Entscheidungsstichwort (Thema)
Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes. verfassungsrechtliche Unvereinbarkeitserklärung. Anwendung des § 152 Abs 1 AFG idF vom 21.12.1993
Leitsatz (amtlich)
1. Die Beschränkung von Zugunstenregelungen nach der verfassungsgerichtlichen Unvereinbarkeitserklärung durch § 152 Abs 1 AFG idF des 1. SKWPG vom 21.12.1993 (BGBl I 2353) erfaßt nicht bei Inkrafttreten des 1. SKWPG am 1. Januar 1994 abgeschlossene Verwaltungsverfahren.
2. Wird ein Gesetz mit verwaltungsverfahrensrechtlichem Inhalt während des gerichtlichen Verfahrens geändert, so richtet sich der zeitliche Anwendungsbereich des Gesetzes nach allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Prozeßrechts, sofern nicht ein verfassungskonform abweichender Geltungswille des Gesetzes festzustellen ist (Fortführung von BSG vom 15.12.1982 – GS 2/80 = BSGE 54, 223 = SozR 1300 § 44 Nr 3; BSG vom 14.7.1993 – 6 RKa 71/91 = BSGE 73, 25 = SozR 3-2500 § 116 Nr 4).
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
AFG § 138 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1993-12-21, § 152 Abs. 1 Fassung: 1987-12-14, Abs. 1 Fassung: 1993-12-21; SGB X § 44 Abs. 1 S. 1; BVerfGG § 79 Abs. 2 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. April 1996 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Rechtsstreit betrifft die Nachzahlung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) im Wege der Überprüfung für die Zeit vom 1. Januar 1989 bis 20. März 1991, weil die beklagte Bundesanstalt für Arbeit (BA) aufgrund des 1992 für verfassungswidrig erklärten § 138 Abs 1 Nr 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) Partnereinkommen berücksichtigt hat.
Der 1942 geborene Kläger bezog seit 1982 Anschluß-Alhi. Im April 1987 gab er an, er lebe seit Dezember 1986 mit einer Partnerin in eheähnlicher Gemeinschaft zusammen. Diese bezog seit dem 1. Juli 1986 eine Rente von monatlich 828,74 DM. Die BA ermittelte daraus anzurechnendes Partnereinkommen, hob die Alhi-Bewilligung insoweit auf und forderte Leistungen mit bindend gewordenem Bescheid vom 21. Mai 1987 zurück. Die laufende Leistung kürzte sie ab 24. April 1987 und zwar ab 1. Januar 1989 um wöchentlich 47,00 DM (wöchentlicher Zahlbetrag 143,82 DM), ab 1. Mai 1989 um wöchentlich 52,88 DM (wöchentlicher Zahlbetrag 149,11 DM). Auch diese Regelungen sind bindend geworden.
Am 1. Dezember 1992 wandte der Kläger sich gegen die Anrechnung von Partnereinkommen. Die BA stellte nach der Düsseldorfer Tabelle fest, bei einem Selbstbehalt von 1.300,00 DM sei Partnereinkommen nicht anzurechnen gewesen. Sie verzichtete mit Bescheid vom 14. Mai 1993 auf die Rückforderung, soweit diese noch nicht getilgt sei.
Im Mai 1993 beantragte der Kläger die seit 1987 gekürzten Leistungen nachzuzahlen. Diesen Antrag lehnte die BA mit Bescheid vom 27. Juni 1993 ab. Sie vertrat die Ansicht, eine Änderung der bindenden Bewilligungsbescheide komme nur für die Zukunft in Betracht. Im Widerspruchsverfahren teilte der Kläger von der Volksbank H. … bestätigt mit, er habe am 14. Juli 1986 ein Darlehen in Höhe von 13.900,00 DM aufgenommen. Diesen Kredit habe er am 10. April 1989 auf 16.495,00 DM und am 3. Juni 1991 wiederum auf 16.605,82 DM aufgestockt. Im August valutiere das Darlehen mit 9.617,30 DM und werde mit monatlich 400,00 DM getilgt.
Mit Widerspruchsbescheid vom 9. September 1993 wies die BA den Rechtsbehelf zurück. Zur Begründung führte sie ua aus: Eine Nachzahlung für Zeiträume, in denen Partnereinkommen angerechnet worden sei, scheide aus. Eine andere Entscheidung komme nur in Betracht, wenn nachgewiesen sei, daß der Kläger durch die gekürzte Alhi gezwungen gewesen sei, ihn jetzt noch belastende Vermögensdispositionen (zB Kreditaufnahme) zu treffen. Dies treffe hier nicht zu, weil die Kreditaufnahme des Klägers nicht im Zusammenhang mit der Einkommensanrechnung stehe. Der Kredit sei zu einem Zeitpunkt aufgenommen worden, in dem die Alhi nicht wegen der Einkommensanrechnung gemindert gewesen sei. Im übrigen werde Alhi nur gezahlt, soweit der Arbeitslose seinen Lebensunterhalt nicht auf andere Weise sicherstellen könne. Die Anrechnung des Partnereinkommens habe nach eigenen Angaben des Klägers nicht dazu geführt, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen.
Die dagegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 10. März 1995), weil nach § 152 Abs 1 AFG idF des Art 1 Nr 50 Erstes Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (1. SKWPG) vom 21. Dezember 1993 (BGBl I 2353) der Verfassungswidrigerklärung von Gesetzen Wirkung für die Zeit vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) nicht zukomme. Die Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 26. April 1996): Die Rechtsansicht des SG sei nicht zu beanstanden, weil bei Verpflichtungsklagen die Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung maßgebend sei. Durch die Neufassung des § 152 Abs 1 AFG habe sich die Rechtslage für den Kläger zwar verschlechtert, diese Verschlechterung sei vom Gesetzgeber gewollt. Vertrauensschutzgesichtspunkte spielten im Zusammenhang mit der Korrektur bindend gewordener Verwaltungsakte keine Rolle. Der Gesetzgeber sei frei, das Spannungsverhältnis zwischen materieller Richtigkeit und Bindungswirkung von Verwaltungsakten abweichend von § 44 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren (SGB X) zu regeln.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 152 Abs 1 AFG in der bis zum 31. Dezember 1993 sowie der seit dem 1. Januar 1994 geltenden Fassung. Zur Zeit der Antragstellung im Mai 1993 habe er einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung gehabt. Bei dieser Entscheidung sei zu berücksichtigen gewesen, daß er 1989 und 1991 ein Darlehen habe aufstocken müssen. Dieses wäre in gleichem Umfang nicht erforderlich gewesen, wenn die BA Alhi in rechtmäßiger Höhe gezahlt hätte. Wegen dieser Umstände und des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung hätten die Leistungskürzungen auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden müssen. Ihm dürfe aus der Änderung der Rechtslage ab 1. Januar 1994 kein Nachteil entstehen.
Der Kläger beantragt,
- das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. April 1996 und das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 10. März 1995 zu ändern,
- den Bescheid der Beklagten vom 27. Juni 1993 idF des Widerspruchsbescheids vom 9. September 1993 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 14. Juli 1987 sowie alle Folgebescheide bis zum 20. März 1991 insoweit zurückzunehmen, als Unterhaltsansprüche auf die Arbeitslosenhilfe angerechnet wurden und dem Kläger Arbeitslosenhilfe in Höhe von 47,00 DM wöchentlich für die Zeit vom 1. Januar 1989 bis zum 29. April 1989 und in Höhe von 52,88 DM wöchentlich für die Zeit vom 1. Mai 1989 bis zum 20. März 1991 nachzuzahlen.
Die Beklage beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend. Selbst wenn die Ermessensentscheidung des Arbeitsamts rechtswidrig sei, stehe ein Handeln im Sinne der Revision im Widerspruch zu § 152 Abs 1 AFG nF.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet. Das angefochtene Urteil des LSG enthält eine Gesetzesverletzung, weil das LSG § 152 Abs 1 AFG nicht in der hier maßgeblichen Fassung des Achten Gesetzes zur Änderung des AFG (8. AFG-ÄndG) vom 14. Dezember 1987 (BGBl I 2602) angewendet hat. Der Senat kann nicht abschließend entscheiden, denn bedingt durch seine abweichende Rechtsansicht hat das LSG die ihm vorbehaltenen tatsächlichen Feststellungen nicht vollständig getroffen.
Das LSG hat den Zugunstenantrag des Klägers nicht für begründet erachtet, weil es § 152 Abs 1 AFG idF des 1. SKWPG für anwendbar gehalten hat. Nach dieser Vorschrift ist ein unanfechtbarer Verwaltungsakt nur mit Wirkung für die Zeit nach der Entscheidung des BVerfG zurückzunehmen, wenn die in § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes vorliegen, weil er auf einer Rechtsnorm beruht, die nach Erlaß des Verwaltungsaktes für unvereinbar mit dem Grundgesetz (GG) erklärt worden ist.
Der Kläger erhebt Anspruch auf Alhi ohne Anrechnung von Partnereinkommen für die Zeit vom 1. Januar 1989 bis 20. März 1991. Die Anrechnung von Partnereinkommen in Höhe von 47,00 DM bzw 52,88 DM wöchentlich hat die BA auf §§ 137 Abs 2a, 138 Abs 1 Nr 2 AFG idF des Siebenten Gesetzes zur Änderung des AFG (7. AFG-ÄndG) vom 20. Dezember 1985 (BGBl I 2484) gestützt. Diese Regelung hat das BVerfG durch Urteil vom 17. November 1992 für unvereinbar mit Art 3 Abs 1 GG iVm Art 6 Abs 1 erklärt (BVerfGE 87, 234, 262 = SozR 3-4100 § 137 Nr 3). Ein solcher Ausspruch bezieht sich nicht nur auf die Zeit nach Verkündung des Urteils. Ohne ausdrückliche Einschränkung stellt die Entscheidung des BVerfG die Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit dem GG für die gesamte Dauer einer Normenkollision fest. Konstitutive Wirkung hat sie nur insofern, als sie für Fachgerichte und Behörden ein Rechtsanwendungsverbot und das Gebot, anhängige Verfahren bis zu einer verfassungsmäßigen gesetzlichen Regelung auszusetzen, bewirkt (statt vieler: BVerfGE 37, 217, 261 f; Heußner NJW 1982, 257, 258; Seer NJW 1996, 285, 287 mwN). Die Verfassungswidrigkeit des § 138 Abs 1 Nr 2 AFG aF hat der Gesetzgeber durch die Neufassung des § 138 AFG nach Art 1 Nr 45 1. SKWPG nur mit Wirkung ab 1. Januar 1994 (Art 14 Abs 1 1. SKWPG) beseitigt. Die im Urteil des BVerfG wegen der „besonderen Lage, in der sich die Betroffenen befinden” für anhängige Verfahren getroffene Übergangsregelung, wonach die Einkommensregelung nach § 138 Abs 1 Nr 1 AFG aF vorzunehmen war (BVerfGE 87, 234, 232 f = SozR 3-4100 § 137 Nr 3), ist auch auf Fälle zu erstrecken, in denen die Anrechnung von Partnereinkommen bindend vorgenommen worden war. Insoweit liegt eine die Verfassungswidrigkeit des § 138 Abs 1 Nr 2 AFG beseitigende materielle Regelung für die Zeit vor Verkündung des Urteils des BVerfG vom 17. November 1992 nicht vor, da die Freibetragsregelung des § 138 Abs 1 Satz 2 AFG idF des 1. SKWPG erst am 1. Januar 1994 in Kraft getreten ist. Dieses Vorgehen gewährleistet eine Gleichbehandlung der bis zum 31. Dezember 1993 zu beurteilenden Leistungszeiträume. Auch die BA ist von diesem Maßstab im angefochtenen Bescheid ausgegangen.
Eine gänzlich andere Frage betrifft die Änderung des § 152 Abs 1 AFG durch Art 1 Nr 50 des 1. SKWPG. Die Neufassung beschränkt Zugunstenregelungen nach einer Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes durch das BVerfG auf die Zeit nach einer solchen Entscheidung. Auch diese Vorschrift ist am 1. Januar 1994 in Kraft getreten (Art 14 Abs 1 1. SKWPG), denn dem Gesetz, auch den Übergangsvorschriften der §§ 242q und 242r AFG idF des 1. SKWPG, sind Anhaltspunkte dafür nicht zu entnehmen, daß die Neufassung auch auf Zugunstenanträge zu erstrecken ist, die vor Inkrafttreten des 1. SKWPG abschließend beschieden worden sind. Zutreffend weist das LSG darauf hin, daß der Senat diese Frage bisher offengelassen hat (BSG SozR 3-4100 § 152 Nr 5).
Das Fehlen einer Übergangsfälle des § 152 Abs 1 AFG idF des 1. SKWPG regelnden Vorschrift läßt sich aus den Gesetzesmaterialien nicht erklären (vgl BT-Drucks 12/5502 S 37). Möglicherweise hat der Gesetzgeber davon abgesehen, die Neuregelung auf vor dem 1. Januar 1994 abgeschlossene Verwaltungsverfahren zu erstrecken, weil er sich verfassungsrechtlichen Einwänden ausgesetzt hätte. Eine echte Rückwirkung von Gesetzen ist durch das Rechtsstaatsprinzip grundsätzlich ausgeschlossen (BVerfGE 72, 200, 256 ff; BSGE 54, 223, 230 ff = SozR 1300 § 44 Nr 3 mwN). Dieser Grundsatz gilt zwar nicht uneingeschränkt, jedoch sind Anhaltpunkte für Gründe, die den Verzicht auf eine Ermessensentscheidung nach § 152 Abs 1 AFG aF nach der Verfassungswidrigerklärung von Gesetzen bei Zugunstenbescheiden für die Vergangenheit rechtfertigen könnten, nachdem das Verwaltungsverfahren bei Inkrafttreten des § 152 Abs 1 AFG nF abgeschlossen war, nicht ersichtlich (vgl zu den in der Rechtsprechung nicht abschließend erörterten Fallgruppen: BVerfGE 72, 200, 258 ff; BSGE 54, 223, 230 = SozR 1300 § 44 Nr 3). Es besteht vor allem kein Anhaltspunkt dafür, daß der Kläger damit rechnen mußte, über die Frage, ob ihm verfassungswidrig vorenthaltene Leistungen für die Vergangenheit zu erbringen seien, werde in Zukunft ohne Würdigung seiner individuellen Belange entschieden. Eine solche Regelung wäre mit der Anwendungssperre für § 138 Abs 1 Nr 2 AFG aF und dem Gebot, die Verfassungswidrigkeit dieser Regelung zu beseitigen, schwerlich zu vereinbaren. Auch läßt sich bei einer Minderung des wöchentlichen Zahlbetrages um rund 50,00 DM nicht sagen, es handele sich um eine Bagatelle.
Eine Ausnahme vom Rückwirkungsverbot hält das BVerfG namentlich bei verfahrensrechtlichen Vorschriften für möglich (BVerfGE 63, 343, 359). Um eine Vorschrift mit verfahrensrechtlichem Einschlag handelt es sich auch bei § 152 Abs 1 AFG. Sie regelt Grenzen der Bindungswirkung von Verwaltungsakten (§ 77 SGG) und der Rechtskraft sozialgerichtlicher Urteile (§ 141 SGG). Indem sie als Spezialgesetz § 44 Abs 1 SGB X einschränkt, führt sie die Folgen der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen für nicht mehr anfechtbare Entscheidungen auf den Grundsatz des § 79 Abs 2 Satz 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) zurück. Da das 1. SKWPG – wie ausgeführt – eine gesetzliche Übergangsregelung, die den zeitlichen Anwendungsbereich des § 152 Abs 1 AFG klarstellt, nicht enthält, liegt es nahe, auf die allgemeinen Grundsätze des intertemporalen Prozeßrechts zurückzugreifen. Änderungen des Verfahrensrechts sind danach zwar grundsätzlich bei bereits anhängigen Verfahren zu beachten. Die nachträgliche Beschränkung von Rechtsmitteln führt aber nach Rechtsprechung und Lehre nicht zum Wegfall der Statthaftigkeit bereits eingelegter Rechtsmittel (BVerfGE 87, 48, 63 ff mwN, vgl auch die „allgemeine Grundsätze des intertemporalen Kollisionsrechtes” betreffenden Erwägungen anläßlich des Inkrafttretens der §§ 44 ff SGB X: BSGE 54, 223, 227 ff = SozR 1300 § 44 Nr 3). Bei dem Antrag auf Erlaß eines Zugunstenbescheids handelt es sich zwar nicht um ein Rechtsmittel im eigentlichen Sinne, wohl aber um einen Rechtsbehelf des Sozialrechts, der die Auswirkungen rechtswidriger belastender Verwaltungsakte begrenzen soll. Ähnlich wie ein Rechtsmittel dient er dazu, gegenüber anderslautenden Entscheidungen im Einzelfall die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung herzustellen. Als der Kläger seinen Überprüfungsantrag im Mai 1992 stellte, sahen § 152 Abs 1 AFG aF § 44 Abs 1 SGB X vor, daß dieser unter Beachtung des Anspruchs auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens (§ 39 Abs 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil ≪SGB I≫) zu behandeln ist. Diesen Maßstab hat die BA auch dem angefochtenen Bescheid zugrunde gelegt. Er galt auch als der Kläger seine Klage erhob. Mit der Anwendung des § 152 Abs 1 AFG idF des 1. SKWPG würde dem Kläger die Möglichkeit einer Überprüfung der Anrechnung von Partnereinkommen nachträglich entzogen. Das ist mit den erörterten Grundsätzen des intertemporalen Kollisionsrechts nicht zu vereinbaren.
Die rein formal an die Klageart anknüpfende Rechtsansicht des LSG kann nicht überzeugen. Ein allgemeiner Grundsatz, wonach für die Beurteilung von Anfechtungsklagen die zum Zeitpunkt der Verwaltungsentscheidung und für Verpflichtungsklagen die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung geltende Rechtslage maßgebend sei, ist dem geltenden Recht nicht zu entnehmen. Allerdings besteht eine entsprechende Faustregel, die zu praktisch einleuchtenden Ergebnissen führt, wenn Verwaltungsakte mit Dauerwirkung (zu diesem Begriff: BSGE 56, 165, 170 = SozR 1300 § 45 Nr 6) im Streit sind, die laufende Leistungen betreffen und somit bei Bescheiderteilung in der Zukunft liegende Bewilligungszeiträume erfassen (BSGE 58, 180, 181 = SozR 1300 § 45 Nr 17). Ein solcher Sachverhalt liegt hier nicht vor, denn der angefochtene Bescheid vom 27. Juni 1993 idF des Widerspruchsbescheids vom 9. September 1993 betraf ausschließlich die zum Zeitpunkt seines Erlasses bereits abgelaufenen Bewilligungszeiträume vom 1. Januar 1989 bis 20. März 1991. Bei solcher Sachlage erscheint es – abgesehen von den erörterten verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten – nicht sachgerecht, erst am 1. Januar 1994 in Kraft getretenes Recht anzuwenden.
Damit weicht der Senat nicht von der Rechtsprechung des BSG zur Bestimmung der maßgeblichen Rechtslage ab. Zwar hat das BSG in diesem Zusammenhang im Sinne der erwähnten Faustregel an die Klageart zur Bestimmung des anzuwendenden Rechts angeknüft (BSGE 3, 95, 103; 5, 238, 242; 15, 127, 131; 15, 239, 243 f = SozR Nr 9 zu § 50 BVG; BSGE 16, 257, 260 f = SozR Nr 6 zu § 57 BVG; BSGE 41, 38, 40 = SozR 2200 § 1418 Nr 2; BSGE 43, 1, 5 = SozR 2200 § 690 Nr 4; BSGE 68, 47 f = SozR 3-2500 § 159 Nr 1; BSGE 70, 285, 289 = SozR 3-2500 § 122 Nr 3; BSGE 73, 25, 27 = SozR 3-2500 § 116 Nr 4). Das BSG hat diesen Grundsatz aber nicht als abschließenden Rechtssatz verstanden, sondern unter Sachgesichtspunkten Anlaß zu der Prüfung gesehen, ob Gesetze nach ihrem zeitlichen Geltungswillen auf den jeweils zu beurteilenden Sachverhalt anzuwenden seien (BSGE 6, 288, 290; 43, 1, 5 = SozR 2200 § 690 Nr 4; BSGE 68, 47, 48 = SozR 3-2500 § 159 Nr 1; BSGE 73, 25, 27 = SozR 3-2500 § 116 Nr 4). Ein solcher Geltungswille ist dem 1. SKWPG für die Neufassung des § 152 Abs 1 AFG nicht zu entnehmen. Dies ist für den hier zu beurteilenden Sachverhalt auch angemessen, denn die angefochtenen Bescheide betreffen ausschließlich beim Inkrafttreten der Neuregelung am 1. Januar 1994 bereits abgeschlossene Leistungszeiträume vom 1. Januar 1989 bis 20. März 1991. Die Anwendung während des gerichtlichen Verfahrens erlassenen Rechts bei Verpflichtungsklagen hat ihren sachlichen Grund gerade darin, daß solche Klagen häufig Rechtsverhältnisse betreffen, die über den Zeitpunkt des sie regelnden Verwaltungsakts hinaus abzuwickeln sind. Das BSG hat deshalb häufig bei seinen Entscheidungen darauf Bedacht genommen, ob sie Verwaltungsakte mit Dauerwirkung zum Gegenstand haben (BSGE 3, 95, 103; 6, 288, 291; 7, 8, 13; 7, 129, 133; 14, 71, 76 = SozR Nr 2 zu § 251 RVO; BSGE 68, 228, 231 = SozR 3-2200 § 248; BSG SozR 3-1500 § 54 Nr 18). Ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung liegt aber nicht vor, wenn – wie hier – seine Rechtswirkungen „abgeschlossen in der Vergangenheit liegen” (BSGE 7, 131, 135; 14, 71, 76 = SozR Nr 2 zu § 251 RVO).
Die neuere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) bestätigt diese Rechtsansicht. Auch das BVerwG hält an der Bestimmung des maßgeblichen Rechts nach der Klageart nicht mehr fest. Es hebt ausdrücklich hervor, der maßgebliche Zeitpunkt zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten richte sich nicht nach Prozeßrecht, sondern nach dem jeweiligen materiellen Recht. Im Zweifel gelte die Regel, daß der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung maßgebend sei und bei Verwaltungsakten mit Dauerwirkung auch spätere Änderungen der Sach- und Rechtslage zu berücksichtigen seien (BVerwGE 97, 214, 220 f mwN).
Nach der mithin anzuwendenden Fassung des § 152 Abs 1 Nr 1 AFG idF des 8. AFG-ÄndG kann die Minderung des Zahlbetrages Anrechnung von Partnereinkommen als nicht begünstigende Regelung für die Vergangenheit unter den Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes zurückgenommen werden.
Die danach gebotene Ermessensausübung der BA hält einer Überprüfung im Rahmen des § 54 Abs 2 Satz 2 SGG nicht stand. Die Begründung des angefochtenen Bescheids – insbesondere des Widerspruchsbescheids – läßt Erwägungen vermissen, die dem Zweck der Ermächtigung nach § 152 Abs 1 AFG aF entsprechen (vgl dazu: BSG SozR 3-4100 § 152 Nr 5 mwN). Dem Zusammenhang zwischen der Leistungskürzung und der Inanspruchnahme von Bankkredit ist die BA nicht folgerichtig nachgegangen. Da sie Kürzungen der laufenden Leistungen erst ab 24. April 1987 vorgenommen hat, ist zwar die Kreditaufnahme vom 14. Juli 1986 nicht geeignet, die Leistungskürzung als Grund für die Vermögenslage des Klägers zur Zeit der Entscheidung über den Zugunstenantrag anzusehen. Etwas anderes hätte möglicherweise für die Aufstockung des Kredits am 10. April 1989 und am 3. Juni 1991 zu gelten, die der Widerspruchsbescheid zwar erwähnt, ohne sich mit der Möglichkeit eines Zusammenhangs zwischen Leistungskürzung, Aufstockung des Kredits und der bestehenden Vermögenslage des Klägers auseinanderzusetzen. Der Hinweis auf § 137 Abs 1 AFG geht fehl, weil er Ermessensvoraussetzungen und nicht die Ermessensausübung im Einzelfall betrifft. Im übrigen befassen sich die Ausführungen des Widerspruchsbescheids weitgehend mit der Eigenart von Ermessensentscheidungen im allgemeinen und zeigen nicht auf, weshalb die BA im zu beurteilenden Einzelfall die nachträgliche Zahlung der dem Kläger zustehenden Alhi ablehnt. Die Betonung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung beachtet nicht, daß sich dieses öffentliche Interesse im vorliegenden Fall gerade mit dem Individualinteresse des Klägers auf Nachzahlung deckt. Auch die Ausführungen für die Verwendung öffentlicher Mittel, die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit sowie der vollständigen Erhebung der Einnahmen und Beitreibung von Außenständen bleiben formelhaft, weil sie im Verhältnis zum Kläger nur im Rahmen der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung Geltung beanspruchen können. Der Widerspruchsbescheid läßt deshalb nicht erkennen, inwieweit diese Grundsätze der Nachzahlung entgegenstehen sollten. Für eine Ermessensreduzierung auf Null bestehen zur Zeit keine hinreichenden Anhaltspunkte.
Die Regelung des § 152 Abs 1 AFG aF verweist auf § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X, der eine Rücknahme – unter anderen hier nicht einschlägigen Voraussetzungen – vorsieht, wenn bei Erlaß eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt worden ist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht sind. Eine unrichtige Rechtsanwendung ergibt sich hier aus der Anrechnung von Partnereinkommen aufgrund der verfassungswidrigen Norm des § 138 Abs 1 Nr 2 AFG aF. Nicht abschließend beurteilen kann der Senat die Frage, ob dem Kläger deshalb Alhi zu Unrecht vorenthalten worden ist. Dies trifft nur zu, wenn die übrigen Leistungsvoraussetzungen der Alhi im geltend gemachten Zeitpunkt vom 1. Januar 1989 bis 20. März 1991 vorlagen. Zweifel ergeben sich insoweit aus der vom LSG erwähnten Bescheinigung der Volksbank H. … vom 13. August 1993. Diese enthält nicht nur Auskünfte über Aufnahme und Aufstockungen eines Kredits, sondern auch die Mitteilung, daß der Kläger das Darlehen mit monatlich 400,00 DM tilge. Falls dies auch für den hier zu beurteilenden Leistungszeitraum zutraf, besteht Aufklärungsbedarf, wie dem Kläger dies angesichts seines und seiner Lebenspartnerin geringen Einkommens möglich war. Tilgungsleistungen in dieser Höhe können auf die Bedürftigkeit ausschließendes, bisher nicht festgestelltes Einkommen oder Vermögen hindeuten.
Im Hinblick auf die nach § 54 Abs 2 Satz 2 SGG begrenzte Kontrolldichte wird die Sachdienlichkeit des Klagantrags zu überprüfen, jedenfalls aber ein Urteilsausspruch zu begrenzen sein. Da die Ermessensvoraussetzungen in tatsächlicher Richtung zu klären sind, ist die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Revisionsverfahrens – an das LSG zurückzuverweisen.
Fundstellen
SozR 3-4100 § 152, Nr. 7 |
SozSi 1998, 156 |