Entscheidungsstichwort (Thema)
Anwendung alten Rechts
Leitsatz (amtlich)
Eine ältere Angestellte, deren Erwerbsfähigkeit in ihrem Beruf nicht durch Krankheit, Gebrechen oder Schwäche ihrer körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte einer gesunden Versicherten herabgesunken ist, ist nicht deshalb berufsunfähig, weil sie nicht mehr "wettbewerbsfähig" ist.
Leitsatz (redaktionell)
Aus AnVNG Art 2 § 43 schließt der Senat, daß in den am 1957-01-01 bereits bei den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit schwebenden Verfahren AnVNG Art 2 § 7 und damit auch AVG § 23 Abs 2 nF nicht anzuwenden ist.
Normenkette
AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1934-05-17; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1924-12-15; AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AnVNG Art. 2 § 43 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 44 Fassung: 1957-02-23; AnVNG Art. 2 § 7 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 6 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 23. Januar 1958 wird aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 18. September 1957 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin erstrebt die Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit aus der Rentenversicherung der Angestellten (AV.). Ihr Versicherungsverhältnis ist geordnet. Es ist streitig, ob Berufsunfähigkeit vorliegt.
Die Klägerin ist 68 Jahre alt; sie hat früher als Sekretärin, Stenotypistin und Hausdame gearbeitet. Den Rentenantrag stellte sie im Februar 1956. Die Beklagte hielt die Klägerin noch für berufsfähig und lehnte den Antrag mit dieser Begründung ab (Bescheid vom 6.8.1956). Das Sozialgericht (SG.) Bremen bestätigte diese Entscheidung (Urteil vom 18.9.1957). Das Landessozialgericht (LSG.) Bremen verurteilte dagegen die Beklagte, der Klägerin vom 1. März 1956 an Rente aus der AV. zu gewähren. Es stellte bei der Klägerin, gestützt auf mehrere ärztliche Äußerungen und Gutachten, eine nervöse Übererregbarkeit, degenerative Veränderungen an der Hals- und Brustwirbelsäule und eine Blasenentzündung fest. Seiner rechtlichen Beurteilung legte das Berufungsgericht den Berufsunfähigkeitsbegriff des bei der Antragstellung im Februar 1956 geltenden Rechts (§ 27 AVG a.F.) zugrunde. Unter eigener Abwägung der ärztlichen Stellungnahmen und Meinungen kam es zu der Überzeugung, daß die Klägerin hinsichtlich der Minderung ihrer Erwerbsfähigkeit in medizinischer Hinsicht die 50 v.H. - Grenze noch nicht überschritten habe und somit vom ärztlichen Standpunkt aus in den von ihr früher ausgeübten Tätigkeiten nicht als berufsunfähig bezeichnet werden könne. Weil aber im Bürodienst ältere Angestellte nicht mehr zu vermitteln seien, sei die Klägerin "nicht mehr wettbewerbsfähig und infolgedessen für dauernd berufsunfähig zu erachten." Es ließ die Revision zu (Urteil vom 23.1.1958).
Die Beklagte legte gegen das ihr am 15. Februar 1958 zugestellte Urteil am 7. März 1958 Revision ein und begründete sie am 14. April 1958. Sie beantragte, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG. zurückzuweisen. Sie rügte eine Verletzung des Begriffs der Berufsunfähigkeit, wie er sich aus § 23 Abs. 2 AVG n.F. (Fassung des "Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Angestellten" vom 23.2.1957 - AnVNG -) ergibt. Nach ihrer Meinung darf - im Hinblick auf Art. 2 § 7 AnVNG - § 27 AVG a.F. im vorliegenden Rechtsstreit nicht mehr angewandt werden.
Die Klägerin beantragte, die Revision zurückzuweisen. Sie hält sich nicht mehr für berufsfähig.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Die Berufsfähigkeit der Klägerin ist für die Zeit vor dem 1. Januar 1957, den Tag des Inkrafttretens des AnVNG, nach § 27 AVG a.F. zu beurteilen. Die Ansicht der Beklagten, Art. 2 § 7 AnVNG schreibe, weil am 1. Januar 1957 kein bindender Bescheid vorgelegen habe, die Anwendung von § 23 Abs. 2 AVG n.F. vor und schließe § 27 AVG a.F. aus, ist nicht richtig. Für die an dem genannten Stichtag bereits bei den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit schwebenden Verfahren ist in Art. 2 § 43 eine besondere Regelung getroffen worden. Aus dieser schließt das Bundessozialgericht (BSG.) in ständiger Rechtsprechung, daß in solchen Streitfällen Art. 2 § 7 AnVNG und damit auch § 23 Abs. 2 AVG n.F. nicht anzuwenden sind (BSG. 8 S. 31/33; vgl. auch BSG., Sozialrecht, § 1293 RVO a.F. Bl. Aa 2 Nr. 4). Die Bedeutung des Art. 2 § 7 AnVNG beschränkt sich auf die Anwendung durch die Versicherungsträger. Art. 2 § 43 AnVNG weist nur auf Art. 2 §§ 8, 17 und 18, nicht auch auf Art. 2 § 7 AnVNG hin. Die Auffassung der Beklagten, das Anführen der §§ 8, 17 und 18 sei nur beispielhaft erfolgt und besage nichts über die Geltung auch von anderen Vorschriften in schwebenden Gerichtsverfahren, findet im Gesetz keine Stütze.
Nach § 27 AVG a.F. gilt als berufsunfähig der Versicherte, dessen Arbeitsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Hiernach muß die Arbeitsunfähigkeit, die Berufsunfähigkeit herbeiführen soll, auf einer "Krankheit, einem Gebrechen oder einer Schwäche der körperlichen oder geistigen Kräfte" beruhen. Diese Aufzählung ist erschöpfend; andere Ursachen, insbesondere solche wirtschaftlicher Art kommen nicht in Betracht. Das Lebensalter, die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit oder Schwierigkeiten bei der Arbeitsvermittlung führen nicht zur Berufsunfähigkeit. Bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit eines Rentenbewerbers sind zunächst die Tätigkeiten zu ermitteln, die dieser bisher ausgeübt hat oder auf die er verwiesen werden darf, sodann sind seine Krankheiten, Gebrechen oder Schwächen festzustellen und schließlich ist zu beurteilen, ob die krankhaften Befunde die Erwerbsfähigkeit in den zumutbaren Berufen um mehr als die Hälfte - im Vergleich zu einem gesunden Versicherten - einschränken (BSG., Sozialrecht § 1246 RVO Bl. Aa 3 Nr. 7). Führen diese Überlegungen - wie bei der Klägerin - zu dem Ergebnis, daß der Antragsteller seine bisherigen beruflichen Arbeiten noch in einem hinreichenden Umfang ausführen kann, so ist er berufsfähig. Die Prüfung ist damit abgeschlossen. Der Begriff der Berufsunfähigkeit wird verkannt, wenn zusätzlich weitere Erwägungen angestellt werden und die Berufsunfähigkeit mit Tatsachen oder Möglichkeiten, die das Gesetz nicht als Ursachen für die eingeschränkte Arbeitsfähigkeit anerkennt, begründet wird. Das aber hat das LSG. getan, als es aus der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit auf die Berufsunfähigkeit der Klägerin geschlossen hat. Eine ältere Angestellte, deren Erwerbsfähigkeit in ihrem Beruf nicht durch Krankheit, Gebrechen oder Schwäche ihrer körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte einer gesunden Versicherten herabgesunken ist, ist nicht deshalb berufsunfähig, weil sie nicht mehr "wettbewerbsfähig" ist. Nach seinen eigenen Feststellungen und Ausführungen mußte das Gericht, nachdem es die Klägerin aufgrund ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten noch als einsatzfähig im Bürodienst angesehen hatte, ihre Berufsfähigkeit bejahen. Die Auswertung der ärztlichen Gutachten durch das Berufungsgericht läßt keinen Fehler erkennen; ein solcher Fehler ist auch von den Beteiligten nicht gerügt worden. Die Entscheidung des LSG. beruht somit auf einer unrichtigen Anwendung der Vorschrift über die Berufsunfähigkeit und ist durch das Revisionsgericht, weil es weiterer Ermittlungen nicht bedarf richtig zu stellen.
Die Klägerin beansprucht mit der Klage die Rente gegebenenfalls auch von einem späteren Zeitpunkt an als dem der Antragstellung. Für die Zeit seit dem 1. Januar 1957 ist die Berufsunfähigkeit nach § 23 Abs. 2 AVG n.F. zu beurteilen (BSG. 8 S. 31/33). Diese Vorschrift hat, soweit sie zur Prüfung dieses Rechtsstreits in Betracht kommt, den gleichen Wortlaut wie § 27 AVG a.F. Ihre Anwendung führt zu keinem für die Klägerin günstigeren Ergebnis.
Das im Laufe des Revisionsverfahrens vorgelegte ärztliche Gutachten über die Berufsunfähigkeit der Klägerin (Gutachten Dr. W... vom 31.5.1958) darf vom Revisionsgericht nicht berücksichtigt werden. Es kann jedoch zur Begründung eines neuen Rentenantrags bei der Beklagten dienen.
Auf die Revision der Beklagten hin muß die Berufung der Klägerin gegen das klagabweisende Urteil des SG. zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen