Leitsatz (redaktionell)
Kein Einverständnis iS von SGG § 124 Abs 2:
Ein Prozeßbeteiligter, der dem Gericht lediglich erklärt, daß er den Termin zur mündlichen Verhandlung nicht wahrnehmen werde, begibt sich damit noch nicht der Rechtsschutzgarantien, die der Grundsatz der Mündlichkeit gewährleisten soll. Er verzichtet insbesondere nicht darauf, daß die Darstellung des Sachverhalts, der die Grundlage der Entscheidung bildet, in - öffentlicher - mündlicher Verhandlung erfolgt (SGG § 112 Abs 1 und 2, SGG § 61). Ein Schreiben mit diesem Inhalt kann deshalb auch nicht sinngemäß als eine Erklärung nach SGG § 124 Abs 2 aufgefaßt werden.
Normenkette
SGG § 124 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 112 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 61 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 9. Dezember 1971 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen und die Gewährung einer höheren Rente.
Der 1915 geborene Kläger hat als Angehöriger der deutschen Sicherheitspolizei in B im 2. Weltkrieg eine Schußverletzung erlitten. Im Bescheid vom 1. Juni 1966 erkannte die Beklagte "Bewegungseinschränkung und Weichteilstecksplitter rechtes Schultergelenk, verwachsene Narben in Höhe der rechten Schulter" als Schädigungsfolgen an und gewährte dem Kläger ab 1. Januar 1964 Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v. H. Grundlagen für den Bescheid waren neben Auskünften des Krankenbuchlagers B insbesondere die von der Beklagten veranlaßten medizinischen Untersuchungen des Klägers durch den Chirurgen Dr. M und den Internisten Dr. W, beide in N. Im Widerspruchsbescheid vom 5. Oktober 1967 erkannte die Beklagte ein besonderes berufliches Betroffensein beim Kläger an und gewährte ihm unter Änderung des Erstbescheides vom 1. Januar 1964 an eine Versorgungsrente nach einer MdE um 40 v. H. Im übrigen wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück, weil die vom Kläger weiter geltend gemachten Leiden entweder nicht nachgewiesen oder keine Schädigungsfolgen seien.
Seine Klage hiergegen wies das Sozialgericht (SG) Bremen durch Urteil vom 7. April 1970 ab.
Gegen dieses Urteil legte der Kläger zunächst persönlich Berufung ein. Auf die Anfrage des Landessozialgerichts (LSG) Bremen vom 15. Januar 1971, ob er mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden sei, da er "ja ohnehin nicht zu einer mündlichen Verhandlung hier in Bremen erscheinen" könnte, antwortete er im Schreiben vom 5. April 1971 u. a.:
"Es ist mir nicht möglich zu einer mündlichen Verhandlung zu erscheinen. Das Ber. Verfahren kann ich nicht zurücknehmen, ich werde dem Gericht durch Zeugen beweisen, das ich mier diese Leiden beim BdS. zugezogen habe".
Der letzte Absatz dieses Schreibens lautete:
"Sollte es dem Gericht nicht möglich sein, ein zufriedenstellenden Beschluss in meinem Verfahren zu erlangen, so bin ich bereit einen Rechtsanwalt zu beauftragen, und diese Sache biss zum Ende zu bestreiten."
Mit Verfügung vom 13. Mai 1971 setzte das LSG einen Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 15. Juli 1971 fest und lud die Beteiligten. Am 7. Juni 1971 meldete sich daraufhin der Rechtsanwalt Dr. Franz J aus Bremen als Prozeßbevollmächtigter des Klägers beim LSG. Mit Hinweis darauf, daß es ihm aus Zeitgründen nicht möglich sei, sich bis zum festgesetzten Termin ausreichend vorzubereiten, beantragte er am 16. Juni 1971 dessen Aufhebung. Das LSG gab diesem Antrag mit Verfügung vom gleichen Tage statt. Am 14. Juli 1971 ging die von Dr. J verfaßte ausführliche Berufungsbegründung beim LSG ein.
Der Kläger beantragte, die Beklagte unter Aufhebung des SG-Urteils und der angefochtenen Bescheide zu verurteilen, bei ihm "Darmleiden, Leistenbruch, Zahnschaden und Krampfadern" als weitere Schädigungsfolgen anzuerkennen und ihm hierwegen ab 1. Januar 1964 eine höhere Rente als nach einer MdE um 40 v. H. zu gewähren. Zur Begründung führte er im einzelnen an, aus welchem Anlaß und bei welcher Gelegenheit diese Leiden bei ihm während seiner Zugehörigkeit zur Sicherheitspolizei als Folge von Dienstverrichtungen oder Kampfhandlungen entstanden seien.
Das LSG holte daraufhin Auskünfte der früheren Kameraden des Klägers bei der Sicherheitspolizei Belgrad, E, B und G ein. Sie konnten über Verwundungen oder Erkrankungen des Klägers keine näheren Angaben machen. Die Anschriften der vom Kläger als weitere Zeugen genannten ehemaligen Kameraden K und Sch konnte das LSG nicht ermitteln.
Am 3. November 1971 legte Rechtsanwalt Dr. J die Vertretung des Klägers nieder. Am 25. November 1971 teilte die Beklagte mit, daß sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden sei.
Darauf hat das LSG ohne mündliche Verhandlung am 9. Dezember 1971 die Berufung des Klägers als unbegründet zurückgewiesen. Das LSG ging in seinem Urteil ohne nähere Begründung davon aus, daß sich beide Parteien mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt hatten.
In den Entscheidungsgründen hat das LSG ausgeführt, daß die Schulterverletzung des Klägers zutreffend nach einer MdE um 30 v. H. eingeschätzt worden sei. Auch die Bewertung des beruflichen Betroffenseins des Klägers durch die Beklagte mit 10 v. H. sei nicht zu beanstanden, zumal der Kläger auch in Amerika in seinem Schlachterberuf tätig sei. Die vom Kläger weiter geltend gemachten Leiden lägen insbesondere nach den von der Beklagten eingeholten Sachverständigenäußerungen entweder nicht vor oder stünden in keinem Zusammenhang mit dem Wehrdienst. Hinsichtlich der Zahnschäden ließe sich ein schädigendes Ereignis nicht nachweisen. - Die Revision hat das LSG nicht zugelassen.
Nach Bewilligung des Armenrechts hat der Kläger am 7. Juni 1972 Revision eingelegt und diese am 29. Juni 1972 begründet. Er rügt zunächst die Verletzung der §§ 62 und 124 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch das LSG Das LSG habe auf Grund mündlicher Verhandlung entscheiden müssen; denn von seiten des Klägers fehle trotz der gegenteiligen Feststellung des LSG das Einverständnis zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung. Damit sei zugleich der Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG) verletzt; da er seit dem 2. November 1971 keinen Prozeßvertreter mehr gehabt habe, hätte das LSG ihn zumindest noch schriftlich anhören müssen. Das angefochtene Urteil beruhe auch auf diesen Verstößen.
Der Kläger rügt ferner die Verletzung der §§ 103, 106 und 109 SGG durch das LSG. In bezug auf die vom Kläger geltend gemachte Anerkennung weiterer Leiden hätte das LSG den Sachverhalt weiter aufklären müssen und hierzu nach den Darlegungen in der Berufungsbegründung vom 13. Juli 1971 auch allen Anlaß gehabt. Es hätte den Kläger entweder persönlich oder vor dem zuständigen Generalkonsulat, notfalls auch eidlich, vernehmen müssen. Dabei hätte sich ergeben, daß der Kläger die heutigen Anschriften der Zeugen K, Sch und G zum Beweis seiner Behauptungen hätte nennen können. Das LSG hätte bei der gegebenen Sachlage auch die Pflicht gehabt, den Kläger über sein Antragsrecht nach § 109 SGG zu belehren. Bei Beachtung all dieser Pflichten hätte sich die Richtigkeit der Behauptungen des Klägers herausgestellt, so daß das Urteil auch auf diesen Verfahrensverstößen beruhe.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG, ggf. an einen anderen Senat des LSG, zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt ebenfalls,
das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Sie teilt die Auffassung des Klägers in bezug auf die gerügte Verletzung der §§ 62, 124 SGG, falls man die o. a. Erklärung des Klägers in seinem Schreiben vom 5. April 1971 nicht als Einverständniserklärung nach § 124 Abs. 2 SGG ansehen könne.
Beide Parteien haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung im Revisionsverfahren einverstanden erklärt.
II
Mit Rücksicht auf das Einverständnis beider Beteiligten konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§§ 124 Abs. 2, 165, 153 Abs. 1 SGG).
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Die Revision ist auch statthaft. Da das LSG die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen hat, ist sie nur statthaft, wenn u. a. ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG gerügt wird und vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150). Das ist hier der Fall.
Das LSG hat zu Unrecht ohne mündliche Verhandlung entschieden; denn eine Einverständniserklärung des Klägers i. S. von § 124 Abs. 2 SGG lag nicht vor. Diese Vorschrift stellt eine Ausnahme von dem Grundsatz der Mündlichkeit des Gerichtsverfahrens dar und ist daher streng auszulegen (vgl. BSG in SozR Nr. 6 zu § 124 SGG; BAG 12, 56). Der Grundsatz der Mündlichkeit geht letztlich auf den verfassungsrechtlich geschützten Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zurück (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -). Ausnahmen hiervon sind daher nur zulässig, wenn ein entsprechender Wille der Beteiligten durch ausdrückliche - mündliche oder schriftliche - Prozeßerklärung zweifelsfrei festgestellt werden kann (vgl. Peters-Sautter-Wolff, Komm. z. SGG; Anm. 2 zu § 124 SGG; ferner BSG in SozR Nr. 4 zu § 124 SGG). Aus den Prozeßakten ist eine Einverständniserklärung gemäß § 124 Abs. 2 SGG von seiten des Klägers nicht ersichtlich. Eine solche Erklärung kann jedenfalls nicht in dem eingangs zitierten Satz aus seinem Schreiben vom 5. April 1971 erblickt werden. Der Kläger erklärt darin lediglich, daß es ihm nicht möglich sei, zu einer mündlichen Verhandlung zu erscheinen, obwohl der Berichterstatter des LSG ihm in der Anfrage vom 15. Januar 1971 ausdrücklich die Frage gestellt hatte, ob er mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden sei. Ein Prozeßbeteiligter, der dem Gericht lediglich erklärt, daß er den Termin zur mündlichen Verhandlung nicht wahrnehmen werde, begibt sich damit noch nicht der Rechtsschutzgarantien, die der Grundsatz der Mündlichkeit gewährleisten soll. Er verzichtet insbesondere nicht darauf, daß die Darstellung des Sachverhalts, der die Grundlage der Entscheidung bildet, in - öffentlicher - mündlicher Verhandlung erfolgt (§§ 112 Abs. 1 und 2, 61 SGG). Die Mitteilung des Klägers kann deshalb auch nicht sinngemäß als eine Erklärung nach § 124 Abs. 2 SGG aufgefaßt werden. Das ergibt sich im übrigen auch aus der weiteren Erklärung des Klägers im selben Schreiben, wonach er einen Rechtsanwalt beauftragen wolle, sofern das Gericht nicht zu seinen Gunsten entscheiden könne. Er bringt damit zum Ausdruck, daß er die gegebenen prozessualen Möglichkeiten zur Wahrung seiner behaupteten Rechte ausschöpfen wollte. Infolgedessen kann der o. a. Erklärung im Schreiben vom 5. April 1971 nicht die Bedeutung beigemessen werden, die eine Erklärung i. S. von § 124 Abs. 2 SGG unzweideutig haben muß. Fehlt es aber an dieser Erklärung, dann ist nicht nur § 124 Abs. 2 SGG verletzt, sondern wegen verfahrenswidrigen Fehlens der mündlichen Verhandlung gleichzeitig der Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (§§ 62, 124 Abs. 1 SGG; vgl. BSG in SozR Nr. 6 zu § 124 SGG).
Die Revision ist infolgedessen statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, ohne daß es darauf ankam, ob auch die weiteren vom Kläger gerügten Verfahrensmängel vorliegen (vgl. BSG in SozR Nr. 122 zu § 162 SGG).
Die Revision ist auch begründet; denn das Urteil beruht auf diesen Verfahrensverstößen (§ 162 Abs. 2 SGG). Es ist nämlich nicht auszuschließen, daß das LSG zu einer anderen, für den Kläger günstigeren Entscheidung gelangt wäre, wenn es den Grundsatz der Mündlichkeit des Verfahrens beachtet hätte.
Der Senat konnte nicht abschließend entscheiden. Vielmehr mußte die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen