Entscheidungsstichwort (Thema)
Mittelbare Folgen eines Arbeitsunfalls
Leitsatz (redaktionell)
Die Folgen eines nicht unter Versicherungsschutz stehenden Unfalls sind als mittelbare Folgen eines früheren Arbeitsunfalls anzuerkennen, wenn die durch den Arbeitsunfall verursachte Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes das Ausmaß der Folgen des späteren Unfalls rechtlich wesentlich mitverursacht hat.
Normenkette
RVO § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 16. Juni 1954 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Ehemann der Klägerin hatte am 19. Dezember 1950 im landwirtschaftlichen Unternehmen seines Vaters einen Arbeitsunfall erlitten. Der Arbeitsunfall hatte eine Verletzung des linken Unterschenkels zur Folge. Am 21. Dezember 1950 schickte der behandelnde Arzt seinen Assistenzarzt Dr. ... mit einem Kraftwagen zu dem Ehemann der Klägerin, um ihn zum Röntgen ins Krankenhaus nach L. bringen zu lassen. Auf dem Wege dorthin stürzte der von Dr. ... gesteuerte Kraftwagen von einer über die Hase führenden Brücke in diesen Fluß. Beide Wageninsassen kamen ums Leben.
Durch Bescheid vom 1. März 1951, welcher der Klägerin "für sich und ihre fünf Kinder unter 18 Jahren" erteilt worden ist, hat die beklagte landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft die Ansprüche auf Hinterbliebenenrente und Sterbegeld mit der Begründung abgelehnt, daß der Tod des Ehemannes der Klägerin nicht auf die Unterschenkelverletzung infolge des Arbeitsunfalls vom 19. Dezember 1950 zurückzuführen, sondern Folge des Verkehrsunfalls vom 21. Dezember 1950 sei und daß der Ehemann der Klägerin auf der Fahrt nach L. nicht unter Versicherungsschutz gestanden habe.
Die Berufung gegen diesen Bescheid hat das Oberversicherungsamt Oldenburg am 10. Juli 1951 durch Urteil als unbegründet zurückgewiesen.
Gegen dieses Urteil, das am 25. August 1951 abgesandt worden ist, hat die Klägerin mit dem am 25. September 1951 beim Oberversicherungsamt eingegangenen Schriftsatz vom 24. September 1951 Rekurs eingelegt. Auf Grund eines Hinweises in dem Schreiben des Oberversicherungsamts vom 4. Oktober 1951 hat der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin mit dem am 13. Oktober 1951 beim Oberversicherungsamt eingegangenen Schriftsatz vom 12. Oktober 1951 gebeten, das eingelegte Rechtsmittel als Berufung an das Oberverwaltungsgericht in Lüneburg anzusehen. Dieser Schriftsatz ist vom Oberversicherungsamt auf Grund der Verfügung vom 26. Oktober 1951 urschriftlich an das Oberverwaltungsgericht weitergeleitet worden. Dieses hat der beklagten Berufsgenossenschaft eine Abschrift des Rekursschriftsatzes vom 24. September 1951 zugestellt.
Nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist die Sache, in der bis dahin eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts nicht ergangen war, an das Landessozialgericht Celle übergegangen. Dieses hat durch Urteil vom 16. Juni 1954 die Berufung gegen das in der Urteilsurschrift auf den 10. Juni 1951 datierte Urteil des Oberversicherungsamts Oldenburg zurückgewiesen.
Die Klägerin hat gegen das Urteil des Landessozialgerichts mit dem am 17. August 1954 beim Bundessozialgericht eingegangenen Telegramm ihres Prozeßbevollmächtigten Revision eingelegt. Der gleichfalls am 17. August 1954 eingegangene Schriftsatz des Prozeßbevollmächtigten vom 16. August 1954 gibt nur den Wortlaut des Telegramms wieder und enthält die Erklärung, das Urteil des Landessozialgerichts sei am 16. Juli 1954 zugestellt worden. Am 16. September 1954 ist beim Bundessozialgericht der von dem Unterbevollmächtigten des Prozeßbevollmächtigten, Rechtsanwalt A. in Kassel, unterzeichnete Schriftsatz von demselben Tag eingegangen. In ihm rügt die Klägerin zur Begründung der Revision eine Verletzung der §§ 103, 106 SGG und beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und der Klägerin Hinterbliebenenrente und Sterbegeld zu gewähren.
Mit Schriftsatz vom 13. Januar 1955 (eingegangen am 14. Januar 1954) beantragt der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin, ihr für die Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, der Klägerin nicht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren und die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Das Berufungsgericht hat am Schluß seiner Entscheidung ausgeführt:
Diese Entscheidung ist nach § 214 (5) SGG endgültig.
Eine Revision ist nicht zulässig. Sie findet nur statt, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird oder bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs des Todes der Verunglückten mit einem Arbeitsunfall das Gesetz verletzt hat.
Diese Rechtsmittelbelehrung ist in sich widerspruchsvoll und unzutreffend. Der Rechtsstreit war beim Inkrafttreten des SGG bei einem allgemeinen Verwaltungsgericht des zweiten Rechtszugs, nämlich dem Oberverwaltungsgericht in Lüneburg, rechtshängig und ist nach § 215 Abs. 8 SGG auf das Landessozialgericht Celle übergegangen. Wie im Falle des § 215 Abs. 7 SGG, so sind auch bei Anwendung des § 215 Abs. 8 SGG die Entscheidungen der Landessozialgerichte nicht etwa in entsprechender Anwendung des § 214 Abs. 5 SGG endgültig (zu vergl. BSG in SozR. zu SGG § 215, Bl. Da2 Nr. 9; BSG 1 S. 284). Die Revision an das Bundessozialgericht ist infolgedessen nicht ausgeschlossen.
Diese Unrichtigkeit der Rechtsmittelbelehrung hat zur Folge, daß für die Einlegung der Revision die Jahresfrist des § 66 Abs. 2 SGG zur Verfügung stand. Die Revision ist deshalb mit Schriftsatz vom 16. September 1954 form- und fristgerecht eingelegt worden. Eine Feststellung des Tages der Zustellung des angefochtenen Urteils und eine Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag waren nicht erforderlich.
Die Revision wird damit begründet, daß das Berufungsgericht die §§ 103, 106 SGG verletzt habe. Sie rügt also einen wesentlichen Mangel des Verfahrens (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
Diesen Mangel erblickt die Revision darin, daß das Berufungsgericht es unterlassen habe, den Hergang des Verkehrsunfalls auf der Hasebrücke von Amts wegen zu klären und die Klägerin zu näheren tatsächlichen Angaben über diesen Hergang zu veranlassen. Nach Meinung der Klägerin hätten Beweiserhebungen über den Verkehrsunfall zu dem Ergebnis geführt, daß der Ehemann der Klägerin die Möglichkeit gehabt hätte, sich aus dem ins Wasser gestürzten Kraftwagen zu retten, wenn er nicht durch die Beinverletzung behindert gewesen wäre.
Auch der Senat ist der Auffassung, daß das Verfahren des Berufungsgerichts an einem wesentlichen Mangel leidet.
Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Ehemann der Klägerin nach Lage des zu beurteilenden Falles auf der Fahrt zum Krankenhaus in L. nicht unter Versicherungsschutz gestanden hat. Es hat auch zutreffend ausgeführt, daß der Arbeitsunfall des Ehemanns der Klägerin vom 19. Dezember 1950 dann mittelbar Ursache des tödlichen Ausgangs des Verkehrsunfalls vom 21. Dezember 1950 gewesen wäre, wenn der Ehemann der Klägerin sich deshalb nicht aus dem ins Wasser gestürzten Kraftwagen hätte retten können, weil er durch die Folgen des Arbeitsunfalls behindert war. Denn die Folgen eines nicht unter Versicherungsschutz stehenden Unfalls sind als mittelbare Folgen eines früheren Arbeitsunfalls anzuerkennen, wenn die durch den Arbeitsunfall verursachte Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes das Ausmaß der Folgen des späteren Unfalls rechtlich wesentlich mitverursacht hat (BSG 1 S. 254).
Es kam also auch nach Meinung des Berufungsgerichts darauf an, ob die Behinderung durch die Beinverletzung es dem Ehemann der Klägerin unmöglich gemacht hat, sich aus dem Kraftwagen zu retten. Das Berufungsgericht hätte sich infolgedessen zur Begründung für die Verneinung dieser Frage nicht auf den Hinweis beschränken dürfen, daß sich der körperlich unbehinderte Dr. ... nicht aus dem Kraftwagen habe befreien können. Der Umstand, daß es einem vor dem Unfall körperlich nicht behinderten Insassen nicht mehr gelungen ist, den verunglückten Kraftwagen zu verlassen, rechtfertigt für sich allein noch nicht den Schluß, daß der andere Insasse des Wagens auch dann eine solche Rettungsmöglichkeit nicht gehabt hätte, wenn er körperlich völlig unbehindert gewesen wäre. Es ist durchaus denkbar, daß sich Dr. ... deshalb nicht retten konnte, weil er durch das Steuerrad, durch die Lage des Wagens im Wasser, durch Beschädigungen des Wagens oder durch sonstige Umstände, die für den Ehemann der Klägerin nicht zutreffen, in besonderem Maße behindert war. Das Berufungsgericht hätte deshalb versuchen müssen, durch Beiziehung der Untersuchungsakten der Polizei und der Staatsanwaltschaft und erforderlichenfalls durch Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen zu ermitteln, in welchem Zustand sich der Kraftwagen unter Wasser befunden hat, welche Lage er hatte und welche Schlüsse hieraus und aus der Lage der beiden Leichen hinsichtlich der Rettungsmöglichkeit gezogen werden können. Auch könnten Ermittlungen darüber von Bedeutung sein, ob die beiden tödlich Verunglückten lediglich durch Ertrinken zu Tode gekommen sind oder bereits vorher mehr oder weniger schwer verletzt waren. Endlich enthält das Urteil des Berufungsgerichts auch keine Feststellung über die Art der Unterschenkelverletzung des Ehemanns der Klägerin und darüber, in welchem Umfang er durch diese Verletzung in seiner Bewegungsfähigkeit behindert war.
Dieser von der Revision mit Recht gerügte Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht (§§ 103, 106 SGG) hat zur Folge, daß das Verfahren des Berufungsgerichts an einem wesentlichen Mangel leidet. Die Revision der Klägerin ist infolgedessen zulässig (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
Das angefochtene Urteil beruht auch auf diesem Verfahrensmangel; denn es besteht die Möglichkeit, daß die vom Berufungsgericht unterlassenen Ermittlungen zu neuen Feststellungen von rechtserheblicher Bedeutung und zu einer anderen Entscheidung in der Sache selbst geführt hätten (vgl. BSG in SozR. zu SGG § 162, Bl. Da7 Nr. 29; BVerwG. 1 S. 281; Haueisen in NJW. 55 S. 1857, hier S. 1859). Die Revision ist deshalb begründet (§ 162 Abs. 2 SGG).
Da eine Entscheidung des Bundessozialgerichts in der Sache selbst nach Lage des Falles nicht möglich ist, war das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).
Bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung der Sache wird das Berufungsgericht auch zu beachten haben, daß sich der Bescheid der Beklagten vom 1. März 1951 nicht nur auf die Ansprüche der in den Vorurteilen allein aufgeführten Klägerin, sondern auch auf die Ansprüche der Kinder unter 18 Jahren bezieht und daß der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin in der an das Oberversicherungsamt Oldenburg gerichteten Berufungsschrift vom 29. März 1951 ausdrücklich die Erklärung abgegeben hat, die Klägerin handele bei der Einlegung des Rechtsmittels auch für diese Kinder. In diesem Zusammenhang wird auch die Bezugsberechtigung für das Sterbegeld (§§ 586 Abs. 1 Nr. 1, 203 RVO) zu prüfen sein.
Im übrigen wird darauf aufmerksam gemacht, daß das Datum in der Urschrift des Urteils des Oberversicherungsamts Oldenburg offenbar auf einem Schreibfehler beruht.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen