich für seine Überzeugung allein auf das in zweiter Instanz eingeholte Gutachten von Prof. Dr. S. berufen und dabei sein Recht auf freie richterliche Beweiswürdigung (§ 128 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) überschritten. Außerdem hat es - was zur Zulassung der Revision geführt hat - den Antrag des Klägers nach § 411 Abs 3 der Zivilprozeßordnung (ZPO) iVm § 153 Abs 1, § 118 Abs 1 Satz 1 SGG auf Anhörung der Sachverständigen und Erläuterung der schriftlichen Gutachten (vgl zu den Voraussetzungen BSG SozR 1750 § 411 Nr 2) ohne hinreichende Begründung übergangen. An dieser fehlt es schon deshalb, weil sich das LSG insoweit auf seine verfahrensfehlerhafte Beweiswürdigung beruft (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 49). Die unterschiedliche Würdigung der röntgenologischen Befunde durch die erst- und zweitinstanzlichen Sachverständigen haben zu Unklarheiten geführt, deren Beseitigung im Wege der Beweiswürdigung nur schwer möglich ist. Es hätte im Berufungsurteil einer eindeutigen Aussage darüber bedurft, welche Kompetenz dem LSG für seine auf medizinischem Gebiet liegende Beurteilung zukommt und worauf diese medizinische Sachkunde beruht (BSG SozR Nr 33 zu § 103 SGG; BSGE 21, 230, 234 und seitdem ständige Rechtsprechung).
Der Beweiswert der einzelnen Sachverständigengutachten hängt von ihrer Begründung und Erläuterung sowie davon ab, welche fachwissenschaftlichen Ausgangspunkte den jeweiligen Äußerungen zugrunde liegen. Wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 10. Dezember 1987 - 9a RV 36/85 - (SozR 1500 § 128 Nr 31) dargelegt hat, ist es - auch ohne entsprechende Anregung der Beteiligten - erforderlich, vor einer abschließenden Beweiswürdigung alle denkbaren Aufklärungsmöglichkeiten auszuschöpfen, um Widersprüche zwischen Sachverständigengutachten genau zu bezeichnen, sie möglichst zu verkleinern oder auszuräumen. Dazu kann auch gehören, bei unterschiedlichen anamnestischen Angaben in den Gutachten, diese Widersprüche aufzuklären, sofern sich die Anamnese auf die Schlußbeurteilung ausgewirkt hat (hier der Beginn der Beschwerden schon seit 1957 oder erst seit 1975).
Auch darf das Gericht nicht einem Gutachten in seiner Entscheidung folgen, ohne sich mit den Gegengründen eines anderen Gutachtens nachprüfbar auseinanderzusetzen (BSG SozR Nr 33 zu § 128 SGG). Im vorliegenden Fall haben sich dieselben Röntgenaufnahmen für Prof. Dr. S. als epiphysäre Hüftkonfiguration und für Prof. Dr. T. als Überlastungsschaden bei anlagemäßiger Minderwertigkeit des Knorpels und hohem Körpergewicht dargestellt. Zwar haben diese Ärzte ihre medizinische Beurteilung ausführlich und unmißverständlich dargelegt; insoweit ist dem LSG beizupflichten. Treten jedoch ganz neue medizinische Gesichtspunkte im Verlauf eines Verfahrens auf, muß zur Beseitigung von Unklarheiten in erster Linie auch früheren Sachverständigen Gelegenheit zu ergänzenden Äußerungen gegeben werden. Das gilt jedenfalls dann, wenn die neuen Gesichtspunkte nicht zugleich den Kenntnisstand der früheren Gutachten diskutieren und in überzeugender Weise darlegen, warum vergleichbare Erkenntnisse nicht oder noch nicht gewonnen werden konnten, ob das Leiden fortgeschritten ist oder neuere wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen oder ob - bei kritischer Auseinandersetzung - die Vorgutachten fehlerhaft sind. Dies kann nicht durch gerichtliche Beweiswürdigung ersetzt werden, sofern nicht das Gericht darlegt, worauf die Sachkunde beruht (BSG SozR Nr 33 zu § 103 SGG und Nr 61 zu § 128 SGG), damit die Beteiligten auch hierzu Stellung nehmen können (vgl BSG SozR 1500 § 62 Nrn 3 und 11).
In welcher Form die noch notwendige Sachaufklärung zu erfolgen hat, wird das LSG zu entscheiden haben. Es steht im Ermessen des Gerichts, in welcher Form die noch bestehenden Unklarheiten beseitigt werden. Ob sodann noch Fragen allein in der mündlichen Verhandlung geklärt werden können, ob also dem Kläger ein Befragungsrecht nach § 116 S 2 und 3 SGG (wie §§ 402, 397 Abs 2 ZPO) verbleibt, wird sich erst anschließend beurteilen lassen. Das LSG wird auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen