Entscheidungsstichwort (Thema)
Form und Wirksamkeit der Klagerücknahme
Leitsatz (amtlich)
Die Wirksamkeit einer in der mündlichen Verhandlung erklärten Klagerücknahme ist nicht davon abhängig, daß die Protokollierungsvorschriften der § 160 Abs 3 Nr 8, § 162 Abs 1 ZPO beachtet worden sind.
Orientierungssatz
1. Da § 102 S 1 SGG die Klagerücknahme von keiner Form abhängig macht, kann die Klage in der mündlichen Verhandlung durch einfache Erklärung gegenüber dem Prozeßgericht zurückgenommen werden (vergleiche BSG 1963-01-31 9 RV 962/61 = SozR Nr 8 zu § 102 SGG).
2. Aus § 102 SGG läßt sich nicht entnehmen, daß diese Erklärung vom Kläger nochmals genehmigt werden muß, um als Klagerücknahme wirksam zu werden (vergleiche LSG Mainz 1974-01-14 L 2 J 32/73 = Breith 1974, 993 und LSG Mainz 1974-02-04 L 2 J 65/73 = Breith 1974, 906).
Normenkette
SGG § 102 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 160 Abs. 3 Nr. 8 Fassung: 1974-12-20, § 162 Abs. 1 Fassung: 1974-12-20; SGG § 102 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob der Rechtsstreit über den Anspruch der Klägerin auf weitere Berufsförderung durch Klagerücknahme erledigt oder fortzusetzen ist.
Ihre von der Beklagten geförderte Ausbildung zur Gymnastiklehrerin mußte die Klägerin 1973 nach einem Verkehrsunfall aufgeben. Sie wünschte, nunmehr zur Weberin umgeschult zu werden. Die Beklagte lehnte das ab (Bescheid vom 6. Mai und Widerspruchsbescheid vom 17. September 1975). Die Klägerin könne wie früher als Stenokontoristin tätig sein. Zum Beruf der Weberin sei sie aus medizinischen Gründen nicht ausbildungsfähig, zudem bestünden hierfür keine Vermittlungsmöglichkeiten.
Hiergegen hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht (SG) erhoben (Az.: S 5 An 2182/75). Nach dem zunächst auf Tonband vorläufig aufgezeichneten Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 30. August 1977 hat sie dort erklärt: "Ich nehme meine Klage zurück und werde auf Anraten des Gerichts bei der Rehabilitationsabteilung des Arbeitsamtes Stuttgart einen Antrag auf Gewährung von Leistungen zur beruflichen Rehabilitation stellen". Die Aufzeichnung ist nicht vom Band abgespielt worden.
Im April 1979 hat die Klägerin beim SG die "Wiederaufnahme des Verfahrens" beantragt. Ihr sei erst jetzt bewußt geworden, daß die Klagerücknahme sich auf den 1971 gestellten Rehabilitationsantrag bezogen habe. In der Verhandlung sei ihr die Klage als aussichtslos dargestellt worden. Sie habe aus "naivem Vertrauen" gehandelt und sei vom Richter, der Beklagten und der Beigeladenen "überfahren" worden.
Das SG hat durch Urteil vom 26. Juni 1979 festgestellt, daß der Rechtsstreit S 5 An 2182/75 durch die Klagerücknahme gem § 102 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erledigt worden ist. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen und ausgeführt: Die Erklärung über die Klagerücknahme sei zwar entgegen der Protokollierungsvorschrift des § 162 Abs 1 Satz 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) nicht nochmals abgespielt worden; dieser Protokollierungsmangel führe jedoch nicht zur Unwirksamkeit der Klagerücknahme. Die Klägerin sei bei Abgabe der Erklärung prozeßfähig gewesen. Sonstige Nichtigkeits- oder Anfechtungsgründe kämen nicht in Betracht.
In der vom LSG zugelassenen Revision bezeichnet die Klägerin die Klagerücknahme wegen des Protokollierungsfehlers und der übrigen geltend gemachten Gründe erneut als unwirksam.
Sie beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und
festzustellen, daß der Rechtsstreit nicht
erledigt ist, und die Beklagte, hilfsweise
die Beigeladene zur Förderung ihrer Ausbildung zur
Webgesellin zu verurteilen,
hilfsweise,
die Sache an einen anderen Senat des LSG
zurückzuverweisen.
Die Beklagte und die Beigeladene beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist unbegründet.
Dem LSG ist zuzustimmen, daß der Rechtsstreit gem § 102 Satz 2 SGG durch die Klagerücknahme vor dem SG erledigt worden ist. Dazu hat die von der Klägerin dort abgegebene, von ihr überdies nicht bestrittene Erklärung genügt.
Die Klagerücknahme hat das SGG in § 102 geregelt. Nach dessen Satz 1 kann der Kläger die Klage bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung zurücknehmen. Diese Vorschrift macht die Klagerücknahme von keiner Form abhängig. Demgemäß ist nicht zweifelhaft, daß die Klage (ua) in der mündlichen Verhandlung - wie im Zivilprozeß (vgl § 269 Abs 2 Satz 1 ZPO) - durch einfache Erklärung gegenüber dem Prozeßgericht zurückgenommen werden kann (vgl SozR Nr 8 zu § 102 SGG). Daß diese Erklärung vom Kläger nochmals genehmigt werden müsse, um als Klagerücknahme wirksam zu werden (so das LSG Rheinland-Pfalz in Breith 1974, 906 und 993), läßt sich aus § 102 SGG nicht entnehmen.
Die Wirksamkeit der Klagerücknahme ist in diesem Falle auch nicht von der Beachtung der Protokollierungsvorschriften abhängig. Diese enthalten zur Klagerücknahme mehrere aufeinander aufbauende Bestimmungen: 1. Die Klagerücknahme ist im Protokoll festzustellen (§ 160 Abs 3 Nr 8 ZPO). 2. Die Feststellung ist den Beteiligten vorzulesen oder zur Durchsicht vorzulegen; bei vorläufiger Aufzeichnung genügt es, wenn die Aufzeichnung vorgelesen oder abgespielt wird (§ 162 Abs 1 Satz 1 und 2 ZPO). 3. Im Protokoll ist zu vermerken, daß dies geschehen ist und die Genehmigung erteilt oder welche Einwendungen erhoben worden sind (§ 162 Abs 1 Satz 3 ZPO). Weder aus dem Wortlaut noch aus dem Sinn und Zweck dieser Vorschriften ergibt sich, daß sie - über § 102 SGG hinaus - weitere Voraussetzungen für die Wirksamkeit der Klagerücknahme festlegen.
Die Protokollierungsvorschriften der §§ 159 ff ZPO sollen lediglich zu Beweiszwecken beurkunden, was in der mündlichen Verhandlung geschehen ist, nicht aber die Wirksamkeit des dortigen Geschehens an die Feststellung im Protokoll binden. Wenn das Gesetz die Wirksamkeit einer Rechtsbehandlung von deren Beurkundung abhängig machen will, so bestimmt es das jeweils ausdrücklich. Das bloße Gebot, Erklärungen in einem Protokoll "festzustellen", läßt sich nicht als eine derartige Regelung deuten. Das gilt darum auch für die gemäß 1. gebotene "Feststellung" der Klagerücknahme im Protokoll.Die weiteren unter 2. und 3. angeführten Gebote sollen für die Richtigkeit der Feststellung noch eine zusätzliche Gewähr bieten und damit deren Beweiskraft verstärken. Damit dienen sie ebenfalls nur Beurkundungs- und Beweiszwecken.
In dem vorliegenden Fall ist die Grundregel zu 1. beachtet worden. Verfahrensfehlerhaft war allein, daß die vorläufige Aufzeichnung nicht abgespielt und darum auch das Gebot zu 3. unbeachtet geblieben ist. Der Senat kann jedoch offen lassen, welche Wirkung Verstöße gegen § 162 Abs 1 Sätze 1 bis 3 SGG im allgemeinen auf die Beweiskraft der Feststellung einer Klagerücknahme im Protokoll haben. Hier steht nämlich fest, daß die Klägerin vor dem SG die Rücknahme der Klage erklärt hat.
Der vom Senat vertretenen Auffassung zur Bedeutung von Protokollierungsmängeln bei der Klagerücknahme steht nicht entgegen, daß die Rechtsprechung zum Prozeßvergleich bei gleichen Protokollierungsmängeln einen wirksamen Prozeßvergleich mit prozeßbeendender Wirkung verneint (vgl BGHZ 14, 381, 391, 398; 16, 388, 390; BAGE 8, 228, 232 f). Die dafür maßgebenden Grunde hat am deutlichsten das Bundesarbeitsgericht (BAG) dargestellt. Bei einem Prozeßvergleich würden im Gegensatz ua zur Klagerücknahme in der Regel zugleich materiell-rechtliche Erklärungen mit abgegeben, so daß es ein Gebot der Rechtssicherheit sei, nach oft ausführlichen und gegensätzlichen Vergleichsverhandlungen den endgültigen Vergleichsinhalt in einwandfreier Form festzuhalten und den Parteien zur Kenntnis zu bringen. So werde auch übereilten Abschlüssen und Mißständen in der Praxis entgegengetreten. Diese Gründe gelten für die Klagerücknahme, wie das BAG selbst ausführt, nicht, jedenfalls nicht in einem Maße, daß deshalb auch bei der Klagerücknahme die Aufwertung von Protokollierungsvorschriften zu Wirksamkeitsvoraussetzungen geboten wäre. Die Klagerücknahme ist eine einseitige Prozeßhandlung. Der Kläger wird hier schon dadurch hinreichend geschützt, daß die Rücknahme der Klage feststehen muß. Wenn wegen Protokollierungsmängeln nicht festgestellt werden kann, ob eine Klage tatsächlich zurückgenommen worden ist, so geht dies nicht zu Lasten des Klägers. Weil dann eine Klagerücknahme nicht feststellbar wäre, müßte in diesem Falle der Rechtsstreit fortgesetzt werden.
Die von der Klägerin vor dem SG erklärte Klagerücknahme ist auch nicht aus anderen Gründen als den dargestellten Protokollierungsmängeln unwirksam. Die Klagerücknahme ist nicht davon berührt worden, daß die Klägerin ihr eine weitere Erklärung angefügt hat. Anhaltspunkte dafür, daß die Klägerin durch eine vom erstinstanzlichen Gericht ausgehende Täuschung oder Drohung zur Klagerücknahme veranlaßt worden wäre, sind nicht festgestellt, so daß dahinstehen kann, ob und wann eine so bewirkte Klagerücknahme als unwirksam gelten müßte. Nach den §§ 119 ff des Bürgerlichen Gesetzbuches ist die Klagerücknahme als Prozeßhandlung nicht wegen Irrtums anfechtbar (BSGE 14, 138; SozR 1500 § 102 Nr 2). Für ihren Widerruf entsprechend den Regeln über die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Endurteil abgeschlossenen Verfahrens (vgl dazu SozR 1500 aaO) fehlt es an einem Wiederaufnahmegrund nach den §§ 179 ff SGG, 578 ff ZPO.
Mithin ist die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 781797 |
Breith. 1982, 81 |