Entscheidungsstichwort (Thema)
Selbsttötung
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine mit Wahrscheinlichkeit von dem Beschädigten absichtlich herbeigeführte Selbsttötung gilt nach BVG § 1 Abs 5 nicht als eine Schädigung iS von BVG § 1 Abs 1.
2. Daran ändert die Möglichkeit einer Beeinträchtigung der freien Willensbestimmung durch militärische Umstände oder eines Unfalls während der Ausübung des militärischen Dienstes nichts.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20, Abs. 4 Fassung: 1950-12-20, Abs. 5 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Die Revision der Klägerinnen gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. Oktober 1955 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater der Klägerinnen zu 2) bis 5), G. D... starb am 4. Oktober 1941 während seines Wehrdienstes als Schütze in einer Landesschützenkompanie in der Heimat. Während er sich in einer Wachstube an einem Gewehr zu schaffen machte, ging ein Schuß los, traf ihn in den Kopf und tötete ihn; er war dabei, seine Sachen zu packen, weil er wegen des Verdachts einer strafbaren Handlung in Untersuchungshaft gebracht werden sollte. Das Wehrmachtfürsorge- und Versorgungsamt Münster nahm an, D... habe Selbstmord begangen, und lehnte mit Bescheid vom 22. Januar 1943 den Antrag der Klägerinnen auf Hinterbliebenenversorgung nach dem Wehrmachtfürsorge und Versorgungsgesetz (WFVG) ab. Die Beschwerde der Klägerinnen wurde zurückgewiesen, sie erhielten jedoch vom 1. Oktober 1941 bis zum 31. Januar 1945 Zuwendungen nach dem WFVG im Wege des Härteausgleichs. Durch Bescheid vom 12. März 1948 lehnte die Landesversicherungsanstalt (LVA.) Westfalen, Außenstelle Münster, den Antrag der Klägerinnen auf Witwen- und Waisenrente nach der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27 ab, weil der Tod des Gerhard D... nicht durch militärischen oder militärähnlichen Dienst verursacht worden sei; der Bescheid wurde rechtsverbindlich; durch Bescheid vom 24. Oktober 1952 lehnte das Versorgungsamt (VersorgA.) auch den Antrag auf Witwen- und Waisenrente und auf Gewährung von Witwen- und Waisenbeihilfe nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) ab; Gerhard D... sei nicht an den Folgen einer Schädigung im Sinne des § 1 BVG gestorben; den Einspruch der Klägerinnen wies der Beschwerdeausschuß des VersorgA. Münster am 15. Januar 1953 zurück. Im Berufungsverfahren vor dem Oberversicherungsamt (OVA.) Münster beantragten die Klägerinnen nur noch die Hinterbliebenenrente; der Beklagte machte geltend, der Bescheid vom 12. März 1948 sei gemäß § 85 BVG auch nach dem BVG rechtsverbindlich, es bestehe aber auch "sachlich" keine Möglichkeit zu einer anderen Beurteilung. Das Sozialgericht (SG.) Münster, auf das die Sache nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) am 1. Januar 1954 als Klage übergegangen war, wies die Klage ab, es verneinte zwar die "Bindungswirkung" nach § 85 Satz 1 BVG, sah aber die Voraussetzungen für den Anspruch der Klägerinnen nach den §§ 1, 38 BVG nicht als gegeben an. Das Landessozialgericht (LSG.) Nordrhein-Westfalen wies die Berufung der Klägerinnen durch Urteil vom 26. Oktober 1955 zurück: Jedem Versorgungsfall liege ein doppeltes Kausalverhältnis zugrunde, nämlich einmal zwischen dem kriegs- oder wehrdiensteigentümlichen Gefahrenbereich im Sinne der §§ 1 ff. BVG und dem schädigenden Vorgang und zum anderen zwischen dem schädigenden Ereignis und der Gesundheitsstörung; wenn in einer früheren versorgungsrechtlichen Entscheidung über das zweite Glied der Kausalkette entschieden sei, sei diese Entscheidung entgegen der Auffassung des SG. bezüglich beider Kausalglieder bindend; es sei auch nicht richtig, daß im Falle einer Selbsttötung das Kausalverhältnis bezüglich des ersten Gliedes der Kausalreihe fehle und § 85 BVG damit unanwendbar sei; der Beklagte habe auch nicht etwa auf die "Rechtskraft" des Bescheides vom 12. März 1948 (im Urteil des LSG. unrichtig 1947) verzichtet, es sei unerheblich, daß er sich in diesem Bescheid "materiell-rechtlich" mit dem Vorbringen des Klägers auseinandergesetzt habe, im Klageverfahren habe er sich sofort auf § 85 Satz 1 BVG berufen. Das LSG. ließ die Revision zu; das Urteil wurde den Klägerinnen am 12. Dezember 1955 zugestellt.
Die Klägerinnen legten am 22. Dezember 1955 Revision ein und beantragten,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und der ihm zugrunde liegenden Vorentscheidungen den Beklagten zu verurteilen, für den während des Wehrdienstes eingetretenen Tod des G. D. vom 1. Oktober 1950 an Witwen- bzw. Waisenrente zu gewähren,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Zur Begründung führten sie aus: § 85 Satz i BVG setze nach seinem klaren Wortlaut den Streit über den ursächlichen Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Vorgang im Sinne von § 1 BVG voraus (zweites Glied der Kausalkette); im vorliegenden Falle sei nur streitig, ob es sich um einen schädigenden Vorgang im Sinne von § 1 Abs. 1 BVG handle, der Streit betreffe also nur das erste Glied der Kausalkette; eine Bindung nach § 85 Satz 1 BVG sei sonach nicht eingetreten, das LSG. habe daher zu Unrecht die Anspruchsgrundlagen "nicht sachlich geprüft".
Der Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuverweisen.
II
Die Revision ist zulässig; sie ist aber nicht begründet; das LSG. hat die Berufung der Klägerinnen im Ergebnis mit Recht zurückgewiesen.
1.) Das LSG. hat die Berufung der Klägerinnen gegen das Urteil des SG. zurückgewiesen; weil es der Auffassung gewesen ist, der rechtsverbindlich gewordene Bescheid der LVA. Westfalen vom 12. März 1948 sei auch nach dem BVG rechtsverbindlich, die Bindungswirkung dieser Entscheidung nach § 85 Satz 1 BVG beziehe sich sowohl auf den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem kriegs- und wehrdiensteigentümlichen Gefahrenbereich im Sinne der §§ 1 ff. BVG und dem schädigenden Vorgang als auch auf den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem schädigenden Ereignis und der Gesundheitsstörung. Dies trifft jedoch nicht zu. Wie der erkennende Senat in dem Urteil vom 14. Januar 1958 - 11/8 RV 887/55 - im Anschluß an das Urteil des BSG. vom 16. Oktober 1956 (BSG. 4, 21 ff.) entschieden hat, ist eine nach bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften ergangene Entscheidung nicht nach § 85 Satz 1 BVG rechtsverbindlich für die Frage, ob ein schädigender Vorgang im Sinne von § 1 BVG vorliegt. Die Bindungswirkung des § 85 Satz 1 BVG soll die Änderung einer nach bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften ergangenen Entscheidung nur insoweit ausschließen, als etwa auf Grund inzwischen geänderter medizinischer Anschauungen der ursächliche Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Ereignis anders als in der früheren Entscheidung zu beurteilen wäre; sie erstreckt sich sonach nur auf den ursächlichen Zusammenhang im medizinischen Sinne, also auf das zweite Glied der Kausalkette, nämlich das Kausalverhältnis zwischen dem schädigenden Ereignis (Losgehen des Gewehrs) und seinen Folgen (Kopfschuß und Tod); sie erstreckt sich dagegen nicht auf die Frage, ob das schädigende Ereignis "ein schädigender Vorgang im Sinne des § 1 BVG" gewesen ist, ob es sich also um eine Schädigung "durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse" gehandelt hat, also nicht, wie das LSG. angenommen hat, auch auf das erste Glied der Kausalkette. Die Frage, ob ein schädigender Vorgang eine Schädigung im Sinne des BVG ist, hat deshalb, wie das SG. dies zutreffend getan hat, nach dem BVG erneut geprüft werden müssen.
2.) Das LSG. hat diese Prüfung unterlassen, sein Urteil leidet aber nicht an einem wesentlichen Mangel des Verfahrens, es ist nicht ein Prozeßurteil, sondern ein Sachurteil gewesen; das LSG. hat über die Ansprüche der Klägerinnen nach dem BVG sachlich entschieden, auch wenn es diese Ansprüche nicht selbst nach dem BVG geprüft hat, sondern der Auffassung gewesen ist, die Rechtsverbindlichkeit des Bescheids vom 12. März 1948 erstrecke sich auch auf die Frage, ob ein schädigender Vorgang im Sinne des BVG vorliegt. Das LSG. hat zwar § 85 BVG unrichtig angewandt und damit das Gesetz verletzt, sein Urteil ist aber nicht auf zu heben gewesen, weil die Entscheidung aus anderen Gründen richtig ist (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG); die Berufung der Klägerinnen ist nicht begründet gewesen, weil das SG. zu Recht nicht für erwiesen gehalten hat, daß das schädigende Ereignis - das Losgehen des Gewehrs - mit einer militärischen Dienstverrichtung oder mit den dem militärischen Dienst eigentümlichen Verhältnissen ursächlich zusammenhängt oder daß es sich um einen Unfall während der Ausübung militärischen Dienstes gehandelt hat (§ 1 Abs. 1 BVG). Zwar hat das LSG. zu dieser Frage selbst keine Feststellungen getroffen, die Sache ist aber trotzdem entscheidungsreif. Das SG. hat in seinem Urteil alle für die Beurteilung des Sachverhalts verfügbaren Unterlagen verwertet und gewürdigt, insbesondere den Schlußbericht des Divisionsgerichts, den Bericht des Beratenden Pathologen und des Beratenden Psychiaters, die Angaben des einzigen Augenzeugen, des Arztes, der als erster die Leiche gesehen hat, und die amtlichen Auskünfte über die Persönlichkeit des Gerhard D... Es hat berücksichtigt, daß Gerhard D... sich als Soldat einwandfrei geführt und daß sein Verhalten vor dem zum Tode führenden Ereignis keine Schlüsse auf die Absicht einer Selbsttötung zugelassen hat; anhand von beweiskräftigen und auch von den Klägerinnen nicht angezweifelten Unterlagen hat das SG. aber auch ermittelt, daß G. D... mehrfach wegen Diebstahls und anderer Straftaten vorbestraft gewesen ist, daß er zu der Zeit, in die sein Tod fällt, erneut eines Hühnerdiebstahls verdächtig war und daß er an dem Tag, an dem er infolge des Schusses gestorben ist, in Untersuchungshaft gebracht werden sollte; das SG. hat hieraus mit Recht gefolgert, es müsse demnach ein dringender Tatverdacht bestanden haben; es ist auch zutreffend davon ausgegangen, daß nach dem Verlauf des schädigenden Ereignisses für Gerhard D... kein dienstlicher Anlaß bestanden hat, sich an einem Gewehr zu schaffen zu machen, daß dieser Umstand den Schluß nahelegt, daß er nur deshalb zu einem Gewehr gegriffen hat, weil er sich damit selbst hat töten wollen und daß unter diesen Umständen dahingestellt bleiben kann, wie er in den Besitz der Patrone für das Gewehr hat gelangen können und ob dies auf wehrdiensteigentümliche Verhältnisse - etwa mangelnde Aufsicht eines Dienstvorgesetzten - zurückzuführen sei. Es begegnet keinen Bedenken, wenn das SG. ausführt, daß die ermittelten Tatsachen zu einer vollständigen Aufklärung nicht geführt haben, daß aber unter Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens die größere Wahrscheinlichkeit für die Selbsttötung spricht. Das SG. ist ohne Rechtsirrtum auch zu dem Ergebnis gekommen, daß der Wille des G. D... über das vorsätzliche Handeln hinaus auf das Ziel, die Selbsttötung, gerichtet gewesen ist, daß es sich also um eine "absichtlich" herbeigeführte Selbsttötung gehandelt hat (BSG. 1 S. 150 ff. [155]). Eine von dem Beschädigten absichtlich herbeigeführte Selbsttötung gilt aber nach § 1 Abs. 5 BVG nicht als eine Schädigung im Sinne von § 1 Abs. 1 BVG; in diesem Falle besteht kein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem militärischen Dienst oder den diesem Dienst eigentümlichen Verhältnissen, vielmehr ist der schädigende Vorgang allein durch den Entschluß, sich selbst zu töten, ausgelöst worden; dieser Entschluß hat eine neue Kausalreihe in Gang gesetzt, die vom militärischen Dienst unabhängig ist; dies gilt nur dann nicht, wenn der militärische Dienst oder die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse zu einer Beeinträchtigung der freien Willensbestimmung geführt haben und die Selbsttötung die Folge dieser Beeinträchtigung gewesen ist; dem SG. ist auch darin zuzustimmen, daß keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, G. D. sei im Zeitpunkt der Selbsttötung in seiner freien Willensbestimmung beeinträchtigt gewesen; auch die Klägerinnen haben dies übrigens nicht geltend gemacht.
Das SG. hat schließlich noch mit Recht ausgeführt, daß die Möglichkeit eines Unfalls nicht ausgeschlossen werden kann. Ein "Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes" hängt zwar mit diesem Dienst so eng zusammen, daß der Gesetzgeber in § 1 Abs. 1 BVG seine Folgen ebenso als Schädigung im Sinne des BVG anerkannt hat, wie die Schädigung "durch" militärischen oder militärähnlichen Dienst. Die Möglichkeit eines Unfalls reicht aber nicht aus, um den Anspruch der Klägerinnen zu begründen. Auch in Angelegenheiten der Sozialgerichtsbarkeit gilt der Grundsatz der objektiven Beweislast, insbesondere der Feststellungslast, wonach Folgen des "Nichtfestgestelltseins" einer Tatsache vom demjenigen Beteiligten zu tragen sind, der aus dieser Tatsache ein Recht herleiten will (Urteil des BSG. v. 24.10.1957 - 10 RV 945/55 - mit weiteren Hinweisen). Selbst dann, wenn man annehmen wollte, daß nicht die größere Wahrscheinlichkeit für eine absichtliche Selbsttötung spricht, sondern daß ein Unfall ebenso wahrscheinlich sei wie ein Selbstmord, so hätte sich doch zumindestens nicht feststellen lassen, daß der Tod des Gerhard D... die Folge eines Unfalls gewesen ist; die Klage wäre auch unter diesem Gesichtspunkt unbegründet gewesen. Das SG. hat deshalb mit Recht die Klage abgewiesen; das Urteil des LSG. ist zwar nicht in der Begründung, wohl aber im Ergebnis richtig gewesen. Die Revision ist deshalb nach § 170 Abs. 1 Satz 2 SGG als unbegründet zurückzuweisen.
3.) Da der Beklagte in dem angefochtenen Bescheid die Ansprüche der Klägerinnen nach dem BVG erneut geprüft und abgelehnt hat und da auch der Beschwerdeausschuß im Einspruchsverfahren dies getan hat, ist es unerheblich, daß sich der Beklagte im sozialgerichtlichen Verfahren irrtümlich zur Begründung seines Bescheids auf § 85 Satz 1 BVG berufen hat; da der Bescheid vom 12. März 1948 für die Frage, ob Gerhard D... durch Unfall oder durch Selbstmord ums Lehen gekommen ist, keine "Bindungswirkung" nach § 85 Abs. 1 BVG gehabt hat, ist auch nicht über die Frage zu entscheiden gewesen, ob der Beklagte etwa auf die Bindungswirkung verzichtet habe.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen