Leitsatz (amtlich)
Wer eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, ist nicht erwerbsunfähig, selbst wenn er durch diese Tätigkeit nur noch geringfügige oder nahezu unbedeutende Einkünfte erzielt (Fortführung von BSG 1977-12-15 11 RA 6/77 = BSGE 45, 238, 241).
Normenkette
RVO § 1247 Abs 2 S 2 Fassung: 1972-10-16
Verfahrensgang
SG Augsburg (Entscheidung vom 16.11.1979; Aktenzeichen S 14 Ar 178/79) |
Tatbestand
Der im Jahr 1924 geborene Kläger ist seit 1945 selbständiger Landwirt. Von 1956 bis 1977 war er außerdem - hauptsächlich im Baugewerbe - versicherungspflichtig beschäftigt. Seit September 1977 ist er bei dem Arbeitsamt arbeitslos gemeldet; eine Stelle konnte ihm aber nicht vermittelt werden. Seit Januar 1977 bezieht er Rente wegen Berufsunfähigkeit. Er ist jetzt nur noch in der Lage, leichte körperliche Tätigkeiten abwechselnd im Sitzen und Stehen etwa vier bis sechs Stunden täglich zu verrichten.
Im August 1978 beantragte der Kläger die Umwandlung seiner Rente in eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 23. November 1978 den Antrag ab, weil der Kläger noch nicht erwerbsunfähig sei. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos. Ende 1978 verpachtete der Kläger Teile seiner Landwirtschaft. Deswegen bildet seit dem 1. Januar 1979 sein Unternehmen nicht mehr "eine auf Bodenbewirtschaftung beruhende Existenzgrundlage" (vgl § 1 Abs 3 Satz 1 des Gesetzes über eine Altershilfe für Landwirte). Er ist seitdem auch nicht mehr beitragspflichtig zur landwirtschaftlichen Alterskasse. Aus der Landwirtschaft erzielt er nur noch Einkünfte, die ein Achtel der Beitragsbemessungsgrenze nicht überschreiten (vgl dazu Großer Senat -GrS- BSGE 43, 75, 85 und § 1385 Abs 2 Reichsversicherungsordnung -RVO-).
Auf die Klage hin hat das Sozialgericht (SG) Augsburg mit Urteil vom 16. November 1979 den Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, für die Zeit vom 1. Mai 1979 an den Kläger statt der Rente wegen Berufsunfähigkeit die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren. Es hat die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Der Kläger sei, da ihm der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen sei, erwerbsunfähig. Deshalb stehe ihm die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu. Er übe auch keine selbständige Erwerbstätigkeit aus. Der Begriff der selbständigen Erwerbstätigkeit iS des § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO sei auf die Fälle zu begrenzen, in denen ein Zusammenhang zwischen der Tätigkeit und den vom Versicherungsträger anerkannten Versicherungszeiten bestehe und aus der Tätigkeit mehr als nur geringfügige Einkünfte iS des § 1247 Abs 2 Satz 1 Fall 2 RVO erzielt würden.
Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO und trägt vor: Diese Vorschrift lasse schon ihrer Wortfassung nach die vom SG getroffene Auslegung nicht zu. Auch im Hinblick auf das Gleichheitsgebot des Art 3 Grundgesetz (GG) sei sie sachgerecht, weil es für den Rentenversicherungsträger mit seinen beschränkten Ermittlungsmöglichkeiten in der Mehrzahl der Fälle schwierig, wenn nicht gar unmöglich sei, die Höhe des Einkommens aus der selbständigen Tätigkeit zuverlässig festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die
Klage abzuweisen.
Der Kläger hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Umwandlung der ihm gewährten Rente wegen Berufsunfähigkeit in eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (§ 1253 Abs 2 Satz 2 RVO); er ist noch nicht erwerbsunfähig.
Das angefochtene Urteil ist in sich widerspruchsvoll, wenn es den Bescheid der Beklagten insgesamt aufhebt, obwohl dieser Bescheid auch nach der Rechtsauffassung des SG am Tage seines Erlasses rechtmäßig gewesen ist. Die Einkünfte des Klägers sind erst zum 31. Dezember 1978 unter die Geringfügigkeitsgrenze herabgesunken, so daß ein Umwandlungsanspruch des Klägers frühestens am 1. Januar 1979 entstanden sein konnte. Der Bescheid war aber auch für die Zeit nach 1978 rechtmäßig.
Das Sozialgericht hat angenommen, daß die Voraussetzungen für die beantragte Umwandlung vollständig erfüllt seien, insbesondere daß der Kläger erwerbsunfähig iS des § 1247 Abs 2 RVO sei. Dabei hat es sich von der Regelung im Satz 2 des § 1247 Abs 2 RVO, der durch das Rentenreformgesetz vom 16. Oktober 1972 (BGBl I 1965) angefügt worden ist, daß nicht erwerbsunfähig sei, wer eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübe, nicht gehindert gesehen. Es ist der Rechtsansicht, daß eine selbständige Erwerbstätigkeit iS dieser Bestimmung nur ausübe, wer durch diese Tätigkeit mehr als nur geringfügige Einkünfte iS des § 1247 Abs 2 Satz 1 Unterfall 2 RVO erziele. Dem vermag der Senat nicht zu folgen.
Welche Voraussetzungen für die Annahme von Erwerbsunfähigkeit erfüllt sein müssen, besagt § 1247 Abs 2 RVO. Nach Satz 1 dieser Vorschrift ist derjenige Versicherte erwerbsunfähig, der infolge von Krankheit, Gebrechen oder körperlicher oder geistiger Schwäche auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben kann oder der nicht in der Lage ist, mehr als geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit zu erzielen. Das SG hat das Vorliegen beider Voraussetzungen bejaht, sowohl nach dem Ausmaß der dem Kläger noch möglichen Erwerbstätigkeit als auch nach der Höhe der ihm noch möglichen Einkünfte sei er im Sinne des § 1247 Nr 2 Satz 1 RVO erwerbsunfähig. Der Senat läßt dahinstehen, ob diese Beurteilung zutrifft, weil es auf das Vorliegen der Voraussetzungen des Satzes 1 nicht ankommt.
Der Kläger ist, wie das SG zutreffend und unangefochten festgestellt hat, selbständiger Landwirt. Er ist zusammen mit seiner Ehefrau Eigentümer einer Landwirtschaft, die er auch selbst ausübt. Davon geht auch das SG aus. § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO bestimmt aber, daß derjenige nicht erwerbsunfähig ist, der eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt. Aus dieser Regelung folgt, daß der Kläger nicht erwerbsunfähig ist, und zwar unabhängig davon, ob die Voraussetzungen des § 1247 Abs 2 Satz 1 RVO vorliegen oder nicht. Das hat der 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) bereits in seinem Urteil vom 15. Dezember 1977 - 11 RA 6/77 - (BSGE 45, 238, 241 = SozR 2200 § 1247 Nr 19 S 32) entschieden und eingehend begründet; der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsauffassung nach eigener Prüfung an. Der Gesetzgeber wollte mit der Vorschrift des § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO verhindern, daß ein Versicherter Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bezieht und zugleich selbständig erwerbstätig ist. Die Auffassung des SG, eine Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeit müsse dann unbeachtlich bleiben, wenn sie nur zu solchen geringfügigen Einkünften führe, wie sie nach Satz 1 eine Erwerbsunfähigkeit begründen könnten, läßt sich weder aus dem Wortlaut der Vorschrift ableiten noch trägt es dem Sinn der Regelung Rechnung. Die Textfassung des Satzes 2 ist eindeutig, sie stellt lediglich auf die Ausübung der Tätigkeit ab. Auch der Sinn der Vorschrift führt zu keinem anderen Ergebnis. Die Frage, ob aus einer selbständigen Tätigkeit Gewinn oder überhaupt Einnahmen erzielt werden oder nicht, ist zum wesentlichen Teil eine Frage des Unternehmerrisikos, sie ist gerade charakteristisch für die selbständige Tätigkeit. Es ist durchaus möglich, daß ein selbständig Tätiger trotz hinreichend eigener Betätigung in seinem Betrieb keinen Gewinn erzielt oder sogar mit Verlust abschließt. Dieses Ergebnis ist dann zwar eine Folge seines selbständigen Handelns, besagt aber noch nichts darüber, in welchem Maße er tatsächlich mitgewirkt hat oder zur Mitarbeit in der Lage gewesen wäre. Andererseits ist es ebenso möglich, daß ein Selbständiger, ohne selbst wesentlich mitzuarbeiten, durch seinen Betrieb erhebliche Einnahmen erzielen kann. Daraus folgt, daß das Betriebsergebnis kein geeignetes Kriterium darstellt, um danach die Erwerbsfähigkeit eines Selbständigen beurteilen und mit der eines unselbständig Beschäftigten vergleichen zu können. Aus diesem Grund stellt § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO auf die bloße Tatsache der Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit schlechthin ab, ohne das Betriebsergebnis des näheren zu bewerten. Die Vorschrift will den Verlust der Fähigkeit ausgleichen, erwerbstätig zu sein, die Regelung ist aber nicht dazu bestimmt, bei selbständig Tätigen das Unternehmerrisiko aufzufangen.
Im übrigen sind auch die Kommentare der Auffassung, daß selbst bei geringfügigen Einkünften aus einer selbständigen Erwerbstätigkeit keine Erwerbsunfähigkeit vorliegen könne (Verbands-Kommentar, Anm 3 a zu § 1247 RVO, Stand: 1. Januar 1978; Zweng/Scheerer, Handbuch der Rentenversicherung, 2. Aufl, Anm II E zu § 1247 RVO, Stand: Juli 1979; Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 6. Aufl, Anm 5, letzter Abs, zu § 1247 RVO).
Die Entstehungsgeschichte aus § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO spricht nicht gegen die Rechtsauffassung des Senats. Die Bestimmung geht auf den von der CDU eingebrachten "Entwurf eines Gesetzes über die Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige" (BT-Drucks VI/2153) zurück. In der Begründung zu diesem Entwurf (aaO, S 16) ist nur ausgeführt, die Vorschrift stelle klar, daß keine Erwerbsunfähigkeit vorliege, solange eine selbständige Erwerbstätigkeit tatsächlich ausgeübt werde. Der Gedanke, daß ein geringfügiger Hinzuverdienst der Erwerbsunfähigkeit nicht entgegenstehe, ist nicht ausgesprochen.
Die Vorschrift verstößt auch nicht gegen das GG. Zwar behandelt sie die Versicherten nicht gleich, die Tätigkeit eines Selbständigen ist aber von der unselbständigen Beschäftigung so wesensverschieden, daß es sachgerecht und geboten ist, beide Arten von Arbeit nach unterschiedlichen Kriterien zu beurteilen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach entschieden, daß eine unterschiedliche Regelung für Selbständige und für abhängig Beschäftigte, die wegen der strukturellen Unterschiede geboten ist, nicht beanstandet werden kann (vgl zB Beschluß vom 16. Oktober 1979 - 1 BvL 5/77 - SozR 5800 § 4 Nr 1).
Die Rechtsauffassung des SG kann aber auch nicht in der Form Erfolg haben, daß etwa die selbständige Erwerbstätigkeit dann die Erwerbsunfähigkeit nicht ausschließt, wenn sie im wirtschaftlichen Ergebnis nahezu unbedeutend ist. Der 11. Senat des BSG hat zwar in dem Urteil BSGE 45, 238 eine solche Möglichkeit dahingestellt gelassen, damit also angedeutet, daß er sie nicht von vornherein ausschließt. Der erkennende Senat wendet aber die Vorschrift des § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO im strengen - und sprachlich eindeutigen - Sinne an. Danach schließt die Ausübung einer jeden selbständigen Erwerbstätigkeit, unabhängig von den durch diese Tätigkeit erzielten Einkünften, die Erwerbsunfähigkeit im Rechtssinne aus. Nur durch eine solche strikte Anwendung der Vorschrift kann deren Zweck, nämlich die Vermeidung schwieriger und oft ergebnisloser Ermittlungen, erreicht werden. Bei dem Abstellen auf die "nahezu unbedeutenden" Einkünfte wären die Ermittlungsschwierigkeiten und die Rechtsunsicherheit sogar noch größer. Denn während durch die Rechtsprechung (BSG, Beschluß des GrS vom 10. Dezember 1976 - GS 2 bis 4/75, 3/76 - BSGE 43, 75, 85 = SozR 2200 § 1246 Nr 13) geklärt ist, was geringfügige Einkünfte sind, ist eine andere Grenze für Minimaleinkünfte, zB die Grenze für nahezu unbedeutende Einkünfte, weder aus dem Gesetz abzuleiten noch von der Rechtsprechung entwickelt. Es ist sogar fraglich, ob es bei der Festlegung einer solchen Grenze nicht so sehr auf den Einzelfall ankommt, daß eine generelle Festlegung überhaupt ausscheidet.
Die Rechtsauffassung des Senats ist auch nicht unbillig. Erzielt der Selbständige aus seiner Erwerbstätigkeit beachtliche Einkünfte, dann liegt von der Funktion der Rente her - sie soll den Ausfall an Erwerbseinkommen ersetzen - kein Grund zur Bejahung des Anspruchs vor. Wirft die Tätigkeit aber nur unbedeutende oder belanglose oder praktisch überhaupt keine Erträge ab, so kann ihm, wie die Beklagte zutreffend vorträgt, zugemutet werden, den Rechtsschein der Selbständigkeit durch Aufgabe oder Veräußerung seines Betriebes, Löschung der Eintragung in die Handwerksrolle oder Abmeldung im Gewerberegister zu beseitigen.
Schließlich findet auch die Ansicht des SG, nur diejenige Erwerbstätigkeit könne sich rentenschädlich auswirken, die im Zusammenhang mit den "vom Versicherungsträger anerkannten Versicherungszeiten" steht, weder im Gesetz noch in der Rechtsprechung des BSG eine Stütze.
Auf die Revision der Beklagten war das angefochtene Urteil aufzuheben. Die Klage war als unbegründet abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen
BSGE, 190 |
Breith. 1981, 968 |