Leitsatz (amtlich)
Die Rechtsfolge, daß für die Berechnung der Witwenrente nach RVO § 1268 Abs 1 die in eine Versichertenrente einbezogene Zurechnungszeit (Ausfallzeit nach RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 5) nicht zu berücksichtigen ist, tritt auch ein, wenn der Beginn der Witwenrente sich nicht unmittelbar an das Ende der Versichertenrente anschließt (Ergänzung zu BSG 1971-12-01 12 RJ 96/70 = SozR Nr 21 zu § 1268 RVO und 1973-01-24 4 RJ 367/71 = SozR Nr 23 zu § 1268 RVO).
Normenkette
RVO § 1268 Abs. 1, § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 5
Tenor
Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 20. Dezember 1972 und das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 24. März 1971 werden aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Es geht darum, ob Zeiten, in denen der Versicherte vor Vollendung des 55. Lebensjahres die Invalidenrente bezog, in die Berechnung der sogenannten kleinen Witwenrente (§ 1268 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) als Ausfallzeiten (§ 1259 Abs. 1 Satz 1 Nrn 5 oder 6 RVO) eingehen.
Die Klägerin - zur Zeit der Rentenbewilligung 43 Jahre alt - bezieht seit November 1969 die Witwenrente gemäß § 1268 Abs. 1 RVO. Sie beanstandet die Höhe dieser Rente. Bei Rentenberechnung sei außer acht geblieben, daß ihr - im November 1969 verstorbener - Ehemann vom 5. Februar 1954 bis April 1959 die - zum 1. Januar 1957 umgestellte - Invalidenrente bezogen habe, ferner daß in dieser Rente eine Zurechnungszeit mit angerechnet gewesen sei und schließlich, daß ihr Mann Beiträge erst wieder vom 1. Januar 1957 an habe entrichten können.
Der Klage haben Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) stattgegeben und die Beklagte verpflichtet, für die Witwenrente der Klägerin die Rentenbezugszeit vom 1. Februar 1954 bis 31. Dezember 1956 (bis zum Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG -) als Ausfallzeit zu berücksichtigen. Das Berufungsgericht stützt sich für seine Entscheidung auf die seines Erachtens "lückenlose Gesamtregelung der Vorschriften des § 1259 Abs. 1 Nr 5 und Nr 6 RVO". Allerdings unterbinde § 1268 Abs. 1 RVO für die Berechnung der Witwenrente den Ansatz einer Zurechnungszeit. Im Streitfalle richte sich das Begehren der Klägerin jedoch nicht darauf, daß eine Zurechnungszeit gutgebracht werde. - Dafür käme eine Zeitspanne in Betracht, an die hier gar nicht gedacht sei, nämlich die Zeit vom Tode des Ehemanns der Klägerin bis zu dem Monat, in dem er, wenn er nicht gestorben wäre, das 55. Lebensjahr beendet haben würde; das wäre im Jahre 1985. - Dagegen wolle die Klägerin eine Ausfallzeit in Rechnung gestellt wissen. Lediglich in die Definition dieser Ausfallzeit sei die Zurechnungszeit eingearbeitet (Nr 5 des § 1259 Abs. 1 Satz 1 RVO). Für Fälle, in denen das Recht aus der Zeit vor der Rentenreform hineinspiele, sehe Nr 6 des § 1259 Abs. 1 RVO vor, daß die Invalidenrente des Versicherten vor dem 1. Januar 1957 weggefallen sein müsse. Darunter lasse sich der vorliegende Sachverhalt bringen; denn mit dem Inkrafttreten des ArVNG sei die umgestellte Rente als Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gewährt worden (Art. 2 § 38 ArVNG). In bezug auf einen Rentenwegfall nach dem 31. Dezember 1956 bezeichne zwar Nr 5 des § 1259 Abs. 1 RVO als Ausfallzeit nur Rentenbezugszeiten, die mit einer angerechneten Zurechnungszeit zusammenfielen. Davon könne bei einem Rentenbezug unter der Herrschaft des früheren Rechts unmittelbar keine Rede sein. Doch müsse bedacht werden, daß in die Faktoren, nach denen zum 1. Januar 1957 frühere Renten umzustellen gewesen seien, die Bestimmungen über die Zurechnungszeit einbezogen worden seien. - Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat das Rechtsmittel eingelegt. Sie beantragt, die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie stimmt der Auffassung des Berufungsgerichts zu, daß die streitige Zeit des Rentenempfangs als Ausfallzeit, und zwar - wie sie meint - im Sinne der Nr 5 des § 1259 Abs. 1 Satz 1 RVO zu deklarieren ist. Für die Unterordnung des Sachverhalts unter diese Vorschrift führt sie die Tatsache an, daß die Rente erst nach dem Inkrafttreten des ArVNG geendet habe. Trotz dieser begrifflichen Einordnung der Rentenbezugszeit sieht sich die Beklagte aber durch § 1268 Abs. 1 RVO gehindert, den Abschnitt von 1954 bis 1956 in die Anzahl anrechnungsfähiger Versicherungsjahre hineinzunehmen. Sie ist der Ansicht, es müsse gleichgültig sein, ob die Rente, um deren Gewährung es gehe, bis zum Tode des Versicherten geleistet worden sei oder ob sie schon vorher aufgehört habe. Rein begrifflich sei wohl im ersten Falle von einer Zurechnungszeit (BSG SozR Nr 23 zu § 1268 RVO) und im anderen Falle von einer Ausfallzeit auszugehen. Aber diese Ausfallzeit bestehe eben aus einer Zurechnungszeit. Rechtlich könnten beide Fälle nicht unterschiedlich gesehen werden.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision der Beklagten hat Erfolg.
Auf die Berechnung der Witwenrente, die der Klägerin gemäß § 1268 Abs. 1 RVO ("kleine" Witwenrente) bewilligt worden ist, wirkt es sich nicht nutzbringend aus, daß der Versicherte vor Vollendung seines 55. Lebensjahres eine Rente bezog. In dieser Rente war allerdings - so ist es von heute aus zu sehen - eine Zurechnungszeit einbezogen (§ 1260 RVO). Eine für die Zurechnungszeit entsprechende Rechnungseinheit war in dem Faktor, nach dem die Rente zum 1. Januar 1957 umzustellen war (Art. 2 § 32 ArVNG), enthalten (BSG 32, 90). Infolgedessen ist die umgestellte Rente als eine solche mit einer "angerechneten Zurechnungszeit" anzusehen. Diese Rente war auch weggefallen, als der Versicherte starb. Damit ist der Tatbestand der Ausfallzeit im Sinne des § 1259 Abs. 1 Satz 1 Nr 5 RVO verwirklicht. Gleichwohl dient diese Zeit nicht zur Erhöhung der kleinen Witwenrente. § 1268 Abs. 1 RVO verhindert dies, weil dort die Berücksichtigung einer Zurechnungszeit ausgeschlossen ist.
Daran ändert nichts, daß die in Betracht kommende Zurechnungszeit, weil sie mit einer Zeit des Rentenbezugs übereinstimmt, in eine Ausfallzeit aufgeht. Das Ergebnis folgt vielmehr aus einem Vergleich mit einem verwandten Sachverhalt und dessen Rechtsfolge. Ähnlich ist der Sachverhalt, daß die Hinterbliebenenrente unmittelbar auf das Ende der Versichertenrente folgt. Hat der Versicherte bis zu seinem Tode ununterbrochen Rente erhalten, so gilt zwar die Zeit des Rentenempfangs vor Erreichen des 56. Lebensjahres als Zurechnungszeit und nicht als Ausfallzeit (BSG 24. 1. 1973 - 4 RJ 367/71 = SozR Nr 23 zu § 1268 RVO). Diese Qualifizierung der Rentenbezugs- und gleichlaufenden Zurechnungszeit ist aber für den gegenwärtigen Zusammenhang weniger wichtig. Unabhängig von begrifflichen Zuordnungen verlangen Sinn und Zweck des § 1268 Abs. 1 RVO seine einheitliche Handhabung. Deshalb ist nicht an dem Resultat vorbeizugehen, daß eine bis zum Tode reichende Rentenbezugs- und Zurechnungszeit - eben wegen der Einschränkung des § 1268 Abs. 1 RVO - sich nicht in der Berechnung der kleinen Witwenrente niederschlägt. Was für den Fall der lückenlosen Aufeinanderfolge von Versichertenrente und Hinterbliebenenrente (dazu auch BSG SozR Nr 21 zu § 1268 RVO) Rechtens ist, muß auch im gegenwärtigen Streitfalle maßgebend sein. Für unterschiedliche Rechtsfolgen der einander gegenübergestellten Fälle fehlt es an einem einleuchtenden Grunde. Die zum Vergleich nebeneinandergehaltenen Tatbestände sind in ihren wesentlichen Bestandteilen deckungsgleich; jedesmal fallen Rentenbezugszeit und angerechnete Zurechnungszeit zusammen. Vor allem ist erheblich, daß die wirtschaftliche Lage der Witwe, um deren Versorgung es geht, nicht allgemein davon beeinflußt wird, daß die frühere Rente entweder erst mit dem Tode des Versicherten aufhörte oder schon vorher erloschen war. Es ergibt sich kein Gesichtspunkt, der den Gesetzgeber zu einer differierenden Normgestaltung veranlaßt haben könnte. Dem Gesetz ließe sich sogar eher ein Hinweis dafür entnehmen, daß nicht der hier interessierende Fall, sondern der Fall des Rentenbezugs bis unmittelbar vor dem Tode des Versicherten bevorzugt behandelt werden soll. Denn gerade die Hinterbliebenenrente, die sich direkt an die Versichertenrente anschließt, soll nicht unter sechs Zehntel des Zahlbetrags der Versichertenrente sinken (§ 1268 Abs. 2 Satz 2 RVO). Diese Regelung betrifft zwar nur die sogenannte große Witwenrente, läßt aber deutlich eine Tendenz des Gesetzes erkennen, welche es verbietet, den Fall der bereits vor dem Tode fortgefallenen Rentenleistung günstiger zu beurteilen.
Gegen die hier gefundene Lösung läßt sich nicht mit Erfolg einwenden, die Formulierung in § 1268 Abs. 1 RVO "ohne Berücksichtigung einer Zurechnungszeit" sei anders zu verstehen; mit dieser Wendung sei daran gedacht, daß die Zurechnungszeit vom Versicherungsfall des Todes bis zum Kalendermonat, in dem das 55. Lebensjahr vollendet worden wäre, bemessen werden könnte; diese Möglichkeit habe vermieden werden sollen. Hätte man § 1268 Abs. 1 RVO nur in diesem Sinne aufzufassen, dann wäre indessen auch im Falle des Rentenbezugs bis zum Tode des Versicherten die rechtliche Auswirkung eine andere. Die Zurechnungszeit, deren Beachtung § 1268 Abs. 1 RVO entgegenwirkt, wäre weder im einen noch im anderen Falle eine "angerechnete" Zurechnungszeit (§ 1259 Abs. 1 Nr 5 RVO); sie hinge nicht mit einer in der Vergangenheit an den Versicherten geleisteten Rente zusammen, sondern wäre das nur gedachte Kriterium einer "fiktiven Versichertenrente", und zwar mit einer nur vorgestellten Bezugszeit nach dem Tode des Versicherten bis zu dem Zeitpunkt, an dem er im Erlebensfalle das 55. Lebensjahr hinter sich gelassen hätte. Damit wäre aber der Tatbestand der Versichertenrente, die tatsächlich mit dem Tode des Versicherten endete, nicht gleichzusetzen. Diese Rente fiele mit einer "angerechneten Zurechnungszeit" zusammen. Für sie stellte sich die Frage, ob sie nicht ebenso mit einer Ausfallzeit in Verbindung zu bringen wäre wie die Rente, deren Auslaufen der Versicherte noch selbst erlebt hat. Freilich müßte der Begriff des "Wegfalls" der Versichertenrente (§ 1259 Abs. 1 Nr 5 RVO) anders als bisher (BSG SozR Nr 21 zu § 1268 RVO) definiert werden. Der Tod des Versicherten müßte als ein Fall des Rentenwegfalls betrachtet werden (§ 1294 RVO). - In dieser Richtung hat der erkennende Senat schon in dem in SozR Nr 23 zu § 1268 RVO veröffentlichten Urteil dem Zweifel Raum gegeben, daß die in der Judikatur bislang vertretene Auslegung des Wegfallbegriffs nicht zwingend erscheine. Andererseits erweisen sich die Argumente für ihre Widerlegung auch nicht als so stichhaltig und durchschlagend, daß der Senat sich von dem Versuch, die hier erörterte Rechtsprechung zu ändern, einen Erfolg versprechen könnte.
Hiernach ist eine Zurechnungszeit auch dann nicht für die Berechnung der kleinen Witwenrente zu verwerten, wenn sie selbst Merkmal einer Ausfallzeit ist. Die Vorentscheidungen, denen nicht zuzustimmen ist, sind aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen