Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 28.09.1990) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. September 1990 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die in Polen lebende Klägerin begehrt aufgrund eines neuen Antrages vom Februar 1987 Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Ihre Anträge sind wiederholt abgelehnt worden, anfangs mangels einer schädigenden Einwirkung iS des BVG, sodann mangels einer schädigungsbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um mindestens 25 vH.
Der Beklagte lehnte es ab, einen Zugunstenbescheid zu erteilen (Bescheid vom 15. September 1988). Das Sozialgericht (SG) hat aufgrund eines Gutachtens des Arztes für Chirurgie und Sozialmedizin, Regierungsmedizinaldirektor Dr. B., … Arzt beim Landesversorgungsamt Nordrhein-Westfalen, die Klage abgewiesen (Urteil vom 14. Dezember 1989). Das Landessozialgericht (LSG) hat ohne weitere Sachaufklärung die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 28. September 1990).
Dagegen richtet sich die vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassene Revision der Klägerin. Sie rügt als wesentlichen Verfahrensfehler, das LSG habe die Grenzen des Rechts zur freien Beweiswürdigung überschritten und damit § 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verletzt. Es habe seine Entscheidung nicht auf das vom SG eingeholte Gutachten des Sachverständigen Dr. B. … stützen dürfen. Dieser Arzt sei aktiver Beamter der Versorgungsverwaltung, so daß die Klägerin seiner Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit mißtraue und ihn bei Kenntnis des Ablehnungsgrundes mit Sicherheit abgelehnt hätte. Den Ablehnungsantrag habe sie nicht stellen können, weil die Vorinstanzen sie über die berufliche Position Dr. B's. … nicht unterrichtet hätten.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. September 1990 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte stellt keinen Antrag.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist begründet. Ihrem Antrag entsprechend ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Mit den bisher getroffenen Feststellungen durfte das LSG das Begehren der Klägerin auf Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen und entsprechende Versorgung nach dem BVG nicht zurückweisen, weil es sich dabei auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. B. … gestützt hat, obwohl dieses Gutachten verfahrensfehlerhaft zustandegekommen ist und deshalb nicht hätte verwertet werden dürfen.
Das Gutachten eines mit Erfolg abgelehnten Sachverständigen ist als Beweismittel grundsätzlich ungeeignet (BVerwG, Beschluß vom 22. Februar 1988 ≪7 B 28/88≫, NVwZ 1988, 1020; BGHSt 20, 222, 224; Kopp, VwGO, 9. Aufl 1992, § 98 Rz 17). Der abgelehnte Sachverständige kann seine Aufgabe als Gehilfe des Richters bei der Erforschung des Sachverhalts nicht länger wahrnehmen, weil sein Gutachten – jedenfalls aus der Sicht eines vernünftig abwägenden Beteiligten -mit dem Risiko belastet ist, durch Voreingenommenheit und Parteilichkeit beeinflußt zu sein. Wird ein solches Gutachten dennoch als Urteilsgrundlage verwendet, so überschreitet das Gericht die Grenzen seines Rechts zur freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 SGG). Dasselbe gilt, wenn das Tatsachengericht von dem Ablehnungsgrund weiß und sein Urteil dennoch entscheidend auf das Gutachten eines Sachverständigen stützt, den ein Beteiligter bei Kenntnis des Ablehnungsgrundes mit Sicherheit abgelehnt hätte (Beschluß des Senats vom 19. Oktober 1959, SozR ZPO § 41 Nr 4; Peters/Sautter/Wolff, Komm zur SGb, 4. Aufl, Stand 3.87, § 118 SGG, S II/88-81/7). Zum erfolgreichen Ablehnungsgesuch ist es dann nämlich nur deshalb nicht gekommen, weil das Gericht den Beteiligten unter Verstoß gegen dessen Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG) nicht über den Ablehnungsgrund unterrichtet hat. Das gilt vor allem, aber nicht nur dann, wenn in der Person des Sachverständigen ein Grund vorliegt, der einen Richter von der Ausübung des Richteramtes ausschließen würde, ohne daß ein Antrag erforderlich wäre. Der Senat hat aaO über einen Fall entschieden, in dem die Besorgnis der Befangenheit zu prüfen war, weil der Sachverständige ständig mit Gutachten für den Beklagten betraut worden war. Der Senat hat eine Besorgnis der Befangenheit für den damaligen Fall allerdings verneint.
Hier ist das aber anders. Die Klägerin hatte Grund, den Sachverständigen Dr. B. … abzulehnen und hätte das mit Sicherheit getan, wenn das LSG ihr dessen Dienstverhältnis mitgeteilt hätte. Die dienstliche Stellung des in der Versorgungsverwaltung tätigen Arztes Dr. B. … rechtfertigt – auch bei vernünftiger Würdigung aus der Sicht eines Beteiligten – die besorgte Frage, ob er sich als Sachverständiger von Rücksicht auf die Interessen seines Dienstherrn freimachen kann, und ob er ohne Hemmungen die ärztlichen Stellungnahmen seiner in derselben Sache bereits tätig gewordenen Kollegen aus der Versorgungsverwaltung kritisch zu beurteilen vermag. Diese Frage ist auch dann berechtigt, wenn der Sachverständigte als Versorgungsarzt im Dienst eines anderen Landes als des Beklagten steht. Die Versorgungsverwaltungen aller Bundesländer erscheinen nach außen als eine Einheit; sie führen das BVG im Auftrage des Bundes auf dessen Kosten jeweils in ihrem Gebiet aus. Durch allgemeine Verwaltungsvorschriften, Richtlinien und Rundschreiben des BMA wird auch auf eine einheitliche Verwaltungspraxis hingewirkt.
In der Versorgungsverwaltung beschäftigte Ärzte sind danach nur in Ausnahmefällen als Gutachter im sozialgerichtlichen Verfahren geeignet; wenn sie nämlich wegen besonderer Kenntnisse und Erfahrungen auf einem speziellen Gebiet der Medizin praktisch als einzige über die notwendige Sachkunde verfügen, um die vom Gericht gestellten Fragen zu beantworten. In solchen Fällen ist – anders als hier – nicht anzunehmen, daß ein Beteiligter bei vernünftiger Würdigung den Sachverständigen ablehnen wird. Es könnte sogar ein Interesse der Beschädigten selbst bestehen, die besondere Fachkunde eines im Dienst der Versorgungsverwaltung stehenden Arztes in Anspruch zu nehmen. Darauf hat das BSG aaO allgemein schon hingewiesen. Der erkennende Senat hält das aber nur in besonderen Fällen, die mit den Beteiligten erörtert werden müßten, für möglich.
Das LSG wird das Gutachten eines anderen Sachverständigen einzuholen und bei seiner erneuten Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 1175113 |
NJW 1993, 3022 |