Leitsatz (amtlich)
Auch für Versicherte mit einer tarifvertraglichen Verdienstsicherung in Höhe des Lohnes im bisherigen Beruf richtet sich die Zumutbarkeit einer dem Leistungsvermögen noch entsprechenden Tätigkeit (RVO § 1246 Abs 2 S 2) nach deren objektiven Qualitätsmerkmalen (Anschluß an und Fortführung von BSG 1979-09-11 5 RJ 136/78 = BSGE 49, 34; Bestätigung von BSG 1980-11-12 1 RJ 104/79 = SozR 2200 § 1246 Nr 69).
Normenkette
RVO § 1246 Abs 3 S 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 30.05.1980; Aktenzeichen L 3 J 26/80) |
SG Duisburg (Entscheidung vom 29.11.1979; Aktenzeichen S 9 (16) J 83/78) |
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob der Kläger berufsunfähig iS des § 1246 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) ist.
Der am 2. Dezember 1923 geborene Kläger hat den Beruf des Elektrowicklers erlernt. Als solcher war er bis 1975 bei einem zum S Konzern gehörenden Unternehmen tätig. Seine Entlohnung erfolgte nach einer Methode der analytischen Arbeitsbewertung, der S Arbeitsbewertung (SAB). Er war in die höchste Gruppe, die Lohngruppe 11, eingestuft. Nach Aufgabe der Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen wird der Kläger seit dem 1. Mai 1976 von seinem Arbeitgeber als Bürohilfsarbeiter beschäftigt. Er bezieht den Lohn der innerbetrieblichen Lohngruppe 6 und erhält als Lohnsicherung die Differenz zur Lohngruppe 11.
Am 12. August 1976 beantragte der Kläger, ihm Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Nach Durchführung eines Heilverfahrens in einer Klinik für Stoffwechselkrankheiten in der Zeit vom 4. Januar bis zum 8. Februar 1977 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 26. Mai 1978 den Rentenantrag ab. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 12. Dezember 1978).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 29. November 1979) und das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 30. Mai 1980): Als gelernter Elektrowickler genieße er den Berufsschutz des Facharbeiters. Jedoch müsse er sich auf seine jetzige Tätigkeit als Bürohilfsarbeiter verweisen lassen. Dabei sei die Lohnsicherung nicht zu berücksichtigen, denn sie erlösche, sobald der Kläger Rente in entsprechender Höhe beziehe.
Der Kläger hat diese Entscheidung mit der vom Senat zugelassenen Revision angefochten. Er rügt eine Verletzung des § 1246 RVO. Das LSG habe dem Umstand, daß er sich zum hochqualifizierten Facharbeiter hochgearbeitet habe und deswegen nach der höchsten Lohngruppe entlohnt worden sei, keinerlei rechtliche Bedeutung beigemessen. Es hätte aber von der Berufsgruppe des "besonders hoch qualifizierten Facharbeiters" ausgehen müssen und ihn nicht auf die Tätigkeit eines Bürohilfsarbeiters verweisen dürfen. Eine derartige Verweisung sei selbst dann ausgeschlossen, wenn man ihm nur den Berufsschutz eines Facharbeiters zuerkenne, denn der Bürohilfsarbeiter gehöre nicht zu den sonstigen Ausbildungsberufen.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil und das Urteil des SG aufzuheben
und die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Aufhebung des
Bescheides vom 26. Mai 1978 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 12. Dezember 1978 für die Zeit
vom 1. September 1976 bis zum 3. Januar 1977
Übergangsgeld und ab 16. Februar 1977
Berufsunfähigkeitsrente zu leisten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden muß. Die festgestellten Tatsachen reichen zu einer abschließenden Entscheidung über die begehrte Rente wegen Berufsunfähigkeit nicht aus.
Ausgangspunkt für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit ist der "bisherige Beruf" des Versicherten. Das ist beim Kläger die Tätigkeit des Elektrowicklers, die er - wie sich aus dem angefochtenen Urteil ergibt - aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr verrichten kann. Vom qualitativen Wert des "bisherigen Berufs" hängt es ab, auf welche anderen Tätigkeiten der Kläger zumutbar iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zu verweisen ist. Der Kläger ist als Elektrowickler nach einer Methode der analytischen Arbeitsbewertung entlohnt worden. Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, daß die Arbeitslöhne bei der analytischen Arbeitsbewertung den objektiven Wert der beruflichen Tätigkeit zuverlässig wiedergeben können. An die Stelle der Lohngruppen und deren Einstufungskriterien müssen dann die Arbeitsplatz-Wertzahlen und die zu ihrer Ermittlung maßgebenden Bewertungskriterien treten. Der qualitative Wert des Berufs kann jedoch nicht derjenigen Arbeitswertzahl entnommen werden, die als Endprodukt die Entlohnung bestimmt. Vielmehr müssen die Faktoren unberücksichtigt bleiben, die sich nicht an den qualitativen Anforderungen des Berufs, sondern an anderen Gesichtspunkten orientieren (vgl Urteil des Senats vom 31. März 1981, SozR 2200 § 1246 Nr 79 mwN). Dieser Rechtsprechung hat sich der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) angeschlossen (Urteil vom 9. Dezember 1981 - 1 RJ 34/80 -). Er hat sie dahingehend fortgeführt, daß sich auch für die Einordnung einer Verweisungstätigkeit bei der analytischen Arbeitsbewertung aus dem insofern maßgebenden Tarifvertrag brauchbare Anhaltspunkte gewinnen lassen.
Das LSG ist von einem "bisherigen Beruf" des Klägers als Facharbeiter ausgegangen. Nicht erkennbar erwogen hat es, ob der Kläger ein "besonders hoch qualifizierter Facharbeiter" im Sinne der Rechtsprechung des BSG war. Das ist dann zu bejahen, wenn er wesentlich höherwertigere Arbeiten ausgeführt hat, als sie die zur Gruppe der Facharbeiter zählenden Arbeitskollegen verrichten und wenn er diese aufgrund besonderer geistiger und persönlicher Anforderungen an die Qualität seiner Berufstätigkeit deutlich überragt hat (vgl Urteil des Senats vom 20. Februar 1980 in SozR 2600 § 46 Nr 5 mwN). Die Rechtsprechung des BSG rechnet die "besonders hoch qualifizierten Facharbeiter" zur Gruppe der "Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion", deren Angehörige grundsätzlich nur auf Tätigkeiten eines Facharbeiters oder tariflich entsprechend eingestufte Tätigkeiten verwiesen werden können (vgl Urteil vom 20. Februar 1980 aaO mwN).
Ebenso wie der "Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion" muß sich der "besonders hoch qualifizierte Facharbeiter" als Kriterium für die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe in der Spitzengruppe der Lohnskala befunden haben. Der Kläger ist nach der Lohngruppe 11, der höchsten Lohngruppe der SAB, entlohnt worden. Schon diese Tatsache hätte dem LSG Veranlassung geben müssen, zu prüfen, ob er oberhalb des Facharbeiters einzustufen ist. Die vom LSG vorgenommene Verweisung auf die Tätigkeit des Bürohilfsarbeiters scheidet jedenfalls bei einem "besonders hoch qualifizierten Facharbeiter" aus; denn nach der Bewertung des Berufungsgerichts entspricht sie höchstens den qualitativen Anforderungen einer Anlerntätigkeit.
Eine abschließende Entscheidung in der Sache ist dem Senat auch dann nicht möglich, wenn er von einem "bisherigen Beruf" des Klägers als Facharbeiter ausgeht und den mit der Revision vorgebrachten Bedenken gegen eine Verweisung des Klägers auf den Bürohilfsarbeiter folgt. Bei einer solchen Ausgangslage würden gleichwohl Feststellungen darüber fehlen, ob der Kläger nicht noch in der Lage ist, andere zumutbare Tätigkeiten zu verrichten, die den qualitativen Anforderungen eines sonstigen Ausbildungsberufs entsprechen.
Zu Recht ist das LSG davon ausgegangen, daß die dem Kläger als Lohnsicherung vom Arbeitgeber gezahlte Differenz zwischen den innerbetrieblichen Lohngruppen 06 und 11 einen Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit nicht ausschließt. Entscheidend für die berufliche Stellung des Versicherten sowohl hinsichtlich des "bisherigen Berufs" als auch bezüglich der Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO ist der qualitative Wert dieser Tätigkeit (so Urteile des Senats vom 28. November 1980 und 27. Januar 1981 in SozR 2200 § 1246 Nrn 71 und 77 jeweils mwN). Für diese qualitative Beurteilung ist der tatsächlich gezahlte Lohn nicht immer ausschlaggebend (vgl auch BSG-Urteil vom 28. Januar 1982 - 5a RKn 2/81 -). Davon ausgehend hat der erkennende Senat im Urteil vom 11. September 1979 (BSGE 49, 34, 36, 37 = SozR 2200 § 1246 Nr 49) unter Fortführung seiner Entscheidung vom 11. Juli 1972 (SozR Nr 103 zu § 1246 RVO) die Auffassung vertreten, daß - ungeachtet etwaiger sozialpolitischer Bedenken - allein die lohnmäßige Gleichstellung des Versicherten mit den Angehörigen seiner bisherigen - höheren - Berufsgruppe die Zumutbarkeit einer - qualitativ minderwertigen - Tätigkeit gemäß § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO nicht begründen kann. Der 1. Senat des BSG hat sich dieser Rechtsprechung durch Urteil vom 12. November 1980 (SozR 2200 § 1246 Nr 69) auch für den Fall angeschlossen, daß ein Versicherter mit dem Berufsschutz des Facharbeiters auf den Lohnausgleich wegen langjähriger Betriebszugehörigkeit und fortgeschrittenem Alter aufgrund tarifvertraglicher Regelung einen Rechtsanspruch hat, weil ungeachtet dessen der gewährte Unterschiedsbetrag für die qualitative Bewertung der nunmehr ausgeübten Tätigkeit unerheblich ist.
Der erkennende Senat schließt sich dieser - seine eigene Rechtsprechung fortführenden - Entscheidung des 1. Senats an, weil im vorliegenden Fall die Verdienstsicherung des Klägers ebenfalls auf einem tarifvertraglichen Rechtsanspruch beruhen kann. Insoweit bestimmt § 13 Nr 6 a des Manteltarifvertrages für die Arbeitnehmer in der Eisen-, Metall-, Elektro- und Zentralheizungsindustrie Nordrhein-Westfalens vom 23. Januar 1975 (MTV), daß Arbeitnehmer frühestens nach der Vollendung des 53. Lebensjahres mit einer Betriebszugehörigkeit von 12 Jahren einen Anspruch auf Verdienstsicherung haben, wenn sie wegen gesundheitsbedingter ständiger Minderung ihrer Leistungsfähigkeit auf ihrem bisherigen Arbeitsplatz nicht mehr eingesetzt werden können und deshalb auf einem geringer bezahlten Arbeitsplatz beschäftigt werden. Nach § 13 Nr 6 d MTV wird der Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit, zu dessen Geltendmachung der Arbeitnehmer verpflichtet ist, auf die Verdienstsicherung angerechnet. Da nicht alle Versicherten mit dem gleichen bisherigen Beruf des Facharbeiters und den gleichen Leistungseinschränkungen die genannten tarifvertraglichen Voraussetzungen für die Verdienstsicherung erfüllen, kann die Beurteilung der gemäß § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO maßgeblichen Zumutbarkeit des innerbetrieblichen Arbeitsplatzwechsels nicht davon abhängig sein, ob den Versicherten der tarifvertragliche Lohnausgleichsanspruch zusteht oder nicht. Anderenfalls wäre eine sachlich nicht begründbare, unterschiedliche Behandlung von Versicherten mit versicherungsrechtlich gleichem Berufsschutz unvermeidbar. Sie würde in vielen Fällen dazu führen, daß diejenigen Versicherten, bei denen die besonderen Voraussetzungen der tarifvertraglichen Verdienstsicherung - noch - nicht vorliegen, neben dem der objektiven Qualität der neuen Tätigkeit entsprechenden Lohn die Berufsunfähigkeitsrente erhalten würden, während sie den Versicherten mit dem Rechtsanspruch auf den Lohnausgleich zu versagen wäre. Dies würde in der Regel eine wirtschaftliche Besserstellung gerade derjenigen Versicherten bedeuten, die diesen tarifvertraglichen Anspruch noch nicht haben. Andererseits wäre der Versicherungsträger schon im Hinblick auf die tarifvertragliche Anrechnung der Rentenansprüche auf die Verdienstsicherungszahlungen an einer Rentenentziehung gehindert, wenn der Versicherte die im Tarifvertrag bestimmten persönlichen Voraussetzungen für den Lohnausgleich erst nach der Gewährung der Berufsunfähigkeitsrente erfüllt hat. Aus diesen versicherungsrechtlich nicht begründbaren, unterschiedlichen Folgen erhellt, daß auch der tarifvertraglich abgesicherte Lohnausgleich kein taugliches Kriterium für die Beurteilung der Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO ist. Vielmehr kann auch für Versicherte mit einem derartigen Rechtsanspruch hierfür nur entscheidend sein, wie die der Leistungsfähigkeit des Versicherten noch entsprechende Tätigkeit nach ihren objektiven Qualitätsmerkmalen zu bewerten ist.
Mit der vorliegenden Entscheidung weicht der erkennende Senat nicht vom Urteil des 4. Senats des BSG vom 19. März 1980 (SozR 2200 § 1246 Nr 60) ab, in dem die Berufsunfähigkeit eines Facharbeiters aufgrund einer tariflichen Sicherung des früheren Facharbeiterlohnes verneint worden ist. Jener Entscheidung lag schon deswegen ein abweichender Sachverhalt zugrunde, weil dort die neue Tätigkeit des Versicherten um 3 Lohngruppen innerhalb eines 10 Gruppen umfassenden Lohnschlüsselsystems niedriger als seine bisherige Facharbeitertätigkeit und in eine Lohngruppe eingestuft war, die Arbeiten umfaßt, welche ein Anlernen von 3 Monaten erfordern. Im vorliegenden Fall liegt dagegen die jetzige Tätigkeit des Klägers als Bürohilfsarbeiter qualitätsmäßig um 5 Lohngruppen niedriger als die bisherige, in die höchste Lohngruppe 11 eingestufte Tätigkeit und erfordert lediglich eine Anlernzeit von 4 Wochen. Vergleichbare Unterschiede im Sachverhalt hat bereits der 1. Senat in seinem Urteil vom 12. November 1980 aaO für ausreichend angesehen, um eine Abweichung vom genannten Urteil des 4. Senats zu verneinen. Außerdem ist im Falle des Klägers - wie bereits dargelegt - noch zu prüfen, ob von einer bisherigen Berufstätigkeit als "besonders hoch qualifizierter Facharbeiter" auszugehen ist. Insoweit unterscheiden sich die vom 4. und vom erkennenden Senat entschiedenen Sachverhalte ebenfalls. Hinzu kommt, daß der Kläger bei Beginn seiner jetzigen Tätigkeit als Bürohilfsarbeiter (Mai 1976) und auch im Zeitpunkt der Rentenantragstellung (August 1976) die tarifvertragliche Voraussetzung der Vollendung des 53. Lebensjahres noch nicht erfüllt hatte, er somit damals noch keinen tarifvertraglichen Rechtsanspruch auf eine Verdienstsicherung hatte, die im übrigen hier bis einschließlich März 1977 nur 90 vH des bisherigen Durchschnittsverdienstes betrug (§ 13 Nr 6 b MTV).
Das LSG wird nach alledem die erforderlichen Feststellungen darüber zu treffen haben, ob der Kläger zur Gruppe der "besonders hoch qualifizierten Facharbeiter" gehört. Sollte das nicht der Fall sein, so wird das LSG erwägen müssen, ob es sich bei der Tätigkeit des Bürohilfsarbeiters um eine solche handelt, die nach ihrer qualitativen Wertigkeit auf der Stufe des sonstigen Ausbildungsberufs steht (vgl Urteil des Senats in SozR 2200 § 1246 Nr 71). Verneinendenfalls bedarf es der Prüfung, ob für den Kläger noch andere zumutbare Verweisungstätigkeiten in Betracht kommen.
Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen