Entscheidungsstichwort (Thema)
Rentenentziehung
Orientierungssatz
Ein Rentenentziehungsbescheid ist rechtswidrig, wenn der Umstand der Arbeitsaufnahme nicht ursächlich für einen etwaigen Wegfall der Berufsunfähigkeit gewesen sein kann.
Normenkette
RVO § 1286 Abs 1 S 1 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 09.11.1978; Aktenzeichen V JBf 103/78) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 11.05.1978; Aktenzeichen 17 J 636/77) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Entziehung einer Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit.
Der im Jahre 1921 geborene Kläger hat den Beruf eines Kupferschmiedes erlernt und nach der Gesellenprüfung im Jahre 1939 bei den H-Werken in H mit kriegsbedingten Unterbrechungen bis 1974 ausgeübt. Auf seinen Antrag vom Mai 1974 gewährte die Beklagte dem Kläger Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit vom 23. November 1974 bis 30. April 1976 (Bescheide vom 5. Dezember 1974, vom 6. Mai 1975 und vom 6. August 1975). In einer Nachuntersuchung vom 29. Januar 1976 wurde festgestellt, daß der Kläger in seinem erlernten Beruf keine vollwertige Arbeit mehr leisten könne, jedoch noch in der Lage sei, leichte Arbeiten überwiegend im Sitzen oder im Wechsel vom Sitzen, Stehen und Gehen vollschichtig zu verrichten. Hierauf bewilligte die Beklagte dem Kläger Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. Mai 1976 (Bescheid vom 28. April 1976). Sie ging vom Eintritt des Versicherungsfalles am 24. Mai 1975 aus.
Seit Oktober 1976 arbeitet der Kläger bei seinem früheren Arbeitgeber als Bereitstellungswerker. Hierbei ist er mit der Annahme, der Lagerung und der Ausgabe von Materialien betraut. Diese Arbeit setzt nach den Auskünften des Arbeitgebers keine Ausbildung und keine besonderen Fertigkeiten voraus; sie verlangt Material- und Warenkenntnisse. Bei Vorhandensein dieser Kenntnisse erfordert die Ausübung dieser Tätigkeit nur eine kurze Einarbeitung. Aufgrund der ärztlichen Nachuntersuchung vom 15. März 1977 ist eine Befundänderung nicht eingetreten, die derzeit ausgeübte Tätigkeit jedoch vollschichtig zumutbar. Durch Bescheid vom 11. Mai 1977 entzog die Beklagte dem Kläger die gewährte Berufsunfähigkeitsrente mit der Begründung, er sei als Kupferschmied auf seine derzeitige Tätigkeit zu verweisen.
Die hiergegen erhobene Klage hatte in den Vorinstanzen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts -SG- Hamburg vom 11. Mai 1978, Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Hamburg vom 9. November 1978). Zur Begründung führt das LSG im wesentlichen aus, die in § 1286 Reichsversicherungsordnung (RVO) geforderte wesentliche Änderung in den Verhältnissen des Klägers sei nicht eingetreten, weil dieser keine neuen Kenntnisse und Fähigkeiten erworben habe und in seinem Gesundheitszustand auch keine Änderung eingetreten sei. Die Aufnahme einer zumutbaren Erwerbstätigkeit bedinge nur dann eine wesentliche Änderung der Verhältnisse, wenn das Fehlen eines zumutbaren Arbeitsplatzes für die Bewilligung der Rente ursächlich gewesen sei. Diese Ursache sei hier nicht feststellbar.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision trägt die Beklagte vor, eine nach Rentenbewilligung aufgenommene Tätigkeit sei jedenfalls dann rechtserheblich, wenn der Umstand, daß für den Versicherten kein zumutbarer Arbeitsplatz vorhanden war, für die Bewilligung der Rente wesentlich mitursächlich gewesen sei. Im vorliegenden Falle sei die spätere innerbetriebliche Umsetzung beim früheren Arbeitgeber des Klägers schon bei der Rentenbewilligung ins Auge gefaßt worden und daher wesentlich mitursächlich gewesen. Bei der Bewilligung einer Berufsunfähigkeitsrente müsse nicht immer zwingend die Frage der Verweisbarkeit zu Lasten des Versicherten beantwortet werden. Vielmehr müsse auch die Möglichkeit bestehen, eine Berufsunfähigkeitsrente schon dann zu gewähren, wenn die Aussicht bestehe, daß der Versicherte in absehbarer Zeit einen geeigneten Arbeitsplatz finde. In solchen Fällen müsse aber auch nach Erlangung eines Arbeitsplatzes eine Rentenentziehung möglich sein. Durch die Aufnahme seiner jetzigen Beschäftigung habe der Kläger eine zumutbare Verweisungstätigkeit im Sinne des § 1286 Abs 2 RVO erlangt.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und
die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Die Voraussetzungen des § 1286 RVO sind nicht erfüllt. Die Arbeitsaufnahme als Bereitstellungswerker hat nicht bewirkt, daß der Kläger "nicht mehr berufsunfähig" iSd genannten Vorschrift ist.
Die Rentenentziehung setzt im allgemeinen voraus, daß nach der "Rentengewährung" objektiv eine Änderung der Verhältnisse eingetreten ist (vgl BSG SozR Nr 6, 9 und 14 zu § 1286 RVO). War das Fehlen einer zumutbaren Tätigkeit für die Rentenbewilligung wesentlich mitursächlich, so kann eine Änderung in den Verhältnissen darin liegen, daß der Versicherte nach der Rentenbewilligung eine ihm zumutbare Erwerbstätigkeit aufnimmt (so BSG vom 1978-02-28 - 4 RJ 43/77 - SozR 2200 § 1286 Nr 5). Der Erwerb neuer beruflicher Kenntnisse und Fertigkeiten bewirkt regelmäßig auch eine Änderung der Verhältnisse (BSG Urteil vom 1977-03-23 - 4 RJ 1/76 - SozVers 77, 248).
Die Verhältnisse haben sich insofern nicht geändert, als die vom Kläger jetzt ausgeübte Tätigkeit als Bereitstellungswerker bereits im Zeitpunkt der Rentenbewilligung vorhanden war und nicht erst danach neu eingerichtet worden ist. Sofern diese Tätigkeit zumutbar iSd § 1246 Abs 2 RVO ist, konnte der Kläger bereits vor der Rentenbewilligung darauf verwiesen werden mit der Folge, daß keine Berufsunfähigkeit bestand und eine Rente nicht zu gewähren war. Eine infolge falscher Subsumtion zu Unrecht gewährte Rente kann aber dann wegen einer Änderung der Verhältnisse entzogen werden, wenn der Versicherte später neue Kenntnisse und Fertigkeiten erworben hat (vgl BSG vom 1973-03-28 - 5 RKn 37/71, BSGE 35, 277 = SozR Nr 21 zu § 1286 RVO). Dies war hier nicht der Fall. Nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des LSG bedurfte es für die Arbeitsaufnahme nicht des Erwerbs neuer Kenntnisse und Fähigkeiten; vielmehr genügte eine kurze Einweisung am neuen Arbeitsplatz. Die für die Arbeit erforderliche berufliche Qualifikation war beim Kläger bereits vorhanden. Das Fehlen einer zumutbaren Tätigkeit war für die Rentenbewilligung auch nicht wesentlich mitursächlich. Zumindest hätte die Beklagte die Rente zu Unrecht gewährt, wenn sie die Gewährung auf die Arbeitslosigkeit des Klägers gestützt hätte, weil die Nichtausübung einer Tätigkeit für sich allein betrachtet keine Berufsunfähigkeit bedingt. Dies hätte allenfalls dann der Fall sein können, wenn die Beklagte aufgrund der Erwerbslosigkeit des Klägers und der vorliegenden ärztlichen Gutachten konkret geprüft hätte, welche Verweisungstätigkeiten im einzelnen für den Kläger noch in Betracht gekommen wären, wenn die Beklagte maW den von der Rechtsprechung (vgl insbesondere Urteil des BSG vom 1979-06-28 - 4 RJ 70/78 - SozR 2200 § 1246 Nr 45 = SGb 80, (Heft 2) S 68 m Anm v Scheerer) aufgestellten Grundsätzen für die Feststellung von Verweisungstätigkeiten nachgekommen wäre. In einem solchen Fall kann es zur Rentengewährung kommen, weil trotz intensiver Sachaufklärung zumutbare Verweisungstätigkeiten nicht erkennbar werden, obwohl eine solche Tätigkeit tatsächlich existiert und vom Versicherten auch später ausgeübt wird. Hier hätte die Berufsunfähigkeit objektiv nicht vorgelegen. Dennoch könnte in Anlehnung an BSGE 35, 277, 279 daran gedacht werden, im Hinblick auf § 1286 RVO das Vorliegen von Berufsunfähigkeit zu unterstellen, indem man dann, wenn der Versicherungsträger trotz sorgfältiger Ermittlungen eine geeignete Verweisungstätigkeit nicht feststellt, vom Nichtvorhandensein einer solchen Tätigkeit ausgeht. In einem solchen Fall stellt sich die Frage, ob der Versicherte durch die Aufnahme einer zumutbaren Tätigkeit die Feststellung ihres Vorhandenseins ermöglichen und auf diese Weise eine Änderung in den Verhältnissen iSd § 1286 RVO herbeiführen kann. Indessen braucht diese Frage im vorliegenden Fall nicht beantwortet zu werden.
Konkrete Prüfungen und Feststellungen über das Vorhandensein geeigneter Verweisungstätigkeiten hat die Beklagte hier ersichtlich nicht angestellt. Sie ist bei der Rentengewährung allenfalls davon ausgegangen, daß die Möglichkeit einer späteren Beschäftigung beim früheren Arbeitgeber des Klägers bestand. Dies setzt aber notwendig voraus, daß geeignete Arbeitsplätze vorhanden waren. Dies hätte aber der Berufsunfähigkeit entgegengestanden. Derartige Feststellungen zur beruflichen Einsatzfähigkeit des Klägers hat die Beklagte ersichtlich nicht getroffen.
Nach alledem ist eine Änderung der Verhältnisse iSd § 1286 RVO objektiv nicht eingetreten. Die Revision der Beklagten war zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen