Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtswidrige Ausbürgerung. Wiedereinbürgerung

 

Leitsatz (amtlich)

Vertriebener iS von BVFG § 1 Abs 2 Nr 1 ist nur, wer aus dem späteren Vertreibungsgebiet aus Verfolgungsgründen unmittelbar in das Ausland emigriert ist (Anschluß an BGH 1967-04-05 IV ZR 236/65 = RzW 1967, 403; BVerwG 1967-04-26 VIII C 76.66 = Buchholz BVerwG 412.3 §§ 1, 2 BVFG Nr 7).

 

Leitsatz (redaktionell)

Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG, wenn der Antragsteller am 31.12.1975 nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besaß:

1. Nach ständiger Rechtsprechung entsteht das Nachentrichtungsrecht aus Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG mit der fristgerechten Stellung des Nachentrichtungsantrages unter der weiteren Voraussetzung, daß auch die übrigen anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale erfüllt sind. Das bedeutet, daß nicht nur der Antrag innerhalb der mit dem 31.12.1975 abgelaufenen Ausschlußfrist gestellt sein muß, sondern spätestens bis zum Ablauf dieser Frist auch die übrigen materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sein müssen.

2. Ein früherer deutscher Staatsbürger, der am 31.12.1975 nicht die deutsche, sondern die australische Staatsangehörigkeit besaß und dessen Wiedereinbürgerung erst nach dem 31.12.1975 erfolgte, ist nicht nachentrichtungsberechtigt iS von Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG.

 

Orientierungssatz

Ein aus rassischen Gründen Verfolgter und rechtswidrig Ausgebürgerter steht einem Nicht-Ausgebürgerten iS des Art 116 Abs 2 S 2 GG, da er seinen Wohnsitz nicht wieder in Deutschland genommen hat, frühestens in dem Zeitpunkt gleich, in dem er durch seinen Antrag auf Wiedereinbürgerung seinen Willen kundtut, wieder deutscher Staatsangehöriger sein zu wollen (vgl hierzu BVerfG vom 1968-02-14 2 BvR 557/62 = BVerfGE 23, 98, 108).

 

Normenkette

AVG § 10 Abs. 1 Fassung: 1972-10-16; RVO § 1233 Abs. 1 Fassung: 1972-10-16; AnVNG Art. 2 § 49a Abs. 2 Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art. 2 § 51a Abs. 2 Fassung: 1972-10-16; GG Art. 116 Abs. 2 Fassung: 1949-05-23; BVFG § 1 Abs. 2 Nr. 1 Fassung: 1953-05-19

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 24.04.1979; Aktenzeichen L 12 An 82/78)

SG Berlin (Entscheidung vom 29.08.1978; Aktenzeichen S 9 An 2258/76)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger berechtigt ist, freiwillig Beiträge zur Rentenversicherung der Angestellten nach Art 2 § 49a Abs 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) nachzuentrichten.

Der am 18. Juli 1910 in Ratibor als deutscher Staatsangehöriger geborene Kläger gehört zum Personenkreis der aus rassischen Gründen Verfolgten des Nationalsozialismus. Vom Oktober 1935 bis Mai 1939 hatte er seinen Wohnsitz in Berlin. Im Mai 1939 wanderte er nach Australien aus, wo er seitdem seinen Wohnsitz hat. Durch Sammelausbürgerung aufgrund der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 verlor er die deutsche Staatsangehörigkeit. Seit Dezember 1945 besitzt er die australische Staatsangehörigkeit. Beiträge zur deutschen Rentenversicherung sind für ihn zu keiner Zeit entrichtet worden.

Im Oktober 1975 stellte der Kläger Antrag auf Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 2 § 49a AnVNG, den die Beklagte mit der Begründung ablehnte, der Kläger sei als australischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz im Ausland nicht gemäß § 10 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zur freiwilligen Versicherung berechtigt (Bescheid vom 8. Juni 1976). Inzwischen hatte der Kläger am 5. Februar 1976 beim deutschen Generalkonsulat in Melbourne Antrag auf Wiedereinbürgerung gestellt, dem stattgegeben wurde. Die am 6. April 1976 ausgestellte Einbürgerungsurkunde wurde ihm am 12. Mai 1976 vom Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Melbourne ausgehändigt. Dem Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 8. Juni 1976 half die Beklagte mit der Begründung nicht ab, der Kläger sei zu dem nach Art 2 § 49a Abs 3 Satz 1 AnVNG maßgebenden Stichtag, dem 31. Dezember 1975, nicht - wieder - deutscher Staatsangehöriger gewesen (Widerspruchsbescheid vom 21. Oktober 1976). Klage und Berufung des Klägers sind ebenfalls erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts -SG- Berlin vom 29. August 1978, Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Berlin vom 24. April 1979). Auch das LSG hat die Auffassung vertreten, daß es beim Kläger an der für das Nachentrichtungsrecht erforderlichen Voraussetzung der Berechtigung zur freiwilligen Versicherung nach § 10 AVG zum 31. Dezember 1975 gefehlt habe. Wenn das Gesetz die Entstehung des Rechts zur Nachentrichtung von der rechtzeitigen Anmeldung (Antragstellung) binnen einer materiell-rechtlichen Ausschlußfrist abhängig mache, erscheine es zwingend, auch die fristgemäße Erfüllung der weiteren anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale, nämlich derjenigen des § 10 AVG, zur Voraussetzung zu erheben. Bei Ablauf der Ausschlußfrist sei der Kläger aber lediglich unter die Gruppe der von Art 116 Abs 2 des Grundgesetzes (GG) erfaßten Personen gefallen. Aus dem Recht auf Wiedereinbürgerung könne aber nicht abgeleitet werden, daß der Kläger von vornherein, also auch bis zum 31. Dezember 1975 als deutscher Staatsangehöriger zu gelten habe oder wie ein solcher für die Zeit bis zur (Antragstellung auf) Wiedereinbürgerung zu behandeln sei. Nach Art 116 Abs 2 Satz 2 GG würden nur diejenigen Verfolgten als nicht ausgebürgert gelten, die nach dem 8. Mai 1945 ihren Wohnsitz in Deutschland genommen "und einen entgegengesetzten Willen nicht zum Ausdruck gebracht haben". Gleichermaßen deutsche Staatsangehörige seien die im Ausland verbliebenen Verfolgten, wenn - und sobald - sie durch entsprechende Antragstellung den darauf gerichteten Willen zum Ausdruck brächten. Der Kläger sei auch kein deutscher Flüchtling oder Vertriebener iS des Art 116 Abs 1 GG.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision vertritt der Kläger die Auffassung, Art 116 Abs 2 GG regele die Frage der Staatsangehörigkeit von Ausgebürgerten lediglich in staatsrechtlicher Beziehung. Die sich hieraus ergebenden zivilrechtlichen oder sozialversicherungsrechtlichen Folgerungen seien mit dieser Vorschrift nicht geregelt. Daher müsse im Einzelfall immer der allgemeine Wiedergutmachungsgedanke, dessen Grundnorm Art 116 Abs 2 GG sei, beachtet werden. Die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz stehe, wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in dem Beschluß vom 14. Februar 1968 (BVerfGE 23, 98) ausgeführt habe, in einem so unerträglichen Maße in Widerspruch zur Gerechtigkeit, daß sie von Anfang an als nichtig zu erachten sei. Eine Berufung auf diese Verordnung durch eine Behörde oder einen Richter würde "Unrecht statt Recht sprechen". Damit sei jede Auslegung einer gesetzlichen Vorschrift als Unrecht bezeichnet worden, die sich auf die Ausbürgerung verfolgter Deutscher berufe. Die Entscheidung des LSG werde aber auch nicht durch Art 2 § 49a AnVNG iVm § 10 AVG getragen. Im Zeitpunkt der Entscheidung habe er die Voraussetzungen von § 10 AVG erfüllt. Die Antragsfrist sei eingehalten worden. Es gebe keine gesetzliche Vorschrift darüber, daß die materiellen Voraussetzungen des Antrages (gemeint ist wohl des Anspruchs) ebenfalls innerhalb der Antragsfrist erfüllt sein müßten. Im Sinne des Wiedergutmachungsgedankens sei er auch Deutscher iS von Art 116 Abs 1 GG. Er habe lediglich aus Verfolgungsgründen nach 1933 seinen Wohnsitz in seiner Heimat, dem Vertreibungsgebiet Oberschlesien, nicht wieder aufgenommen. Ohne die Verfolgungen wäre er Vertriebener geworden wie alle Deutschen in Oberschlesien.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG, das Urteil des SG sowie den

Bescheid der Beklagten vom 8. Juni 1976

in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom

21. Oktober 1976 aufzuheben und die Beklagte

zu verurteilen, ihm die Nachentrichtung von

Beiträgen gemäß Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG zu

gestatten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen. Der Kläger ist, wie die Vorinstanzen zutreffend entschieden haben, zur Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG nicht berechtigt.

Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats entsteht das Nachentrichtungsrecht aus Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG mit der fristgerechten Stellung des Nachentrichtungsantrages unter der weiteren Voraussetzung, daß auch die übrigen anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale erfüllt sind (Urteil vom 23. Februar 1977 - 12/11 RK 88/75 - DAngVers 1977, 297; Urteil vom 23. November 1979 - 12 RK 29/78 -; Urteile vom 22. Februar 1980 - 12 RK 25/79 und 12 RK 51/78). Das bedeutet, daß nicht nur der Antrag innerhalb der mit dem 31. Dezember 1975 abgelaufenen Ausschlußfrist gestellt sein muß, sondern spätestens bis zum Ablauf dieser Frist auch die übrigen materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen gegeben sein müssen. Das ergibt sich zwingend aus der Natur des Nachentrichtungsantrages, dem neben seiner formalen Funktion als Anmeldung des Anspruchs die materiell-rechtliche Funktion der Anspruchsentstehung innewohnt. Zur Begründung der Nachentrichtungsberechtigung bedarf es materiell-rechtlich der Ausübung des dem Versicherten gesetzlich zustehenden Gestaltungsrechts durch Stellung des Antrages. Das Gestaltungsrecht hat aber nur derjenige, der die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt und deshalb zum anspruchsberechtigten Personenkreis zählt. Da die Ausübung des Gestaltungsrechts nach Art 2 § 49a Abs 2 durch Abs 3 Satz 1 dieser Vorschrift zeitlich bis zum 31. Dezember 1975 begrenzt ist, steht es auch nur Personen zu, die spätestens bis zum Ablauf der Frist sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt haben. Dem stehen die vom Kläger angegebenen Entscheidungen aus dem Entschädigungsrecht nicht entgegen. Diese betreffen die Frage, ob die materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen schon bei Ablauf einer befristeten Anmeldung, der lediglich verfahrensrechtliche Bedeutung zukommt, vorliegen müssen. Ein solcher Fall liegt aber hier nicht vor, weil, wie dargelegt, ein Antrag nach Art 2 § 49a AnVNG nicht nur dazu dient, das Verfahren in Gang zu bringen, sondern selbst materiell-rechtliche Voraussetzung für die Entstehung des Anspruchs ist.

Nach Art 2 § 49a Abs 2 Satz 1 AnVNG können nur Personen, die nach § 10 AVG zur freiwilligen Versicherung berechtigt sind, auf Antrag Beiträge nachentrichten. Diese Voraussetzung hatte aber der Kläger bis zum Ablauf der Antragsfrist nicht erfüllt. Zur freiwilligen Versicherung berechtigt sind nach § 10 Abs 1 AVG nämlich nur Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des Gesetzes haben, sowie Deutsche iS des Art 116 Abs 1 GG, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben. Zu diesem Personenkreis gehörte der Kläger am 31. Dezember 1975 noch nicht. Er wurde erst auf seinen Einbürgerungsantrag vom 5. Februar 1976 wiedereingebürgert und damit Deutscher iS des Art 116 Abs 1 GG. Daß er aufgrund der rechtswidrigen Ausbürgerung nach der von Anfang an nichtigen 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz seine frühere deutsche Staatsangehörigkeit verloren hatte, kann nicht dazu führen, ihn als deutschen Staatsangehörigen schon für die Zeit vor der Wiedereinbürgerung anzusehen. Ihm stand nach Art 116 Abs 2 Satz 1 GG zwar ein verfassungsrechtlich garantierter Anspruch auf Wiedereinbürgerung zu. Einem Nicht-Ausgebürgerten iS des Art 116 Abs 2 Satz 2 GG stand er, da er seinen Wohnsitz nicht wieder in Deutschland genommen hat, frühestens in dem Zeitpunkt gleich, in dem er durch seinen Antrag auf Wiedereinbürgerung seinen Willen kundtat, wieder deutscher Staatsangehöriger sein zu wollen (vgl hierzu BVerfGE 23, 98, 108). Dieser Zeitpunkt liegt aber nach dem 31. Dezember 1975. Ob der Kläger die australische Staatsangehörigkeit im Dezember 1945 auf eigenen Antrag erworben hat und er deshalb den Status eines deutschen Staatsangehörigen nicht schon mit dem Einbürgerungsantrag, sondern erst mit der Aushändigung der Einbürgerungsurkunde und damit zu einem noch späteren Zeitpunkt wieder erlangte (Urteil des Senats vom 22. Februar 1980 - 12 RK 25/79 -), kann deshalb dahingestellt bleiben.

Zu Recht hat das LSG auch ausgeführt, daß der Kläger kein Flüchtling oder Vertriebener iS des Art 116 Abs 1 GG ist. Er hat nicht im Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden, sondern mit Ratibor und dann Berlin ohnehin seinen Wohnsitz in diesem Gebiet gehabt. Auch ist er nicht Vertriebener iS des § 1 Abs 1 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG), denn er hat seinen schon vor 1939 aufgegebenen Wohnsitz in Ratibor nicht im Zusammenhang mit den Ereignissen des 2. Weltkrieges verloren. Auch § 1 Abs 2 Nr 1 BVFG trifft auf den Kläger nicht zu. Er hat seinen Wohnsitz aus dem in § 1 Abs 1 BVFG genannten Vertreibungsgebiet nicht aus Verfolgungsgründen verlassen, um seinen Wohnsitz außerhalb des Deutschen Reiches zu nehmen. Die Vorschrift setzt aber voraus, daß sowohl der Verlust des Wohnsitzes im Vertreibungsgebiet als auch die Wohnsitznahme im Ausland auf Verfolgungsgründen beruhen. Der Betroffene muß aus dem späteren Vertreibungsgebiet unmittelbar in das Ausland emigriert sein (Werber/Bode/Ehrenforth BVFG § 1 Anm 3c 10 (S 21); Ehrenforth BVFG § 1 RdNr 7; Straßmann/Nitsche BVFG § 1 Anm 9c; vgl auch BGH Urteil vom 5. April 1967 - RzW 1967, 403, 404; BVerwG Urteil vom 26. April 1967 - RzW 1968, 87). Eine Vertreibung, die möglicherweise stattgefunden hätte, wenn der Kläger nach dem Aufenthalt in Berlin wieder nach Ratibor zurückgekehrt wäre, vermag die Vertriebeneneigenschaft nach § 1 Abs 1 oder Abs 2 Satz 1 BVFG nicht zu begründen. Dem allgemeinen Wiedergutmachungsgedanken läßt sich nicht entnehmen, daß § 1 Abs 2 Satz 1 BVFG, der ja eine spezielle Ausgestaltung dieses Prinzips ist, gegen den eindeutigen Wortlaut auch auf Fälle anzuwenden ist, die vom gesetzlichen Tatbestand nicht erfaßt sind.

Die Revision des Klägers konnte sonach keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657151

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge