Leitsatz (amtlich)
Die Bindungswirkung des BVG § 85 S 1 erstreckt sich nur auf die Frage des ursächlichen Zusammenhangs zwischen einem schädigenden Vorgang und einer Gesundheitsstörung (Tod), dagegen nicht darauf, ob der schädigende Vorgang alle Tatbestandsmerkmale der im Einzelfall in Betracht kommenden Vorschriften des BVG übrigen in BVG § 1 genannten Tatbestände und dem schädigenden Vorgang um Fragen handelt, die im wesentlichen medizinischer Art sind und ohne Hinzuziehung eines medizinischen Sachverständigen nicht beantwortet werden können.
Ist über den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Nichterkennen einer Depression während einer Lazarettbehandlung und einer Selbstmordhandlung bereits nach früheren versorgungsrechtlichen Vorschriften entschieden worden, so ist noch nicht nach BVG § 85 S 1 rechtsverbindlich festgestellt, ob eine unzulängliche Behandlung im Zusammenhang mit den dem Militärdienst eigentümlichen Verhältnissen gestanden BVG § 85 S 1 rechtsverbindlich festgestellt, ob eine unzulängliche Behandlung im Zusammenhang mit den dem Militärdienst eigentümlichen Verhältnissen gestanden hat.
Normenkette
BVG § 85 S. 1 Fassung: 1950-12-20, § 1 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 9. Juli 1957 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Ehemann der Klägerin, H H setzte am 25. Februar 1940 seinem Leben durch Selbsttötung ein Ende. Der Verstorbene, der schon seit mehreren Jahren ein Magenleiden hatte, wurde am 26. August 1939 zum Wehrdienst eingezogen. Nachdem er bereits wegen seines Magenleidens im Revier behandelt worden war, wurde er am 25. November 1939 wegen heftiger Magenbeschwerden zur klinischen Beobachtung in ein Lazarett eingewiesen. Dort wurde eine chronische Gastritis festgestellt. H wurde für dienstuntauglich befunden und am 21. Februar 1940 aus dem Wehrdienst entlassen. Am 23. Februar 1940 verließ er seine Wohnung. Als er bis zum Abend nicht zurückgekehrt war, wurde eine Suchaktion eingeleitet, in deren Verlauf er am 25. Februar 1940 in einer Ziegelei in H erhängt aufgefunden wurde. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft ergaben eindeutig Selbstmord.
Im August 1940 beantragte die Klägerin Hinterbliebenenversorgung, die ihr mit Bescheid des Wehrmachtsfürsorge- und Versorgungsamts in K vom 23. August 1941 vom 1. August 1940 an bewilligt wurde. Der Anerkennung des Todes ihres Ehemannes als Schädigungsfolge lag eine Stellungnahme des damals als Wehrmachtsarzt tätigen Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. B-P zugrunde. Dieser Sachverständige vertrat die Ansicht, es habe sich bei dem Verstorbenen um eine anlagebedingte endogene Depression gehandelt, die durch den Wehrdienst weder verursacht noch verschlimmert sein könne. Es sei jedoch bei der Lazarettbehandlung die Schwere der Krankheit nicht erkannt worden. Der damalige Stabsarzt Prof. Dr. L führte hierzu in einer weiteren Stellungnahme aus, die Nichterkennung der Depression sei unter die Eigentümlichkeiten des Wehrdienstes im Kriege zu rechnen.
Nach dem Zusammenbruch wurde die Rente mit Benachrichtigung vom 5. November 1947 weiterbewilligt. Im April 1950 beantragte die Klägerin Rente auf Grund der inzwischen in Kraft getretenen Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27. Die Landesversicherungsanstalt (LVA.) Schleswig-Holstein erkannte daraufhin mit Bescheid vom 30. Mai 1950 an, daß ihr Ehemann "anläßlich militärischen Dienstes" verstorben sei, und gewährte eine entsprechende Rente. Bei der Umanerkennung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) durch Bescheid vom 15. November 1952 wurde der Klägerin diese Rente nicht mehr zugebilligt: Der Tod des Ehemannes sei nicht die Folge einer Schädigung im Sinne des BVG, da eine Beeinträchtigung der freien Willensbestimmung durch Tatbestände im Sinne des BVG nicht vorgelegen habe. Der hiergegen eingelegte Einspruch der Klägerin blieb erfolglos (Entscheidung des Beschwerdeausschusses vom 31. Januar 1953).
Die nunmehr erhobene Klage ist vom Sozialgericht Schleswig mit Urteil vom 1. April 1955 abgewiesen worden: § 85 BVG sei nicht anwendbar. Die endogene Depression könne nicht auf Tatbestände im Sinne des BVG zurückgeführt werden; es handele sich bei dem Nichterkennen der Depression auch nicht um ein Versagen der militärischen Organisation, sondern um ein Versagen der ärztlichen Kunst schlechthin. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG.) Schleswig diese Entscheidung durch Urteil vom 9. Juli 1957 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, der Klägerin über den 30. Dezember 1952 hinaus Witwenrente nach dem BVG zu gewähren: Die frühere Entscheidung sei gemäß § 85 BVG grundsätzlich nur hinsichtlich der Beurteilung des sog. medizinischen Zusammenhangs rechtsverbindlich. Diese Verbindlichkeit erstrecke sich im vorliegenden Fall auf den Zusammenhang zwischen Schädigung (Erhängen) und deren Folge (Tod). Das vorhergehende Glied der Kausalkette - Zusammenhang zwischen dem militärischen Dienst oder gleichgestellten Tatbeständen und der Schädigung - werde von § 85 BVG grundsätzlich nicht erfaßt. Ausnahmsweise sei § 85 BVG aber auch in den Fällen anzuwenden, in denen die fachärztliche Beurteilung notwendigerweise auf das erste Glied der Kausalkette übergreife und die Frage, ob der schädigende Vorgang eine Folge des militärischen Dienstes sei, ohne Hinzuziehung eines medizinischen Sachverständigen nicht beantwortet werden könne. Dies sei hier der Fall. Deshalb sei nach § 85 BVG rechtsverbindlich entschieden, daß wehrmachtseigentümliche Verhältnisse - das Versagen der Truppenärzte - als wesentliche Ursache bei dem Selbstmord des Verstorbenen mitgewirkt hätten, weil die Selbstmordhandlung durch geeignete Maßnahmen hätte verhindert werden können. Der Anspruch sei auch nicht durch § 1 Abs. 4 BVG ausgeschlossen; denn der Verstorbene habe unter Ausschluß der freien Willensbestimmung gehandelt, der seinerseits wiederum auf wehrmachtseigentümliche Verhältnisse zurückzuführen sei. Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Gegen dieses am 16. September 1957 zugestellte Urteil hat der Beklagte mit einem am 16. Oktober 1957 beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangenen Schriftsatz Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des LSG. Schleswig vom 9. Juli 1957 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. nach § 170 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zurückzuverweisen.
Die Revision rügt in der am 16. November 1957 beim BSG. eingegangenen Revisionsbegründung die Verletzung des § 85 BVG. Die bindende Wirkung dieser Vorschrift erfasse lediglich den Ursachenzusammenhang im engeren Sinne, d. h. die Kausalkette zwischen dem schädigenden Vorgang und der Schädigungsfolge. Ob der schädigende Vorgang alle Tatbestandsmerkmale des BVG erfülle, hätte das LSG. dagegen selbständig prüfen müssen. Eine ausdehnende Anwendung des § 85 BVG in der vom Berufungsgericht dargelegten Weise sei rechtsirrig. Es könne für den Umfang der Bindung nach § 85 BVG nicht maßgebend sein, ob es sich um medizinische oder rechtliche Fragen handele.
Die Klägerin beantragt,
die Revision gegen das Urteil des LSG. Schleswig vom 9. Juli 1957 zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Satz 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG); sie ist daher zulässig.
Die Revision ist auch begründet.
Der Streit der Parteien geht um die Frage, in welchem Umfang eine Entscheidung nach bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften gemäß § 85 Satz 1 BVG für die Entscheidung nach diesem Gesetz rechtsverbindlich ist. Das BSG. hat zu dieser Frage schon wiederholt Stellung genommen und zunächst klargestellt, daß bei Prüfung der Voraussetzungen des Versorgungsanspruchs zwei Glieder der Ursachenkette zu unterscheiden sind - einmal der ursächliche Zusammenhang zwischen der militärischen Dienstverrichtung oder einem der übrigen in § 1 BVG genannten Tatbestände und dem schädigenden Vorgang (schädigendes Ereignis oder schädigende Einwirkungen), zum anderen die ursächliche Verknüpfung zwischen dem schädigenden Vorgang und der Gesundheitsstörung (Tod). Nur auf die Frage des ursächlichen Zusammenhangs zwischen einem schädigenden Vorgang und einer Gesundheitsstörung - d. h. auf das zweite Glied der Kausalreihe - erstreckt sich nach der Rechtsprechung des BSG. die Bindungswirkung des § 85 Satz 1 BVG. Sie umfaßt aber weder den schädigenden Vorgang noch die Folgen (Gesundheitsstörung) selbst, vielmehr nur ihre Verknüpfung miteinander. Deshalb sind die Fragen, ob der schädigende Vorgang überhaupt stattgefunden hat und ob die behauptete Folge noch vorliegt, bei der Umanerkennung nach dem BVG selbständig zu prüfen. Das Gleiche gilt für die Frage, ob der schädigende Vorgang seinerseits alle Tatbestandsmerkmale der im Einzelfall in Betracht kommenden Vorschriften des BVG erfüllt (vgl. BSG. 2 S. 113; 4 S. 21 (23); Urteil des 11. Senats vom 14.1.1958 - 11/8 RV 887/55, Leitsatz abgedruckt in SozR. BVG § 85 Bl. Ca 6 Nr. 8). Dies gilt auch dann, wenn es sich dabei um Fragen handelt, die im wesentlichen medizinischer Art sind und ohne Hinzuziehung eines medizinischen Sachverständigen nicht beantwortet werden können. Der Wortlaut des § 85 Satz 1 BVG läßt eine andere Auslegung nicht zu, zumal eine Ausnahmevorschrift einer ausdehnenden Auslegung nicht fähig ist. Der vom LSG. vertretenen Ansicht, der Gesetzgeber habe durch § 85 BVG alle medizinischen Fragen einer erneuten selbständigen Prüfung entziehen wollen, kann daher nicht beigetreten werden. Ein derartiger Wille des Gesetzgebers hat in der Vorschrift selbst, die ihrem Wortlaut nach - insbesondere durch das Wort "soweit" - eine klare Abgrenzung enthält, keinen Ausdruck gefunden. Das BSG. hat zwar a. a. O. ausgeführt, § 85 BVG sei als Ausnahme von der Regel, daß vom Inkrafttreten des BVG an dessen Tatbestände die alleinige Grundlage für die Versorgung bilden sollten, durch das gesetzgeberische Motiv gerechtfertigt, die Rechtssicherheit hinsichtlich der Feststellung des medizinischen Zusammenhangs zu wahren; die Vorschrift erstrecke sich demnach nur auf den Zusammenhang im medizinischen Sinne. Dies ist jedoch nicht so zu verstehen, daß bei Prüfung des ursächlichen Zusammenhangs die Entscheidung über eine medizinische Frage nach § 85 Satz 1 BVG stets rechtsverbindlich sein sollte. Die oben wiedergegebenen Ausführungen des BSG. betreffen Fälle, in denen die Beschränkung der Bindungswirkung auf das zweite Glied der Kausalkette - dieses ist im wesentlichen Gegenstand medizinischer Beurteilung - klargestellt werden sollte, nicht aber umgekehrt eine erweiternde Anwendung auf alle medizinischen Fragen in Betracht kam.
Im vorliegenden Fall war unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechung demnach vom LSG. zunächst selbständig zu prüfen, ob ein schädigender Vorgang vorgelegen hat, d. h. ob der Ehemann der Klägerin seinerzeit im Lazarett insofern unzulänglich behandelt worden ist, als man die bestehende Depression nicht erkannte und infolgedessen Maßnahmen unterließ, die erforderlich gewesen wären, um wahrscheinlich die der Depression entspringende Handlung zu verhindern. Sodann war ebenfalls ohne Bindung an frühere Feststellungen zu prüfen, ob der schädigende Vorgang die Voraussetzungen eines der in den §§ 1 bis 5 BVG genannten Tatbestände erfüllt - in diesem Falle, ob eine etwa unzulängliche Behandlung im Zusammenhang mit den dem militärischen Dienst eigentümlichen Verhältnissen gestanden hat. Erst für die weitere Frage, ob der Tod des Ehemannes auf diese unzulängliche Behandlung zurückzuführen ist, besteht nach § 85 Satz 1 BVG eine Bindung an die nach bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften getroffene Entscheidung.
Das LSG. hat den Umfang der Bindungswirkung des § 85 BVG im konkreten Fall zu eng gesehen, wenn es meint, sie erstrecke sich - ohne ausdehnende Anwendung - nur auf den Zusammenhang zwischen dem Vorgang des Erhängens und dem Tod, da das Erhängen der schädigende Vorgang im Sinne des BVG sei.
Schädigender Vorgang war im vorliegenden Falle gegebenenfalls die unzulängliche ärztliche Behandlung des Ehemannes der Klägerin, die darin bestand, daß man die Depression nicht erkannte und daher Vorsichtsmaßnahmen unterließ, die den Freitod wahrscheinlich verhindert hätten. Es handelt sich dabei allerdings nicht um ein "Handeln", sondern um ein "Unterlassen"; dieses ist aber dem Handeln als Ursache gleichzustellen, wenn, wie hier, ein Handeln erforderlich gewesen wäre (vgl. RVGer. 3 S. 45 Nr. 15). Hiernach war bereits das Nichterkennen der Depression, das zu dem Vorgang des Erhängens geführt hatte, der schädigende Vorgang im Sinne des BVG. Das zweite Glied der Kausalreihe (schädigender Vorgang - Gesundheitsstörung) hat also schon mit dem Nichterkennen der Depression begonnen.
Das LSG. hätte somit lediglich in dem oben dargelegten Umfange eine Bindung an die frühere Entscheidung annehmen dürfen, im übrigen aber alle Voraussetzungen des Versorgungsanspruchs nach dem BVG selbständig prüfen müssen. Das Revisionsgericht konnte diese Prüfung nicht selbst vornehmen, da das LSG. in der Annahme, es sei durch § 85 BVG auch hinsichtlich der Frage gebunden, ob es durch dem Wehrdienst eigentümliche Verhältnisse zu dem schädigenden Vorgang gekommen ist, keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen getroffen hat.
Die Sache war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen