Leitsatz (redaktionell)

Voraussetzungen der Förderung der beruflichen Fortbildung, hier: Praktikum.

 

Normenkette

AFG § 41 Abs. 1 Fassung: 1969-06-25

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 9. August 1974 und des Sozialgerichts Kiel vom 22. November 1973 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Förderung ihrer Fortbildung vom Beruf der Wäschenäherin zur Bekleidungsdirektrice.

Die 1947 geborene Klägerin verließ die Volksschule in der 7. Klasse ohne Abschluß. Von 1962 bis 1965 durchlief sie eine Berufsausbildung als Wäschenäherin und bestand im März 1965 die Facharbeiterprüfung im praktischen Teil mit "sehr gut", im theoretischen Teil mit "ausreichend". Bis 1971 war sie bei ihrer Lehrfirma tätig, und zwar zuletzt als Assistentin in der Musterabteilung. Nach mehrmonatiger Tätigkeit bei einer weiteren Textilfirma besuchte sie vom 1. März 1972 bis 1. März 1974 einen Lehrgang an der Fachschule für Textilwesen und Chemie in N und bestand die Abschlußprüfung als "Bekleidungsdirektrice".

Voraussetzung für die Aufnahme in den Lehrgang war nach den Aufnahmebedingungen der Schule die Gehilfen- oder Facharbeiterprüfung in einem Bekleidungsberuf. Neben dem Nachweis einer Lehrlingsausbildung oder eines entsprechenden Praktikums wurde außerdem eine ein- bis zweijährige Tätigkeit in der einschlägigen Industrie verlangt.

Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin auf Förderung der Teilnahme an diesem Lehrgang mit der Begründung ab, der Klägerin fehle die für das angestrebte Ausbildungsziel notwendige theoretische Begabung (Bescheid vom 23. Februar 1972; Widerspruchsbescheid vom 18. Juli 1972).

Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 22. November 1973 die Beklagte verurteilt, der Klägerin einen Bescheid zu erteilen, nach welchem ihr Förderung der Ausbildung an der Fachschule für Textilwesen und Chemie in N zur Bekleidungsdirektrice zu gewähren sei.

Mit Urteil vom 9. August 1974 hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Es hat ausgeführt:

Die Ausbildung an der Textilfachschule sei für die Klägerin Fortbildung gewesen. Die durch § 41 Abs. 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) vorgeschriebenen Zugangsvoraussetzungen seien von der Schule gefordert worden. Für die Aufnahme in den Lehrgang zur Ausbildung als Bekleidungsdirektrice sei grundsätzlich die Gehilfen- oder Facharbeiterprüfung in einem Bekleidungsberuf notwendig gewesen. Neben dem Nachweis einer Lehrlingsausbildung oder eines entsprechenden Praktikums werde außerdem von der Schule eine ein- bis zweijährige Tätigkeit in der einschlägigen Industrie verlangt.

Eine andere Beurteilung ergebe sich nicht, wenn die von der Beklagten in der praktischen Handhabung der Zulassungsvoraussetzungen ermittelten Abweichungen der Schulleitungen berücksichtigt würden. Nach den Ermittlungen der Beklagten seien in 40 % aller Fälle, bezogen auf den von der Klägerin besuchten Lehrgang, die schriftlich niedergelegten Zugangsvoraussetzungen nicht eingehalten worden. Als "krassesten Fall" bezeichne die Beklagte die Zulassung einer Lehrgangsteilnehmerin, die nach abgeschlossener Mittelschule nur ein 1 1/2 jähriges Praktikum habe vorweisen können. Daß die Schulleitung sich nicht an die schriftlich niedergelegten Zulassungsvoraussetzungen gehalten, sondern hiervon in offenbar größerem Umfange Ausnahmen zugelassen habe, sei unschädlich, solange sie damit nicht hinter die Bedingungen zurückgegangen sei, die das Gesetz als Voraussetzung für den Begriff einer Fortbildungsmaßnahme aufstelle. Die im Gesetz geforderten Voraussetzungen seien aber auch in dem von der Beklagten ermittelten "krassesten Fall" gegeben. Denn das Gesetz verlange - im Gegensatz zu den schriftlichen Anforderungen der Textilfachschule - alternativ entweder eine abgeschlossene Berufsausbildung oder eine angemessene Berufserfahrung. Dieses Praktikum sei als "angemessene Berufserfahrung" i. S. des Gesetzes zu werten. Die angemessene Berufserfahrung solle nach der Vorstellung des Gesetzgebers der abgeschlossenen Berufsausbildung annähernd gleichwertig sein. Diese Gleichwertigkeit liege im Falle der Mittelschülerin vor. Um einen Vergleichsmaßstab zu gewinnen, sei nach der Dauer der möglicherweise entsprechenden "abgeschlossenen Berufsausbildung" zu fragen. Als Berufsausbildung in diesem Sinne komme nicht nur eine mehrjährige Lehre in Betracht. Vielmehr sei der staatlich anerkannte Ausbildungsberuf des Bekleidungsnähers - mit in sich geschlossener Ausbildung und nachfolgender Abschlußprüfung - bereits nach einem Jahr zu erreichen (§§ 1, 2, 9 der Verordnung über die Berufsausbildung in der Bekleidungsindustrie vom 25. Mai 1971 - BGBl I 703 ff). Dieser Ausbildungsberuf sei auch als Berufsausbildung i. S. der §§ 40 AFG, 2 Anordnung des Verwaltungsrates der Bundesanstalt über die individuelle Förderung der beruflichen Ausbildung - A-Ausbildung - vom 31. Oktober 1969 anerkannt (Anlage 3 zu den Durchführungsanweisungen zur A-Ausbildung). Da demnach bereits nach einem Jahr eine abgeschlossene Berufsausbildung vorliege, müsse auch auf diesem Stand der Berufsausbildung eine Fortbildung i. S. des § 41 Abs. 1 AFG möglich sein. Demzufolge müsse ein Berufspraktikum, das die Dauer dieser Berufsausbildung zum Bekleidungsnäher noch um ein halbes Jahr übersteige, als angemessenes Äquivalent zur Berufsausbildung i. S. des § 41 Abs. 1 AFG angesehen werden.

Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte einen Verstoß gegen § 41 Abs. 1 AFG und bringt hierzu insbesondere vor:

Bei der Maßnahme, an der die Klägerin teilgenommen habe, handele es sich nicht um eine zu fördernde Fortbildungsmaßnahme. Das LSG verkenne den grundsätzlichen Unterschied zwischen Berufserfahrung und Praktikum. Das Praktikum erfülle die Voraussetzungen einer angemessenen Berufspraxis schon deshalb nicht, weil es nach Dauer und Inhalt allein dazu bestimmt sei, nur einen allgemeinen Überblick in einen Berufszweig zu vermitteln oder theoretische Berufskenntnisse zu ergänzen bzw. auf nachfolgende theoretische Ausbildungsmaßnahmen vorzubereiten. Daß der Maßnahmeträger hier Teilnehmer in den Lehrgang aufgenommen habe, die keine abgeschlossene Ausbildung oder angemessene Berufspraxis nachweisen konnten, nehme der Maßnahme insgesamt den Charakter einer förderungsfähigen Maßnahme der beruflichen Fortbildung.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil und das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 22. November 1973 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin ist in der Revisionsinstanz nicht durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Förderung ihrer Teilnahme an dem Lehrgang der Fachschule für Textilwesen und Chemie in N, der mit dem Abschluß der "Bekleidungsdirektrice" endete.

Zutreffend hat das LSG die Teilnahme der Klägerin an dem Kurs als Fortbildung angesehen. Berufliche Fortbildung i. S. des § 41 AFG ist die Teilnahme an Maßnahmen, die das Ziel haben, berufliche Kenntnisse festzustellen, zu erhalten, zu erweitern oder der technischen Entwicklung anzupassen oder einen beruflichen Aufstieg zu ermöglichen. Die Klägerin hat mit dem Besuch der Textilfachschule den Zweck verfolgt, ihre Kenntnisse zu erweitern. Förderungsfähig ist gemäß § 41 Abs. 1 AFG die Fortbildung nur dann, wenn die Maßnahme, an der der Bildungswillige teilnimmt, eine abgeschlossene Berufsausbildung oder eine angemessene Berufserfahrung voraussetzt, wenn der Unterricht also den Charakter einer Fortbildungsmaßnahme hat. Es genügt nicht, daß Berufsausbildung oder gewonnene Berufserfahrung für die Teilnahme vorteilhaft sind (BSGE 36, 48). Für die "Teilnahme an der Maßnahme" muß die abgeschlossene Berufsausbildung oder angemessene Berufserfahrung institutionell gefordert werden (BSG SozR 4100 § 41 Nrn. 1, 21). Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall jedoch nicht gegeben. Wie das LSG unangegriffen festgestellt hat, war für die Aufnahme in den Lehrgang die Gehilfen- oder Facharbeiterprüfung in einem Bekleidungsberuf notwendig.

Neben dem Nachweis einer Lehrlingsausbildung oder eines entsprechenden Praktikums war anschließend eine ein- bis zweijährige Tätigkeit in der einschlägigen Industrie erforderlich. Zu unterscheiden sind demnach drei Gruppen von Schülern, die zu dem Lehrgang "Bekleidungsdirektrice" zugelassen werden konnten: Solche mit einer Gehilfen- oder Facharbeiterprüfung in einem Bekleidungsberuf, andere, die eine Lehrlingsausbildung hatten und danach ein bis zwei Jahre in der einschlägigen Industrie tätig waren und weitere, die ein "entsprechendes" Praktikum mit einer ein- bis zweijährigen Tätigkeit in der einschlägigen Industrie aufzuweisen hatten.

Die erste Gruppe erfüllt die Voraussetzungen des § 41 Abs. 1 AFG. Wer die Gehilfen- oder Facharbeiterprüfung nachweisen kann, hat eine abgeschlossene Berufsausbildung bzw. angemessene Berufserfahrung im Sinne dieser Vorschrift. Bei der zweiten und dritten Gruppe kann von einer abgeschlossenen Berufsausbildung als Zugangsvoraussetzung nicht gesprochen werden. Der Nachweis einer Lehrlings-"Ausbildung" bedeutet nicht, daß der Betreffende seine Lehre abgeschlossen hat, sei es durch eine Prüfung, sei es - sofern das möglich sein sollte - auf andere Weise.

Auch das Praktikum führt nicht zu einer Berufsausbildung. Es ist nicht einmal in der Lage, die einer abgeschlossenen Berufsausbildung etwa gleichwertige angemessene Berufserfahrung zu vermitteln. Es soll dem Praktikanten nur einen gewissen Überblick über die Aufgaben und praktischen Erfordernisse eines Berufs oder Berufszweiges verschaffen. Der Praktikant soll, worauf der Ausdruck "Praktikum" schon hindeutet, gewisse praktische Erfahrungen sammeln, nicht jedoch zu einer so umfassenden - angemessenen - Berufserfahrung gelangen, daß diese Erfahrungen den Kenntnissen und Fertigkeiten einer abgeschlossenen Berufsausbildung entsprechen (vgl. BSG SozR 4100 AFG § 41 Nr. 11). Die Kenntnisse und Fertigkeiten eines Praktikanten nach Beendigung seines Praktikums sollen vielmehr nur dazu dienen, daß er bei einer späteren Bildungsmaßnahme ein gewisses Verständnis für die ihm dabei vermittelten theoretischen Grundlagen seines späteren Berufes hat.

Ob ein bloßes Praktikum oder eine nicht abgeschlossene Lehrlingsausbildung zusammen mit einer ein- bis zweijährigen Tätigkeit in der einschlägigen Industrie einer "angemessenen Berufserfahrung" i. S. des § 41 Abs. 1 AFG entspricht, kann hier dahingestellt bleiben. Wie das LSG festgestellt hat, waren nach den Ermittlungen der Beklagten in 40 % aller Fälle, bezogen auf den von der Klägerin besuchten Lehrgang, die schriftlich niedergelegten Zugangsvoraussetzungen nicht eingehalten worden.

Ebenso kann dahinstehen, ob allein der von der Beklagten als "krassester Fall" bezeichnete Vorgang dazu führt, daß die Zugangsvoraussetzungen des § 41 Abs. 1 AFG nicht mehr als gegeben angesehen werden können. Die Zugangsvoraussetzungen des § 41 Abs. 1 AFG lagen nämlich dann nicht mehr vor, wenn die Fachschule für Textilwesen und Chemie bei den Bekleidungsdirektricen noch in 40 % aller Fälle hinter den schriftlich verlangten Voraussetzungen blieb. Die von der Fachschule geforderten Zugangsvoraussetzungen für die Aufnahme liegen nämlich - soweit sie überhaupt noch § 41 Abs. 1 AFG entsprechen sollten - auf jeden Fall an der unteren Grenze des Zulässigen, so daß ein Abweichen von den schriftlich festgelegten Zulassungsvoraussetzungen nicht mehr zur Erfüllung der in § 41 Abs. 1 AFG geforderten Zugangsbedingungen führen konnte.

Wie der Senat bereits ausgesprochen hat, verliert eine Maßnahme ihren Fortbildungscharakter dann, wenn in nennenswertem Umfang auch Teilnehmer mit geringeren Anforderungen oder gar ohne berufliche Kenntnisse vom Maßnahmeträger zugelassen werden (BSG SozR 4100 § 41 AFG Nr. 21). Die Zugangsbedingungen des § 41 Abs. 1 AFG sind als Ausprägung des das AFG beherrschenden Prinzips anzusehen, die Förderungspflicht der Beklagten auf möglichst zweckmäßige Maßnahmen zu beschränken. Mindestgarantie für eine zeitlich und inhaltlich zweckmäßige Ausgestaltung einer Fortbildungsmaßnahme ist eine relativ gleichwertige berufliche Ausgangsposition der Teilnehmer. Läßt der Maßnahmeträger aber in nennenswertem Umfange auch Teilnehmer mit geringeren Anforderungen oder gar ohne berufliche Kenntnisse zu, so wird die Maßnahme mit hoher Wahrscheinlichkeit entweder einen Teil der Teilnehmer qualitativ über- oder unterfordern oder ihr kommt überhaupt mehr allgemeinbildender als berufsbildender Charakter zu.

Die Zugangsbedingungen erfüllen insofern eine Filterfunktion in dem Sinne, daß vom Gesetzgeber als unzweckmäßig angesehene Investitionen oder gar Fehlinvestitionen schon im Ansatz vermieden werden. Bei 40 % Abweichungen von den Zugangsvoraussetzungen ist aber auf jeden Fall dieser Zweck der Zugangsvoraussetzungen vereitelt, so daß die Maßnahme den Charakter einer Fortbildungsmaßnahme i. S. des § 41 Abs. 1 AFG eingebüßt hat.

Da somit die Voraussetzungen des § 41 Abs. 1 AFG bei dem bezeichneten Lehrgang nicht vorliegen, hat die Klägerin keinen Anspruch auf Förderung. Auf die Revision sind die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1650505

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