Leitsatz (redaktionell)
1. Zur Frage des Vorliegens eines Arbeitsunfalles, wenn Wohnung und Arbeitsstätte sich im gleichen Hause befinden.
2. Auch wenn sich der Unfall im häuslich unversicherten Bereich ereignet, besteht gemäß RVO § 548 Unfallversicherungsschutz, sofern der Unfall in ursächlichem Zusammenhang mit der Tätigkeit im Unternehmen steht; der Tätigkeit im Unternehmen dient auch die Verwahrung der im Geschäft vereinnahmten Gelder außerhalb der Geschäftsräume an einem für sicherer gehaltenen Ort.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 25. Oktober 1972 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin ist die Witwe des im Jahre 1913 geborenen und am 19. Mai 1969 verstorbenen Gastwirts Walter M. . Sie begehrt Hinterbliebenenentschädigung.
Der Ehemann der Klägerin betrieb eine Gastwirtschaft. Im Erdgeschoß des Hauses befanden sich ausschließlich Betriebsräume. Im ersten Stockwerk lag die Wohnung.
Nachdem in der Nacht vom 17. zum 18. Mai 1969 die letzten Gäste gegen 1.30 Uhr das Lokal verlassen hatten, räumte der Ehemann der Klägerin den Schankraum und Gastraum auf und verschloß die Türen. Zu dieser Zeit befand sich die Klägerin bereits im ersten Stock. Sie vernahm plötzlich in Erdgeschoß ein polterndes Geräusch. Sie eilte hinunter und fand ihren Ehemann mit dem Rücken auf dem Terrazzofußboden und mit den Füßen zum Treppenaufgang liegend vor. Er blutete am Kopf und aus der Nase.
Der Durchgangsarzt Dr. L… der den Ehemann der Klägerin nach der Einlieferung in die Klinik untersuchte, stellte eine Gehirnerschütterung, einen Schädel- und Schädelbasisbruch fest und äußerte den Verdacht, es könne ein Gehirnschlag vorliegen. In einem Zusatz vom 19. Mai 1969 ist vermerkt, die Todesursache sei durch eine Sektion zu klären. Die Untersuchung des Ehemannes der Klägerin durch den Nervenarzt Dr. T… ergab, daß eine Schädelhirnverletzung mit rechtsseitigem Schädelbruch, ein Schädelbasisbruch sowie eine Stammhirnquetschung mit vornehmlich linksseitiger Schädigung vorlagen. Am folgenden Tag starb der Ehemann der Klägerin. Eine Sektion wurde nicht durchgeführt, obwohl die Klägerin hierzu ihr Einverständnis gegeben hatte.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 25. Juli 1969 Entschädigungsleistungen ab, da der Ehemann der Klägerin bereits in häuslichen Bereich verunglückt sei.
Die Klägerin hat Klage erhoben.
Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 29. Juni 1972 die Beklagte verurteilt, der Klägerin Witwenrente, Überbrückungshilfe und Sterbegeld zu gewähren. Es hat zur Begründung ua ausgeführt: Auf Grund der Zeugenaussagen stehe fest, daß der Ehemann der Klägerin beim Sturz eine lederne Geldtasche mitgeführt habe, um sie im Schlafzimmer zum Schutz gegen Diebstahl zu verwahren. Der Weg zum Schlafzimmer habe somit wesentlich sowohl privaten als auch betrieblichen Zwecken gedient. Es sei wegen der trotz der Einwilligung der Klägerin unterlassenen Obduktion zwar nicht auszuschließen, daß ein apoplektischer Insult des Ehemannes der Klägerin zum Sturz geführt habe. Wahrscheinlich sei jedoch auf Grund der neurologischen Untersuchungen durch Dr. T…, daß der Ehemann der Klägerin nicht aus innerer Ursache, sondern aus Unachtsamkeit gestürzt sei.
Das SG hat die Berufung hinsichtlich der Überbrückungshilfe und des Sterbegeldes zugelassen.
Die Beklagte hat Berufung eingelegt.
Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 25. Oktober 1972 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat ua ausgeführt: Der Ehemann der Klägerin habe im Zeitpunkt des Sturzes, auf dem der Tod beruhe, auch nicht deshalb unter Versicherungsschutz gestanden, weil er, wovon nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme durch das SG ausgegangen werden könne, eine Ledertasche mit der Tageseinnahme bei sich trug. Selbst wenn er beabsichtigte, das eingenommene Geld durch Mitnahme in das Schlafzimmer zu sichern, stelle sich dies als bloßer Nebenzweck dar gegenüber der Absicht, schlafen zu gehen.
Des LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt.
Sie trägt vor: Die sichere Verwahrung der Tageseinnahme sei eine wesentliche Tätigkeit eines Gastwirts. Der Weg zum Schlafzimmer habe demnach neben den eigenwirtschaftlichen Interessen auch wesentlich betrieblichen Zwecken gedient.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 25. Oktober 1972 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Hinterbliebenenleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und führt aus, der Ehemann der Klägerin habe die nur wenig gefüllte Brieftasche lediglich gelegentlich seines Zubettgehens mit sich geführt. Es sei zu fragen, ob wesentlich sei, wieviel Barmittel und ggf. auch welcher Art Barmittel, insbesondere auch Schecks, mitgeführt würden. Das Geld, das mitgeführt werde, müsse in einer verständigen Beziehung zum konkreten Tagesumsatz des betreffenden Tages stehen. Es stelle sich auch die Frage, ob Versicherungsschutz bestehe, wenn der Gastwirt vor Schließung seines Betriebes den wesentlichen Teil seiner Geldmittel bereits verwahrt habe und lediglich noch geringfügige restliche Wechselgeldsummen mit in seine Privaträume nehme. Außerdem sei zu fragen, ob allein die subjektive Auffassung des Versicherten genüge, daß das Geld im Schlafzimmer besser und sicherer aufbewahrt sei, oder man es nicht vielmehr objektiv auf die sicherere Verwahrung abstellen solle. Alle diese Probleme seien durch die Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. November 1972 (2 RU 24/71 und 26/71) nicht oder zumindestens nicht eindeutig geklärt.
II
Die zulässige Revision der Klägerin ist insoweit begründet, als das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG trug der Ehemann der Klägerin auf dem beabsichtigten Gang zu seiner Wohnung die Tageseinnahme mit sich. Mit Recht hat das LSG in Übereinstimmung mit dem SG angenommen, daß die Mitnahme der Tageseinnahme in die Privatwohnung, um sie dort diebstahlsicherer zu verwahren, mit der betrieblichen Tätigkeit im Zusammenhang steht. Entgegen der Auffassung der Beklagten bedarf es im vorliegenden Fall schon deshalb keiner Entscheidung, ob es hierfür auf die subjektive Auffassung des Versicherten ankommt, das Geld sei an dem beabsichtigten Verwahrungsort diebstahlsicherer aufbewahrt; denn jedenfalls läßt der vorliegende Sachverhalt keinerlei Anhaltspunkte erkennen, und die Beklagte vermag auch in ihrer Revisionserwiderung ebenfalls keinerlei Umstände dafür aufzuzeigen, daß das Geld im Schlafzimmer des Ehemannes der Klägerin nicht sicherer aufbewahrt gewesen wäre als in den im Erdgeschoß gelegenen Gewerberäumen (s. Wildfeuer, SV 1973, 260, 261). Die Auffassung des LSG, neben der Notwendigkeit, nach Betriebsschluß sich zur erforderlichen Ruhe in die Wohnung begeben zu müssen, trete das Mitnehmen der Tageseinnahme zum Zwecke der diebstahlsicheren Verwahrung völlig in den Hintergrund, wird jedoch, wie der Senat in seinem nach Verkündung der angefochtenen Entscheidung ergangenen Urteil vom 30. November 1972 (2 RU 86/71) entschieden hat, insbesondere der Bedeutung der Tageseinnahme für das Unternehmen nicht gerecht. Für den Gaststättenbetrieb gehören die vereinnahmten Geldbeträge zu den wichtigen Gegenständen des Unternehmens; die Verwahrung dieser Betriebsmittel nach Betriebsschluß an einem für sicherer gehaltenen Ort dient somit wesentlich den Zwecken des Unternehmens (ebenso Wildfeuer SV 1973, 260, 261). Der erkennende Senat hat in einem weiteren Urteil vom 30. November 1972 (BSG SozR Nr. 38 zu § 548, RVO; ebenso Wildfeuer aaO) unter Hinweis auf seine Entscheidungen vom 15. Dezember 1959 (2 RU 60/58) - SozEntsch BSG IV § 542 (a) Nr. 16) und vom 15. Dezember 1966 (BSC 26, 45, 47) mit näherer Begründung den Versicherungsschutz einer Geschäftsfrau bejaht, die eine für ihr Geschäft benötigte, während der Nacht in den Wohnräumen verwahrte Geldkassette auf dem Weg zu dem in demselben Haus gelegenen Laden mitführte. Von diesem Sachverhalt unterscheidet sich der hier zur Entscheidung stehende rechtlich nicht wesentlich. Da der Ehemann der Klägerin nicht nur unterwegs war, um sich nach Beendigung seiner Arbeit zur Ruhe zu begeben, sondern auch, um die für die Führung des Gaststättenbetriebs erforderlichen Betriebseinnahmen in Sicherheit zu bringen, stand er im Unfallzeitpunkt jedenfalls unter dem rechtlichen Gesichtspunkt einer sog. gemischten Tätigkeit (BSG 3; 240) nach § 548 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unter Versicherungsschutz. Die von der Beklagten im Revisionsverfahren aufgeworfene Frage, ob dieser Versicherungsschutz auch bestehe, wenn der Versicherte nur einen geringen Teil seiner Tageseinnahmen mit in die Wohnung nehmen wolle, ist hier unerheblich, da nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG der Ehemann der Klägerin die gesamte Tageseinnahme mit sich führte.
Hiernach bedarf es keiner Entscheidung, ob sich der Ehemann der Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls noch im betrieblichen oder gemischt benutzten Bereich befunden hat. Da der Ehemann der Klägerin eine wesentlich den Zwecken des Unternehmens dienende Tätigkeit verrichtete, war er versichert, auch wenn der Treppenaufgang, auf dem er zu Fall gekommen ist, zum häuslichen Bereich gehörte.
Der Senat kann jedoch über eine Entschädigungspflicht der Beklagten nicht abschließend entscheiden, weil das LSG über den ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Tod des Ehemannes der Klägerin - von seiner Rechtsauffassung zu Recht - keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen getroffen hat. Das LSG hat lediglich festgestellt, daß der Tod des Ehemannes der Klägerin auf dem Sturz beruht. Das LSG hat jedoch nicht entschieden, ob der Sturz auf die versicherte Tätigkeit oder auf eine - nicht betriebsbedingte - innere Ursache (z.B. apoplektischen Insult) zurückzuführen ist. Zwar besteht auch bei sog. Unfällen aus - nicht betriebsbedingter - innerer Ursache ein Kausalzusammenhang zwischen versicherter Tätigkeit und dem Unfall, wenn der Verletzte der Gefahr, der er erlegen ist, infolge der durch seine versicherte Tätigkeit bedingten Anwesenheit auf der Unfallstätte ausgesetzt war und ihm der Unfall ohne versicherte Tätigkeit wahrscheinlich nicht in derselben Art oder derselben Schwere zugestoßen wäre; es muß hiernach ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Beschaffenheit der Unfallstelle und der Verletzung oder ihrer Schwere bestehen (vgl. BSG SozR Nr. 18 zu § 543 RVO aF; Brackmann, Handbuch der SozVers, 1. - 7. Aufl., S. 480 r - mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Das SG hat jedoch bereits zutreffend darauf hingewiesen, daß die Härte des Fußbodens allein keine Beschaffenheit des Weges darstellt, die als wesentlich mitwirkend Ursache in dem angeführten Sinne angesehen werden kann (s. BSG aaO). Das LSG hat aber keine eigenen weiteren tatsächlichen Feststellungen zu der vom SG mit eingehender Begründung und unter Beachtung der Rechtsprechung des erkennenden Senats zur Beweiswürdigung bei unterlassenen Leichenöffnungen (s. u.a. BSG 24, 25) verneinten Frage getroffen, ob überhaupt ein apoplektischer Insult wahrscheinlich den Unfall herbeigeführt hat.
Der Rechtsstreit ist daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Fundstellen