Leitsatz (amtlich)

Haben gegen das Urteil eines SG, das nicht dem Hauptantrag, sondern nur dem Hilfsantrag des Klägers entsprochen hat, beide Beteiligte Berufung eingelegt und ist die Berufung des Klägers unzulässig, so kann sein Rechtsmittelantrag auch als Anschließung zu werten sein.

 

Normenkette

SGG § 143 Fassung: 1953-09-03, § 146 Fassung: 1958-06-25; ZPO § 521 Abs. 1; SGG § 202 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 14. August 1969 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG) Hamburg vom 14. März 1967 nach § 146 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen ist, weil sie - wie das Landessozialgericht (LSG) Hamburg (Urteil vom 14. August 1969) angenommen hat - nur den Beginn der Rente betrifft.

Die Beklagte bewilligte dem Kläger die Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. Oktober 1962 an (Bescheid vom 11. Mai 1966). Während des Berufungsverfahrens erging der Bescheid der Beklagten vom 6. Januar 1969 über das Altersruhegeld des Klägers vom 1. September 1967 an.

Vor dem SG hat der Kläger beantragt, die Beklagte unter Abänderung des angefochtenen Bescheides zur Gewährung der Rente bereits vom 1. Januar 1957 an zu verurteilen, hilfsweise, die Beklagte unter Abänderung des angefochtenen Bescheides zu verurteilen, die Ersatzzeiten wegen nationalsozialistischer Verfolgung wie echte Beitragszeiten zu behandeln und bei der Rentenberechnung entsprechend zu berücksichtigen. Er hat dazu geltend gemacht, daß er bereits vor dem 1. Januar 1957 invalide gewesen sei. Bei Rentenberechnung nach früherem Recht und Umstellung der Leistung nach dem Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz wirkten sich die Verfolgungszeiten günstiger aus.

Das SG hat die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 11. Mai 1966 dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger für die anerkannten Ersatzzeiten volle Werteinheiten anzurechnen. Im übrigen, nämlich soweit es um den früheren Rentenbeginn geht, hat es die Klage - ohne Zulassung der Berufung - abgewiesen.

Gegen dieses Urteil haben beide Beteiligten Berufung eingelegt. Das LSG hat die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen und - auf die Berufung der Beklagten - das Urteil des SG geändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen.

Mit der - nicht zugelassenen - Revision rügt der Kläger als einen Verfahrensmangel, daß das LSG nicht in der Sache selbst entschieden habe. Diese habe nicht nur den Beginn der Rente betroffen. Bei Anerkennung eines Versicherungsfalls nach altem Recht ergäben sich - was die Beklagte eingeräumt habe - höhere Rentenleistungen auch für die Zeit vom 1. Oktober 1962 an. Im übrigen sei die Berufung statthaft, weil das SG den Sachverhalt nicht genügend erforscht habe (§§ 103, 150 Nr. 2 SGG).

Der Kläger beantragt,

den Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Die Revision des Klägers ist statthaft, weil sie auf die formgerecht erhobene Rüge eines wesentlichen Verfahrensmangels gestützt wird (§§ 162 Abs. 1 Nr. 2, 164 Abs. 2 Satz 2 SGG). Das LSG hätte über den vom Kläger erhobenen Anspruch entscheiden müssen. Das hat die Revision zutreffend vorgetragen.

Ob die Berufung des Klägers durch § 146 SGG ausgeschlossen ist, kann unentschieden bleiben. Immerhin hat der Kläger seinen in erster Instanz abgewiesenen Hauptantrag im Berufungsverfahren wiederholt. Für diesen Fall wird die Auffassung vertreten (Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 9.Aufl., § 134 II 2a; Stein-Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 19.Aufl., Allg. Einleitung vor § 511, Anm. V 1a; Wieczorek, Zivilprozeßordnung und Gerichtsverfassungsgesetz, 2.Aufl., § 511, Anm. B IIc 6; BGHZ 26, 295), daß sich die Beschwer allein nach dem Hauptantrag richtet und das Rechtsmittel nicht deshalb unzulässig ist, weil der Differenz zwischen Haupt- und Hilfsantrag Rechtsmittelausschließungsgründe entgegenstehen. Mann kann auch der Meinung sein, daß hier Hauptanspruch und Hilfsanspruch selbständig sind. Der Kläger erstrebt in erster Linie eine Rente, die nach Versicherungsfall, Zusammensetzung und Höhe von der ihm durch die Beklagte bewilligten Rente verschieden ist (vgl. dazu Urteil des BSG vom 22. März 1968 - 1 RA 175/67 -), nämlich nicht eine Rente wegen Berufsunfähigkeit (vom 1. Januar 1957 statt vom 1. Oktober 1962 an), sondern eine ursprünglich nach altem Recht - mit Steigerungsbeträgen für die Verfolgtenzeit - berechnete, umgestellte und insgesamt höhere Rente (vom 1. Januar 1957 an über den 30. September 1962 hinaus).

Unabhängig hiervon hätte das LSG eine Sachentscheidung treffen müssen. Der Rechtsmittelantrag des Klägers ist jedenfalls als Anschließung an die Berufung der Beklagten zu werten (§ 521 der Zivilprozeßordnung - ZPO -). Dabei fällt ins Gewicht, daß die Anschließung kein Rechtsmittel ist und deshalb nicht den Vorschriften über die Ausschließung der Berufung unterliegt. Sie kann auch unter einer Bedingung erklärt werden. Schließlich ist es nicht notwendig, daß sie ausdrücklich als Anschließung bezeichnet worden ist. Es genügt, daß aus den Umständen, insbesondere aus den Erklärungen des Rechtsmittelführers hervorgeht, er wolle sein Rechtsmittel nicht nur als selbständiges, von dem Verhalten des Gegners unabhängiges behandelt wissen (BGH in LM § 556 ZPO Nr. 4). Dabei wird nicht einmal die Berufung in eine Anschließung umgedeutet, sondern lediglich dem erkennbaren Willen des Rechtsmittelführers, der im übrigen nach § 106 Abs. 1 SGG hätte präzisiert werden können, Rechnung getragen (vgl. dazu BAG in AP § 556 ZPO Nr. 1 mit Anmerkung von Pohle). Der Kläger hat hier zeitlich vor der Beklagten Berufung eingelegt. Hierbei ist er sogar selbst ursprünglich davon ausgegangen, der Berufungsausschließungsgrund des § 146 SGG liege vor. Nachdem die Beklagte ihre Berufung begründet hatte, hat der Kläger dann immer wieder darauf hingewiesen, daß das Rechtsmittel der Beklagten gegenstandslos werde, wenn seinem Hauptantrag stattgegeben werde. Er hat zwar seinen Hauptanspruch auch mit seiner Berufung weiter verfolgt. Dadurch aber, daß er - noch dazu in Kenntnis der Bedenken gegen die Statthaftigkeit dieses Rechtsmittels - der Berufung der Beklagten nicht nur mit dem Antrag auf Zurückweisung entgegengetreten ist, hat er zugleich zum Ausdruck gebracht, daß er die Grenzen der Verhandlung im Berufungsverfahren nach allen ihm zu Gebote stehenden Vorschriften hat mitbestimmen wollen.

Die zugelassene Revision ist auch begründet, denn das angefochtene Urteil beruht auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel und ist auch nicht aus anderen Gründen richtig. Nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG ist das angefochtene Urteil in vollem Umfange aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen; der Senat kann nicht selbst in der Sache entscheiden.

Das LSG hätte im übrigen - trotz der von ihm angenommenen Unzulässigkeit der Berufung des Klägers - bei der Entscheidung über die Berufung der Beklagten die Behauptung des Klägers, er sei schon vor dem 1. Januar 1957 invalide geworden, nicht ungeprüft lassen dürfen. Dieser Versicherungsfall hätte sich auch auf die Höhe der vom 1. Oktober 1962 an gewährten Rente ausgewirkt.

Die Entscheidung über die Pflicht zur Kostenerstattung für das Revisionsverfahren bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669019

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