Leitsatz (amtlich)
Bei der Prüfung, ob Berufsunfähigkeit vorliegt, hängen die Fragen, die an den ärztlichen Sachverständigen zu stellen sind, von den Ermittlungen über den Berufsweg und die beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten des Versicherten ab. Es ist in der Regel methodisch nicht richtig, ärztliche Gutachten einzuholen, bevor diese Ermittlung abgeschlossen ist. Zunächst muß deshalb geprüft werden, welche Ausbildung der Versicherte gehabt, welche Tätigkeiten er bisher ausgeübt, welche Kenntnisse und Fähigkeiten er dabei erworben hat und auf welche Berufe er infolgedessen verwiesen werden darf; danach ist zu prüfen, welche körperlichen und geistigen Funktionen durch Krankheiten oder Gebrechen beeinträchtigt sind; erst dann kann beurteilt werden, wie weit der Versicherte dadurch an der Ausübung der ihm zumutbaren Berufe gehindert ist.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 26. November 1957 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger erstrebt die Gewährung einer Rente aus der Rentenversicherung der Angestellten (AV.). Leistungen aus seinen Beiträgen zur Rentenversicherung der Arbeiter beansprucht er noch nicht. Es ist streitig, ob Berufsunfähigkeit vorliegt.
Der Kläger ist 48 Jahre alt, von Beruf Sattler und Polsterer. 1936 ließ er sich als selbständiger Sattlermeister in S... nieder. In den ersten Jahren nach der Kapitulation arbeitete er als Sattler selbständig in W... bei S.... Von Mai 1948 bis Oktober 1952 war er Lehrgruppenleiter von Umschulungsgruppen für Sattler in der Niedersächsischen Landes-Versehrten-Fachschule; nebenher unterrichtete er aushilfsweise auch in einer Gewerblichen Berufsschule. Danach war er arbeitslos. Seit Oktober 1955 ist er bei den Städtischen Krankenanstalten in B... beschäftigt. Dort war er zunächst Fahrstuhlführer, jetzt ist er Pförtner.
Im Oktober 1952 beantragte der Kläger die Gewährung von Ruhegeld. Die Landesversicherungsanstalt (LVA.) O..., die damals für ihren Bezirk die Aufgaben der AV. mit wahrnahm, hielt den Kläger noch für berufsfähig und lehnte den Antrag mit dieser Begründung ab (Bescheid vom 19.1.1953). Das Sozialgericht Bremen bestätigte diese Entscheidung (Urteil vom 22.11.1954). Im Verlauf des Rechtsstreits trat die Beklagte an die Stelle der LVA. in das Verfahren ein. Das Landessozialgericht (LSG.) Bremen verurteilte die Beklagte, "dem Kläger für die Zeit vom 1. November 1952 bis zum 31. Dezember 1956 das Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit und vom 1. Januar 1957 an die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aus der AV. zu gewähren". Es stellte bei dem Kläger, gestützt auf zahlreiche ärztliche Stellungnahmen und Gutachten, praktisch Taubheit auf dem linken Ohr, Blindheit auf dem rechten Auge, eine verringerte Sehschärfe auf dem linken Auge, leichte vegetative Dystonie und Herzmuskelschädigung sowie Senk-Spreizfüße fest. Es nahm an, daß das seit der Jugend bestehende Ohrenleiden und das im Kriege hinzugekommene Augenleiden zusammen mit den übrigen Befunden sowohl Berufsunfähigkeit als selbständiger Sattlermeister und Lehrgruppenleiter im Sinne des § 23 Abs. 2 AVG n.F. (Art. 2 § 7 des "Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Angestellten" - AnVNG -) als auch Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 24 Abs. 2 AVG n.F. bedinge. Der zur Rentenberechtigung erforderliche Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit sei etwa zur Zeit der Antragstellung im Oktober 1952 erreicht worden (Urteil vom 26.11.1957).
Das LSG. ließ die Revision zu. Die Beklagte legte gegen das ihr am 23. Dezember 1957 zugestellte Urteil des LSG. am 18. Januar 1958 Revision ein und begründete sie nach Verlängerung der Begründungsfrist bis zum 24. März 1958 am 19. März 1958. Sie beantragte, das Urteil des LSG. aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen. Sie rügte die unrichtige Anwendung der Begriffe Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit. Sie ist der Meinung, der Kläger verfüge bei den von den Gutachtern erhobenen Befunden für seine maßgeblichen Berufe noch über ein ausreichendes Seh- und Hörvermögen; nennenswerte internistische Befunde fehlten völlig. Bei der Verurteilung zur Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit habe das LSG. die Übergangsvorschrift des Art. 2 § 37 AnVNG nicht beachtet.
Der Kläger beantragte sinngemäß, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Die Verurteilung der Beklagten durch das Berufungsgericht, dem Kläger für bestimmte Zeiten vor dem 1. Januar 1957 Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit und vom 1. Januar 1957 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren, ist fehlerhaft. Ein bereits für Zeiten vor dem genannten Stichtag (Tag des Inkrafttretens des AnVNG) gewährtes Ruhegeld ist, auch wenn es erst später festgestellt wird, für die Bezugszeiten nach dem Stichtag nicht nach den Vorschriften des neuen Rechts zu berechnen, sondern nach den Übergangsvorschriften des AnVNG "umzustellen". Bei der Umstellung wird der monatliche Steigerungsbetrag des bisherigen Ruhegelds mit einem Wert vervielfältigt, der einer Tabelle, die dem Gesetz beigefügt ist, entsprechend dem Geburtsjahr und dem Jahr des Beginns der Rente des Versicherten entnommen werden muß. Der aus dieser Multiplikation errechnete Betrag ergibt die Höhe der neuen Rente. Diese gilt bei einem Rentner, der - wie der Kläger - nach dem 31. Dezember 1891 geboren ist, als Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (Art. 2 §§ 30, 31, 37 AnVNG).
Unrichtig ist auch die Ansicht des LSG., die Frage nach der Berufsunfähigkeit des Klägers müsse wegen des Art. 2 § 7 AnVNG für die gesamte Zeit seit der Antragstellung einheitlich aus § 23 Abs. 2 AVG n.F. beantwortet werden. Die Berufsunfähigkeit ist vielmehr für die Zeit bis zum 31. Dezember 1956 nach § 27 AVG a.F. und - wenn sie hiernach zu verneinen ist - erst für die folgende Zeit nach § 23 Abs. 2 AVG n.F. zu beurteilen. Für die am 1. Januar 1957 bei den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit schwebenden Verfahren ist in Art. 2 § 43 AnVNG eine besondere Regelung getroffen worden. Aus dieser schließt das Bundessozialgericht (BSG.) in ständiger Rechtsprechung, daß in solchen Streitfällen das neue Recht erst vom 1. Januar 1957 an zu berücksichtigen ist (BSG., Urteil vom 29.7.1958 - 1 RA 143/57 -; vgl. auch BSG., Sozialrecht, § 1293 RVO a.F. A a Nr. 4). Im übrigen ist der Begriff der Berufsunfähigkeit, wie er in § 27 AVG a.F. enthalten ist, durch das AnVNG - jedenfalls soweit er für die Entscheidung dieses Rechtsstreits in Betracht kommt - nicht grundsätzlich geändert worden, so daß im vorliegenden Fall die Anwendung der einen oder der anderen Vorschrift praktisch zum gleichen Ergebnis führt.
Das LSG. verkennt weiter den Begriff der Berufsunfähigkeit und sicher auch die Art und Weise, wie im konkreten Fall zu ermitteln ist, ob die Voraussetzungen dieses Begriffs erfüllt sind. Berufsunfähig ist der Versicherte, dessen Arbeitsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Bei der praktischen Anwendung dieses Begriffs ist in allen Zweifelsfällen die erste und alle weiteren Untersuchungen bestimmende Aufgabe des Gerichts zu prüfen, welche Ausbildung der Versicherte gehabt, welche beruflichen Tätigkeiten er bisher ausgeübt, welche Kenntnisse und Fähigkeiten er dabei erworben hat und auf welche Berufsgruppen er infolgedessen verwiesen werden kann. Für diese Ermittlungen werden u.U. schon Sachverständige mit den notwendigen technischen und wirtschaftlichen Kenntnissen heranzuziehen sein, z.B. Sachkenner des Arbeitsamts, der Industrie- und Handelskammer, Handwerkskammer, Landwirtschaftskammer usw. Das LSG. durfte sich im vorliegenden Fall nicht mit dem Anhören ärztlicher Sachverständiger begnügen und vor allem nicht darauf beschränken, durch einen Vergleich der zahlreichen ärztlichen Gutachten zu ermitteln, in welchem Maße (Prozentsatz) die einzelnen Gebrechen des Klägers - zunächst je für sich genommen - seine Erwerbsfähigkeit ohne unmittelbaren Zusammenhang mit seinem Beruf einschränken. Es durfte ferner nicht aus der Summe dieser Beschränkungen eine Minderung seiner Gesamt-Erwerbsfähigkeit festlegen, und zwar wiederum ohne unmittelbaren Bezug zu den Tätigkeiten seiner Berufsgruppe. Die große Zahl ärztlicher Gutachten, die während des Verfahrens eingeholt worden sind, erlaubt es durchaus festzustellen, an welchen Gebrechen der Kläger leidet und in welchem Maße die verschiedenen körperlichen Funktionen gestört oder beeinträchtigt sind (Hörfähigkeit, Sehfähigkeit usw.). Es wäre aber, und zwar zweckmäßigerweise vor der Einholung weiterer ärztlicher Gutachten zu ermitteln gewesen, wie weit der Kläger für seine bisherigen Berufe oder die ihm zumutbaren anderen Tätigkeiten auf diese Funktionen angewiesen ist und wie weit ihn seine Gebrechen an der wirtschaftlich sinnvollen Ausübung dieser Berufe hindern. Auch hierfür wäre neben den ärztlichen Gutachten u.U. ein Gutachten technischer oder wirtschaftlicher Sachverständiger einzuholen gewesen. Das LSG. hat übersehen, welche Bedeutung der Ausbildung und den beruflichen Tätigkeiten eines Versicherten zukommt, wenn seine Berufsfähigkeit zu beurteilen ist, und wie sehr auch die Fragen, die an den ärztlichen Sachverständigen zu stellen sind, hiervon abhängen.
Schließlich ist das LSG. bei seinen Erwägungen, ob der Kläger berufsunfähig sei, auch insofern von irrigen Voraussetzungen ausgegangen, als es angenommen hat, es sei durch den - dem Gericht anscheinend gar nicht näher bekannten - Bescheid vom 27. Mai 1948 rechtskräftig und für das Gericht verbindlich festgestellt, der Kläger sei in seinem damaligen körperlichen Zustand nicht berufsunfähig gewesen. Bindend ist vielmehr nur der entscheidende Teil des Bescheids geworden, nämlich die Feststellung, daß der Kläger zu jener Zeit keinen Anspruch auf Ruhegeld hatte, nicht aber die Feststellung, an welchen Gebrechen er litt und wie stark sie ihn in seiner Berufsfähigkeit beeinträchtigten, noch ob andere Umstände - etwa versicherungstechnischer Art - seinem Anspruch entgegenstanden.
Weil das LSG. zu Unrecht das neue Recht auf den nach seiner Auffassung schon vor dem 1. Januar 1957 eingetretenen Versicherungsfall angewendet und zudem verkannt hat, wie die Berufsunfähigkeit zu prüfen ist, muß sein Urteil aufgehoben werden. Die tatsächlichen Feststellungen des LSG. reichen aber für eine abschließende Entscheidung nicht aus. Der Rechtsstreit muß daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG). Das LSG. wird auch mit über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen