Leitsatz (amtlich)

1. Die Berufung des Klägers gegen ein Urteil des Sozialgerichts, durch das seine Klage auf Zuerkennung von Versorgungsleistungen wegen Versäumung der Anmeldefrist (BVG § 56) abgewiesen wurde, ist nicht nach SGG § 148 Nr 1 ausgeschlossen, wenn der Kläger im Verfahren vor dem Sozialgericht zur Begründung der Rechtzeitigkeit seines Antrages vorgebracht hatte, daß seine Gesundheitsstörungen auf einen vor dem 1950-10-01 gestellten Antrag als Folge einer Schädigung anerkannt worden sind oder mit einer anerkannten Gesundheitsstörung ursächlich zusammenhängen (BVG § 57 Abs 2).

2. Bei der Anwendung des SGG § 148 Nr 1 stehen den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes über Fristversäumnis und ihre Ausnahmen ( BVG §§ 56, 57) die entsprechenden Vorschriften des bisherigen Versorgungsrechts gleich.

 

Normenkette

SGG § 148 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03; BVG § 56 Fassung: 1950-12-20, § 57 Abs. 2 Fassung: 1955-01-19

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 2. Dezember 1955 wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger beantragte am 17. August 1950 die Gewährung von Versorgung wegen Gesundheitsstörungen, die er auf den Militärdienst im ersten Weltkrieg zurückführte. Die Versorgungsbehörden lehnten den Antrag auf Grund des § 37 Abs. 5 des Gesetzes über die Versorgung von Kriegs- und Militärdienstbeschädigten sowie ihren Hinterbliebenen vom 24. Juli 1950 (VOBl. für Groß-Berlin I S. 318) (Berliner KVG) und des § 57 Abs. 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) ab. Im Klageverfahren beantragte der Kläger, die gesundheitlichen Schäden, die er sich im ersten Weltkrieg zugezogen habe, als Versorgungsleiden anzuerkennen und die Minderung der Erwerbsfähigkeit auf 100 % festzusetzen. Nach Erörterung des Sach- und Streitverhältnisses mit dem Kläger in der mündlichen Verhandlung am 2. November 1954 wies das Sozialgericht (SG.) Berlin mit Urteil von demselben Tage die Klage ab. Es war der Auffassung, daß der Kläger einen Anspruch auf Versorgung nicht mehr geltend machen könne, da die Gesundheitsschäden, auf die er seinen Anspruch stützte, weder nach den bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften bereits als Leistungsgrund anerkannt waren noch mit einem anerkannten Gesundheitsschaden ursächlich zusammenhängen. Das Urteil des SG. enthält am Schlusse einen Absatz, der mit den Worten beginnt "Gegen dieses Urteil ist die Berufung gegeben" und dann darüber belehrt, in welcher Form und Frist die Berufung einzulegen sei.

Das Landessozialgericht (LSG.) Berlin hat mit Urteil vom 2. Dezember 1955 die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen. Es führte aus, daß der Anspruch des Klägers im Verwaltungsverfahren wegen Fristversäumnis nach § 37 Abs. 5 Berliner KVG und § 57 Abs. 2 BVG abgelehnt worden sei. In einem solchen Falle sei durch § 148 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) der Streit der Nachprüfung durch das Berufungsgericht entzogen. Da das SG. die Berufung nicht zugelassen habe, sei sie unzulässig. Das LSG. hat die Revision nicht zugelassen.

Der Kläger hat das Urteil des LSG., das ihm am 24. Dezember 1955 zugestellt worden ist, am 23. Januar 1956 mit der Revision angefochten und am 18. Februar 1956 die Revision begründet. Er beantragt, das Urteil des LSG. Berlin vom 2. Dezember 1955 aufzuheben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen. Der Kläger rügt als einen wesentlichen Mangel des Verfahrens, daß das LSG. die Berufung als unzulässig verworfen hat, obwohl es eine Sachentscheidung hätte treffen müssen. Das SG. habe im Schlußabsatz der Urteilsbegründung die Berufung ausdrücklich zugelassen. Das Berufungsgericht habe aber auch ohne besondere Zulassung nach § 150 Nr. 1 SGG die Berufung als zulässig behandeln müssen, weil aus § 148 Nr. 1 SGG die Zulässigkeit der Berufung sich ergebe, da nach dem Klagevortrag einer der Ausnahmefälle des § 57 BVG vorliege.

Der Beklagte beantragt, die Revision zu verwerfen.

Da das LSG. die Revision nicht zugelassen und ein Prozeßurteil erlassen hat, ist die Revision nur nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, also dann, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird und tatsächlich vorliegt. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

Die Ansicht des Klägers, das SG. habe in seinem Urteil vom 2. November 1954 die Zulassung der Berufung auf Grund des § 150 Nr. 1 SGG ausgesprochen, trifft allerdings nicht zu. Das SG. hat vielmehr nur die durch § 136 Abs. 1 Nr. 7 SGG vorgeschriebene Rechtsmittelbelehrung erteilt. Dagegen hat das LSG. verkannt, daß die Berufung auch ohne besondere Zulassung zulässig war, weil die Berufung nach § 148 Nr. 1 SGG dann nicht ausgeschlossen ist, wenn einer der Ausnahmefälle des § 57 BVG geltend gemacht wird.

Für die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der Berufung nach § 148 SGG ist grundsätzlich der Inhalt der Entscheidung des SG. maßgebend (BSG. 1, 225; 3, 217). Das Urteil des SG. betrifft im vorliegenden Falle einen Antrag auf Gewährung von Versorgung, den die Verwaltungsbehörden wegen Versäumung der Anmeldefrist, die in der Regel nach § 56 Abs. 1 BVG zwei Jahre beträgt, abgelehnt hatten. Wäre im ersten Rechtszug die Wahrung der Regelfrist der einzige Streitpunkt und Gegenstand der Entscheidung gewesen, so könnte das Urteil des SG. nicht mit der Berufung angefochten werden. Der Kläger hat aber seinen Versorgungsanspruch darauf gestützt, daß trotz Ablaufes der regelmäßigen Anmeldefrist für ihn die Voraussetzungen des § 57 Abs. 2 zweiter Halbsatz BVG zuträfen. Daß er sich auf diese Vorschriften berufen wollte, ergibt sich aus dem klageabweisenden Urteil des SG., das im wesentlichen damit begründet ist, daß die Gesundheitsstörungen des Klägers bisher nicht als Schädigungsfolgen anerkannt waren oder mit einer anerkannten Gesundheitsstörung in ursächlichem Zusammenhang stehen. Der Kläger hat also schon im ersten Rechtszuge durch sein vom SG. im einzelnen gewürdigtes Vorbringen dartun wollen, daß zu seinen Gunsten ein Ausnahmetatbestand im Sinne des § 57 Abs. 2 zweiter Halbsatz BVG vorliege, der es ihm ermögliche, auch noch nach Ablauf der Anmeldefrist seinen Anspruch auf Grund des § 57 Abs. 1 BVG geltend zu machen. Damit hat er im Sinne des § 148 Nr. 1 SGG einen der Ausnahmefälle des § 57 BVG "geltend gemacht". In einem solchen Falle ist die Berufung, wie der Senat für das Anwendungsgebiet des § 57 Abs. 1 BVG bereits entschieden hat (Urteil vom 26. November 1957 - 10 RV 318/56 -), zulässig.

Die Vorschrift in § 148 Nr. 1 SGG, daß bei einem Streit über die Fristwahrung die Berufung ausnahmsweise zulässig ist, bezieht sich nach ihrem Wortlaut nur auf die im BVG geregelten Ausnahmen von den versorgungsrechtlichen Grundsätzen über den Verlust von Versorgungsansprüchen wegen Fristversäumnis. Da das BVG erst am 1. Oktober 1950 in Kraft getreten ist, deckt der Wortlaut des § 148 Nr. 1 SGG nicht diejenigen Fälle der Fristversäumnis und ihrer Ausnahmen, für welche das bis zu diesem Zeitpunkt geltende Versorgungsrecht in Betracht kommt. Trotzdem liegt kein Grund vor, diese Fälle verfahrensrechtlich anders zu behandeln als die nach dem BVG zu beurteilenden. Aus denselben Erwägungen, aus denen bei Anwendung des § 148 Nr. 3 SGG eine Rente nach dem Bayerischen Gesetz über Leistungen an Körperbeschädigte der Grundrente im Sinne des BVG gleich steht (BSG. 1, 41), müssen auch die bei der Versäumung der Anmeldefristen geltenden Ausnahmefälle des § 37 Abs. 5 Berliner KVG den Ausnahmefällen des § 57 BVG insoweit gleich gestellt werden, als die Zulässigkeit der Berufung davon abhängt, daß einer jener Ausnahmefälle geltend gemacht wird.

Das LSG. hat hiernach die Berufung des Klägers zu Unrecht als unzulässig verworfen. Der vom Kläger gerügte wesentliche Mangel des Verfahrens liegt mithin vor, so daß die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft ist. Da der Kläger die Revision form- und fristgerecht eingelegt und begründet hat, ist sie zulässig.

Die Revision ist auch begründet; denn das angefochtene Urteil beruht auf dem Verfahrensmangel, der zur Statthaftigkeit der Revision geführt hat. Der Senat konnte nicht selbst in der Sache entscheiden, da das LSG. den zu beurteilenden Sachverhalt nicht festgestellt hat. Das angefochtene Urteil war daher gemäß § 170 Abs. 2 SGG aufzuheben, und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Die Entscheidung über die Erstattung außergerichtlicher Kosten des Verfahrens bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2290881

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