Leitsatz (amtlich)
1. Der Erlaß eines Urteils ohne mündliche Verhandlung trotz fehlenden Einverständnisses verletzt außer § 124 Abs 2 SGG auch den Grundsatz der Mündlichkeit in § 124 Abs 1 SGG; in dem Verstoß liegt allerdings kein absoluter (unbedingter) Revisionsgrund iS von oder entsprechend § 551 Nr 5 ZPO (Abgrenzung zu BSG 1978-06-27 4 RJ 87/77 = SozR 1500 § 62 Nr 6).
2. Wegen des besonderen Rechtswertes der mündlichen Verhandlung läßt sich in der Regel ein Beruhenkönnen der Entscheidung auf dem Unterbleiben nicht verneinen; insoweit ist dann eine nähere Darlegung der den Verfahrensmangel ergebenden Tatsachen nicht zu fordern.
Normenkette
SGG § 124 Abs 1 Fassung: 1953-09-03, § 124 Abs 2 Fassung: 1953-09-03, § 160 Abs 2 Nr 3 Fassung: 1953-09-03, § 62 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 551 Nr 5 Fassung: 1950-09-12
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 11.06.1981; Aktenzeichen L 10 An 332/80) |
SG Heilbronn (Entscheidung vom 15.11.1979; Aktenzeichen S 6 An 684/79) |
Tatbestand
Der Kläger benutzt wegen einer hochgradigen Gehbehinderung für den Weg von und zu seinem Arbeitsplatz ein Kraftfahrzeug (Kfz). 1976 gewährte ihm die Beklagte einen Zuschuß zur Beschaffung eines Fahrzeugs mit der vorgeschriebenen Sonderausstattung. Das Begehren des Klägers, auch für die 1978 amtlich angeordnete medizinisch-psychologische Nachuntersuchung auf seine Fahreignung die Kosten von 186,68 DM zu übernehmen, lehnte sie ab (Bescheid vom 25. Oktober 1978; Widerspruchsbescheid vom 21. Mai 1979).
Das Sozialgericht (SG) hat die Bescheide aufgehoben und die Beklagte zur Neubescheidung verurteilt. Auf die - vom SG zugelassene - Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) mit dem am 11. Juni 1981 ohne mündliche Verhandlung ergangenen Urteil die Klage abgewiesen. Im Tatbestand des Urteils hat es festgestellt, die Beteiligten hätten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Nach der Ansicht des LSG handelt es sich bei den Untersuchungskosten zwar um eine Leistung der beruflichen Rehabilitation iS des § 14a Abs 1 Nr 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG); die Ablehnung ihrer Übernahme sei jedoch nicht ermessenswidrig erfolgt.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragt der Kläger,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der
Beklagten zurückzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil aufzuheben und die Sache zur " - erstmaligen mündlichen -"
Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht
zurückzuverweisen.
Er rügt neben einer Verletzung des § 12 und der §§ 14 ff AVG einen Verstoß gegen die §§ 124 Abs 2, 112 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Er habe zu keiner Zeit dem LSG gegenüber einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt; die Verletzung des § 124 Abs 2 SGG stelle einen unbedingten Revisionsgrund dar.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Auf Anfrage hat der Vorsitzende des Berufungsgerichts bestätigt, daß der Senat irrtümlich (versehentlich) davon ausgegangen sei, auch der Kläger habe sein Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Im Revisionsverfahren haben sich beide Beteiligten damit einverstanden erklärt, daß über die Revision ohne mündliche Verhandlung entschieden wird.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist mit der Maßgabe begründet, daß das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Das Urteil des LSG ist verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Der Kläger war vor dem LSG nicht damit einverstanden, daß das LSG ohne mündliche Verhandlung entscheidet. Da das LSG dies dennoch getan hat, hat es sowohl § 124 Abs 2 SGG als auch den Grundsatz der Mündlichkeit in § 124 Abs 1 SGG verletzt.
In diesem Verstoß liegt allerdings noch kein absoluter (unbedingter) Revisionsgrund, wie der Kläger meint. Zwar hat der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 27. Juni 1978 (SozR 1500 § 62 Nr 6) bei einer Verletzung des § 124 Abs 2 SGG einen unbedingten Revisionsgrund angenommen; der erkennende Senat vermag dieser Rechtsauffassung jedoch nicht zu folgen.
Die Annahme eines absoluten Revisionsgrundes kann dabei im sozialgerichtlichen Verfahren nicht daraus hergeleitet werden, daß der Verstoß gegen § 124 Abs 1 und 2 SGG in der Regel - aber nicht notwendig - ebenfalls den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes -GG-, § 62 SGG) beeinträchtigt. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs ist nämlich - im Unterschied zu § 138 Nr 3 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und § 119 Nr 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) - weder im SGG noch in der gemäß § 202 SGG entsprechend anwendbaren Zivilprozeßordnung (ZPO) unter den unbedingten Revisionsgründen angeführt. Demgemäß hat das BSG in ständiger Rechtsprechung bei Verletzung des rechtlichen Gehörs jeweils geprüft, ob das angefochtene Urteil darauf beruhen kann (BSGE 5, 158, 164f; SozR Nr 16 zu § 62 SGG; SozR 1500 § 160 Nr 31 und zuletzt Urteil vom 27. August 1981 - 2 RU 35/81 -). Die Entscheidung des 4. Senats vom 27. Juni 1978 läßt nicht erkennen, daß der 4. Senat hierzu einen anderen Standpunkt vertritt; in seiner einen Tag später ergangenen Entscheidung vom 28. Juni 1978 (SozR 1500 § 160 Nr 31) hat er im Gegenteil ausdrücklich die Annahme eines absoluten Revisionsgrundes bei der Versagung des rechtlichen Gehörs abgelehnt.
Die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung trotz fehlenden Einverständnisses kann aber auch nicht, wie das offenbar die Auffassung des 4. Senats in SozR 1500 § 62 Nr 6 war, einen absoluten Revisionsgrund im Sinne des § 551 Nr 5 ZPO iVm § 202 SGG darstellen. § 551 Nr 5 ZPO betrifft den Fall, daß eine Partei "in dem Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten" war. Dieser Tatbestand kann nur Bedeutung haben für ein Verfahren, das tatsächlich stattgefunden hat. In einem unterbliebenen Verfahren bzw unterbliebenen Verfahrensteilen muß dagegen von vornherein jegliche "Vertretung", und zwar sowohl die gesetzmäßige wie die gesetzwidrige, entfallen.
Es fragt sich daher nur, ob das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung ohne Einverständnis der Beteiligten dem absoluten Revisionsgrund des § 551 Nr 5 ZPO gleichgestellt, dh ob § 551 Nr 5 ZPO auf diesen Fall entsprechend angewendet werden kann (so offenbar - wie schon in SozR 1500 § 62 Nr 6 angeführt - Meyer-Ladewig, SGG, § 124 Anm 2, Eyermann/Fröhler, VwGO, 7. Aufl, § 101 Anm 2, Baumbach/Lauterbach, ZPO, 34. (= 36.) Aufl, § 128 Anm 6D; ferner wohl Kopp, VwGO, 5. Aufl 1981 § 101 RdNr 2 und BAG, AP zu § 128 ZPO Nr 9; ausdrücklich für "entsprechende Anwendung", allerdings des § 579 Abs 1 Nr 4 ZPO, Bay.VGH, VGHE NF 4, 1951 = DÖV 1952, 317, auf dessen Urteil Eyermann/Fröhler und Kopp ihrerseits verweisen). Gegen die Gleichstellung, die nichts anderes als eine entsprechende Anwendung bedeuten kann, spricht jedoch schon allgemein, daß § 551 ZPO eine abschließende Regelung enthält, die auf andere Verfahrensmängel grundsätzlich nicht ausgedehnt werden darf (so Baumbach/Lauterbach selbst aaO § 551 Anm 9). Davon abgesehen, läßt sich auch nicht erkennen, welche Gründe im besonderen die entsprechende Anwendung des § 551 Nr 5 ZPO gebieten sollten. Es findet sich praktisch nur der Hinweis auf die gleichzeitige Beeinträchtigung des rechtlichen Gehörs. Daß die VwGO und die FGO die Verletzung des rechtlichen Gehörs für ihren Bereich als einen eigenen absoluten Revisionsgrund geschaffen haben, zeigt jedoch schon, daß der Gesetzgeber diesen Tatbestand nicht dem absoluten Revisionsgrund der nicht vorschriftsmäßigen Vertretung im Verfahren untergeordnet hat. Davon abgesehen fehlt jede Darlegung, inwiefern die Behandlung des Verstoßes gegen § 124 Abs 2 SGG als relativer Revisionsgrund zu derart unbefriedigenden Ergebnissen führte, daß dem nur mit der Erhebung zum absoluten Revisionsgrund zu begegnen wäre.
Dementsprechend hat das BSG bis zur Entscheidung SozR 1500 § 62 Nr 6 die Verletzung des § 124 Abs 2 SGG zutreffend als relativen Revisionsgrund behandelt (so zuletzt vorher SozR 1500 § 124 Nr 2; vgl ferner SozR Nr 4 zu § 124 SGG). Diese Auffassung wird auch sonst weitgehend geteilt (Ule, Verwaltungsrecht, 6. Aufl, S. 282; Schunk/de Clerk, VwGO 3. Aufl 1977, S. 768; Burchardt, Das Verfahren ohne mündliche Verhandlung, 1974, S. 142f; Wieczorek, ZPO, 2. Aufl, § 128 Anm J II f 2; Thomas/Putzo, ZPO 11. Aufl 1981, § 128, Anm III 2e; Zeihe, SGb 1979, 429 f; BGHZ 18, 61 und 31, 210, 215).
Ist die Verletzung des § 124 Abs 2 SGG aber nur ein relativer Revisionsgrund, so ist für seine Kennzeichnung als wesentlicher Verfahrensmangel die Feststellung erforderlich, daß die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensmangel beruhen kann (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Das ist der Fall, wenn sich nicht ausschließen läßt, daß das LSG bei Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre (SozR 1500 § 124 Nr 2). Ein solcher Einfluß mag zB bei einer verspätet erhobenen Klage, wenn jede Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand fehlt, auszuschließen sein. In der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle läßt sich dagegen wegen des besonderen Rechtswertes der mündlichen Verhandlung (BSGE 17, 44, 46; SozR 1500 § 124 Nr 2; BVerwG, Buchholz 310, § 101 VwGO Nr 8) ein Beruhenkönnen der Entscheidung auf dem Unterbleiben der mündlichen Verhandlung nicht verneinen. Auch im vorliegenden Falle kann eine solche Ursächlichkeit nicht ausgeschlossen werden. Die mündliche Verhandlung soll den Beteiligten Gelegenheit geben, den Sach- und Streitstoff mit dem Gericht in unmittelbarer Rede und Gegenrede zu erörtern; ihr wohnt damit ein die bloße Schriftlichkeit eines Verfahrens überschießendes Element inne, das in eigenständiger Weise auf die richterliche Überzeugungsbildung einwirken und sie beeinflussen kann, ohne daß sich diese Einwirkung im einzelnen beschreiben und begründen ließe. Deshalb kann auch nicht - wie sonst regelmäßig bei Verfahrensverstößen - von dem Beteiligten insoweit eine nähere Darlegung der den Verfahrensmangel ergebenden "Tatsachen" (§ 164 Abs 2 Satz 2 SGG) gefordert werden; einer solchen Darlegung bedarf es nicht, wenn der ursächliche Zusammenhang im genannten Sinne schon nach der Art des Verfahrensmangels auf der Hand liegt (BGH LM § 54 ZPO Nr 23; BAG AP § 54 ZPO Nr 13). Die Charakterisierung des Verfahrensmangels als relativer Revisionsgrund hat im weiteren zur Folge, daß der Senat prüfen muß, ob er in der Sache selbst entscheiden soll oder ob dies "untunlich" ist (§ 170 Abs 2 SGG). Der Kläger hat zwar eine Zurückverweisung an das LSG nur hilfsweise beantragt. Eine Zurückverweisung, wie er das will, für den Fall, daß der Senat das Berufungsurteil bestätigen sollte, kann jedoch nicht in Betracht kommen. Die Verfahrensrüge der Verletzung des § 124 Abs 2 kann daher nur dann einen Sinn haben, wenn der Kläger sich nicht damit abfinden will, daß in seinem Fall in den Vorinstanzen (Tatsacheninstanzen) eine mündliche Verhandlung gänzlich unterblieben ist. Das muß in der Tat aus seiner Revisionsbegründung entnommen werden und kommt auch in dem Revisionsantrag in der Formulierung "zur - erstmaligen mündlichen - Verhandlung" zum Ausdruck. Unter diesen Umständen hält der Senat wegen des aufgezeigten besonderen Rechtswertes einer mündlichen Verhandlung eine eigene Entscheidung in der Sache aufgrund des vom LSG festgestellten, vom Kläger selbst nicht bestrittenen Sachverhalts nicht für tunlich, sondern die Zurückverweisung der Sache an das LSG für angemessen.
Mit seiner Auffassung, daß die Verletzung des § 124 Abs 2 SGG keinen absoluten Revisionsgrund darstellt, weicht der Senat nicht iS des § 42 SGG von der Entscheidung des 4. Senats des BSG in SozR 1500 § 62 Nr 6 und auch nicht iS des § 2 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes von der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts in AP § 128 ZPO Nr 9 ab. Denn auch von der Gegenmeinung aus hätte der Senat im vorliegenden Falle den Rechtsstreit an das LSG zurückverweisen müssen. Der Senat ist deshalb nicht verpflichtet, den Großen Senat des BSG oder den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes anzurufen.
Nach alledem war entsprechend dem Urteilstenor zu entscheiden; die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der endgültigen Entscheidung im Rechtsstreit vorbehalten.
Fundstellen