Leitsatz (amtlich)
Zeitpunkt der Beitragsentrichtung ist die Einzahlung bei der Post zur Überweisung auf ein Postscheckkonto des Rentenversicherungsträgers, wenn diese vor dem 5. Tage vor der Wertstellung (Buchung) erfolgte (Anschluß an BSG 1984-02-16 1 RA 37/83 = SozR 2200 § 1407 Nr 6).
Orientierungssatz
Eine den Versicherungsträger begünstigende Sonderregelung enthält § 6 RVBeitrV 1976 nicht.
Normenkette
AVG § 129 Abs 1 Fassung: 1972-10-16, § 140 Abs 1 Fassung: 1977-06-27; RVO § 1407 Abs 1 Fassung: 1972-10-16, § 1418 Abs 1 Fassung: 1977-06-27; RVBeitrV 1976 § 5 Fassung: 1976-06-21, § 6 S 1 Nr 3 Fassung: 1976-06-21; BGB § 270 Abs 1
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 20.04.1983; Aktenzeichen L 11 An 214/81) |
SG München (Entscheidung vom 19.03.1981; Aktenzeichen S 2 An 64/80) |
Tatbestand
Streitig ist eine Beitragsbeanstandung.
Die bei der beklagten Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) zur freiwilligen Weiterversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung der Angestellten berechtigte Klägerin zahlte am 29. Dezember 1978 beim Postamt Starnberg (St.) 1.296,-- DM per Postüberweisung auf das Postscheckkonto der Beklagten in Berlin ein. Dabei bestimmte sie den Betrag für 36 Monatsbeiträge der freiwilligen Versicherung in Klasse 200 zu je 36,-- DM (Mindestbeitrag) für den Zeitraum von Januar 1976 bis Dezember 1978. Gutschrift und Wertstellung auf dem Konto der Beklagten erfolgten am 10. Januar 1979.
Die Beklagte beanstandete die Einzahlung, da die Beiträge für das Jahr 1976 verspätet und für die Jahre 1977 und 1978 hinsichtlich des im Zeitpunkt der Beitragsentrichtung im Jahre 1979 geltenden Mindestbeitrags von 72,-- DM in zu geringer Höhe entrichtet seien; die Zahlung sei - Einverständnis vorausgesetzt - für die Zeit von Januar 1977 bis Juni 1978 mit monatlich 72,-- DM verbucht worden (Bescheid vom 6. Juli 1979, Widerspruchsbescheid vom 15. Januar 1980).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 19. März 1981). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verurteilt, die von der Klägerin am 29. Dezember 1978 eingezahlten 1.296,-- DM als je 12 freiwillige Beiträge für die Jahre 1976, 1977 und 1978 gutzuschreiben (Urteil vom 20. April 1983). In der Begründung heißt es, die für das Jahr 1976 entrichteten Beiträge hätten nach § 140 Abs 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), die für 1977 und 1978 entrichteten Beiträge nach § 141 Abs 3 AVG nur bis Dienstag, den 2. Januar 1979 entrichtet werden können. Wie sich aus einer Auskunft des Postscheckamts Berlin-West ergebe, wäre die Verbuchung des am 29. Dezember 1978 eingezahlten Betrags noch am 2. Januar 1979 normalerweise gesichert gewesen. Die Klägerin habe zwar das Risiko der Postbeförderung zu tragen, jedoch hätten unter Berücksichtigung des aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die Interessen der Beklagten an fristgerechter Entrichtung von Beiträgen hinter denjenigen der Klägerin zurückzutreten, die bei einem Verlust von Versicherungsjahren berührt wären.
Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte Verletzung des materiellen Rechts. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) dürfe sich der Versicherungsträger nur dann nicht auf eine Ausschlußfrist berufen, wenn er durch sein objektives Fehlverhalten die Verspätung begünstigt habe. Eine im Entwurf des § 6 Nr 3 der Rentenversicherungs-Beitragsentrichtungsverordnung (RVBeitrV) ursprünglich vorgesehene Erweiterung, nach der der Beitrag auch dann als entrichtet anzusehen gewesen wäre, wenn der Versicherte einen längeren Zeitraum zwischen Einzahlung und Wertstellung hätte nachweisen können, sei nicht realisiert worden. Im übrigen hätte die Klägerin durch frühere Einzahlung oder telegrafische Anweisung, also bei Anwendung zumutbarer Sorgfalt, eine rechtzeitige Überweisung sichern können. Schließlich sei das Altersruhegeld der Klägerin nicht in erheblichem Umfang gefährdet.
Die Beklagte beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 19. März 1981 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. April 1983 zurückzuweisen, hilfsweise, das Verfahren gemäß Art 100 Grundgesetz auszusetzen und weiter hilfsweise, die Verfassungswidrigkeit des § 6 Nr 3 RVBeitrV festzustellen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten war zurückzuweisen.
Das angefochtene Urteil ist dahin zu verstehen, daß der Beanstandungsbescheid aufgehoben und zugleich die Wirksamkeit der Beitragsentrichtung von 1.296,-- DM zu je 12 freiwilligen Beiträgen für die Jahre 1976 bis 1978 festgestellt wird (vgl BSGE 39, 203 = SozR 2200 § 1409 Nr 2).
Die Wirksamkeit der Beitragsentrichtung kann nicht zweifelhaft sein, wenn die Beiträge vor dem 1. Januar 1979 im Sinne des § 140 Abs 1 AVG bzw des § 141 Abs 3 AVG "entrichtet" wurden, wobei § 140 Abs 1 AVG in der bis zum Inkrafttreten des 20. Rentenanpassungsgesetzes (RAG) am 1. Januar 1980 geltenden Fassung vom 23. Februar 1957 und § 141 Abs 3 idF des Gesetzes vom 21. Dezember 1967 anzuwenden sind. Das ist - entgegen der Auffassung des LSG und der Beklagten - jedoch der Fall, so daß es auf die von der Revision bekämpfte Nachsichtgewährung gegen eine Fristversäumung nicht ankommt.
In welchem Zeitpunkt bei unbarer Zahlung ein Beitrag "entrichtet" ist, regelt das AVG nicht. Nach § 129 Abs 1 AVG idF des Gesetzes vom 16. Oktober 1972 erfolgt die Entrichtung der Beiträge für die freiwillige Weiterversicherung durch Verwendung von Beitragsmarken, soweit nicht zur Anpassung an die Entwicklung des Zahlungsverkehrs eine andere Art der Beitragsentrichtung "durch Rechtsverordnung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung zugelassen oder vorgeschrieben" wird. Zur Zeit der Überweisung galt die zum 1. Januar 1977 in Kraft getretene Rentenversicherungs-Beitragsentrichtungsverordnung (RVBeitrV) vom 21. Juni 1976 (BGBl I 1976, 1667). Nach deren § 5 war die Einzelüberweisung zulässig; nach deren § 6 Satz 1 Nr 3 "gilt" der Beitrag in den Fällen des § 5 "am 5. Tag vor dem Tag, an dem die Wertstellung des eingezahlten Beitrags auf dem Konto des zuständigen Trägers der Rentenversicherung erfolgt ist, als entrichtet". Ist keine Wertstellung erfolgt, so gilt nach dem folgenden Satz 2 der Tag der Buchung als Tag der Wertstellung iS des Satzes 1 Nr 3. Die Vorschrift soll sich - wie in den Gesetzesmaterialien herausgestellt wird - "zugunsten des Versicherten" auswirken (BR-Drucks 279/76 S 17).
Das läßt verschiedene Auslegungen zu. Die Beklagte meint, schon nach dem Wortlaut ("gilt") handele es sich um eine gesetzliche Fiktion oder unwiderlegliche Vermutung, die schlechthin gelte, so daß es nicht mehr darauf ankomme, ob der Beitrag erst mit der Gutschrift (Wertstellung) oder schon mit der Einzahlung "entrichtet" werde. Demgegenüber hat der 1. Senat des BSG in einem Urteil vom 16. Februar 1984 - 1 RA 37/83 - (zur Veröffentlichung vorgesehen) die RVBeitrV dahin verstanden, daß diese schon die Einzahlung bei der Post als Beitragsentrichtung ansehe; der § 6 RVBeitrV müßte, damit er sich zugunsten des Versicherten auswirke, dahin verstanden werden, daß er zwar eine Entrichtung (= Einzahlung) mindestens fünf Tage vor der Wertstellung (Gutschrift) zugunsten des Versicherten vermuten lasse, daß er aber den Nachweis einer früheren Einzahlung (= Entrichtung) nicht ausschließe. Dem tritt der erkennende Senat nach eigener Prüfung bei.
Bei der Auslegung ist, da es sich um eine Geldzahlung handelt, von den allgemeinen Grundsätzen auszugehen, wie sie in den §§ 269 ff Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), insbesondere in § 270 ihren Niederschlag gefunden haben. Nach § 269 BGB wird der Leistungsort im Zweifel durch den Wohnsitz des Schuldners bestimmt. Nach § 270 Abs 1 BGB hat der Schuldner Geld im Zweifel auf seine Gefahr und seine Kosten dem Gläubiger an dessen Wohnsitz zu übermitteln; nach Abs 4 bleiben die Vorschriften über den Leistungsort unberührt.
Das wird nach allgemeiner Ansicht dahin verstanden, daß § 270 Abs 1 BGB nur die Transportgefahr dem Schuldner auferlegt, daß aber der Gläubiger die Gefahr des rechtzeitigen Eingangs des Geldes (Zeitgefahr, Verspätungsgefahr, Verzögerungsgefahr) gemäß Abs 4 trägt, da der Leistungsort nicht geändert wird, so daß der Schuldner rechtzeitig an diesem Ort, nach § 269 BGB also regelmäßig an seinem Wohnsitz, zu leisten hat; die Leistungshandlung ist rechtzeitig, wenn der Schuldner das Geld vor Ablauf der Leistungsfrist abgesandt hat, sofern nicht ausnahmsweise vereinbart worden ist, daß der Gläubiger das Geld innerhalb der Frist zu empfangen habe (Heinrichs in Palandt, BGB, 43. Auflage, 1984, § 270 Anm 2b; Münchener Kommentar zum BGB § 270 RdNr 18 bis 21; Reichsgerichtsräte-Kommentar zum BGB, 12. Auflage 1976, § 270 RdNr 5 bis 7; Sirp in Erman, Handkommentar zum BGB, 7. Auflage 1981, § 270 RdNr 2; Selb in Staudinger, BGB, 12. Auflage 1979, § 270 RdNr 11). Demgegenüber trägt bei empfangsbedürftigen Willenserklärungen der Absender auch das Verspätungsrisiko (so BSG SozR 5486 Art 4 § 2 Nr 2), so daß sich das LSG auf letztgenannte Entscheidung zu Unrecht beruft.
Die hier streitigen in § 140 Abs 1 und in § 141 Abs 3 AVG genannten bei der Beitragsentrichtung zu beachtenden Fristen betreffen die Rechtzeitigkeit der Leistung, so daß nach den aufgezeigten Grundsätzen die Beklagte die Verzögerungsgefahr trüge, sofern nicht eine Sonderregelung eingreift. Eine solche - den Versicherungsträger begünstigende - Sonderregelung enthält § 6 RVBeitrV 1976 nicht.
Der Auslegung steht nicht entgegen, daß die zuvor geltende Regelung des § 3 der Verordnung über die bargeldlose Entrichtung von Beiträgen zur Rentenversicherung der Arbeiter und zur Rentenversicherung der Angestellten vom 26. November 1969 (BGBl I S 2181), wonach die Träger der Rentenversicherung die freiwilligen Beiträge anzunehmen hatten, die in den letzten 5 Tagen eines jeden Jahres bei den Postämtern der Deutschen Bundespost mit den Angaben nach § 4 (zur zeitlichen Zuordnung der Beiträge) auf ein Konto des zuständigen Trägers der Rentenversicherung eingezahlt worden sind, in die RVBeitrV 1976 nicht übernommen wurde. Denn diese läßt die Überweisung freiwilliger Beiträge uneingeschränkt zu. Im übrigen sah die Verwaltungspraxis zur Verordnung vom 26. November 1969 im Falle der Überweisung allgemein den Tag der Einzahlung und nicht erst den Tag der Gutschrift als Zeitpunkt der Entrichtung an (vgl Horsch, MittLVARheinpr 1976, 434, 444).
Auch fehlen ausreichende Anhaltspunkte dafür, daß der Verordnungsgeber den Nachweis einer früheren Einzahlung ausschließen wollte, sei es durch Bestimmung des Zeitpunkts der Gutschrift als Zeitpunkt der Entrichtung mit der Vergünstigung einer 5-Tage- Fiktion, sei es durch die Maßgabe, daß die Fiktion auch zu Ungunsten des Versicherten bei früherer Einzahlung gelten solle. Eine solche Absicht des Verordnungsgebers ergibt sich insbesondere nicht aus der von der Beklagten behaupteten Streichung der "ursprünglich vorgesehenen Erweiterung, nach der der Beitrag auch dann als entrichtet anzusehen sei, wenn der Versicherte einen längeren Zeitraum zwischen Einzahlung und Wertstellung hätte nachweisen können"; denn die Regelung kann auch als unnötige Klarstellung gestrichen worden sein, was die Auslegung des Senats bestätigen würde. Überdies kann die frühere Fassung den amtlichen Gesetzesmaterialien, auf die in erster Linie abzustellen ist, nicht entnommen werden. Diese weisen vielmehr deutlich darauf hin, daß der Verordnungsgeber entsprechend den allgemeinen Grundsätzen die Verzögerungsgefahr nicht dem Beitragszahler anlasten wollte. Nach der Amtlichen Begründung zu § 6 (BR-Drucks 279/76, S 17) läßt die vorgesehene Regelung "Verzögerungen im Überweisungsverkehr nicht zu Lasten des Versicherten gehen", und wird in Nr 3 "zugunsten des Versicherten angenommen, daß er den Beitrag 5 Tage vor dem Tag der Wertstellung auf dem Konto des Trägers der Rentenversicherung eingezahlt hat". Demgegenüber würde die von der Beklagten in Übereinstimmung mit dem Verband der Rentenversicherungsträger - Fachausschuß für Versicherung und Rente - (vgl von Einem, MittLVARheinpr 1983, 96, 99) vertretene Ansicht darauf hinauslaufen, daß außergewöhnliche Verzögerungen der Überweisung, mit denen erfahrungsgemäß am Jahresende gerechnet werden muß, zu Lasten des Versicherten gehen (Linz, MittLVAOberfranken, 1983, 163, 175).
Wenn von Einem (aaO S 100), dem der Senat weitgehend gefolgt ist, einschränkend unter Hinweis auf Canaris (Bankvertretungsrecht, 2. Aufl, 1981, RdNr 480), meint, der Versicherte habe das Geld so zeitig zu überweisen, daß es bei normalem Verlauf fristgerecht beim Gläubiger eingehe, so vermag der Senat dem nicht zu folgen. Dabei kann dahinstehen, ob dieser nur vereinzelt geäußerten Annahme für den Bereich des Zivilrechts bei unmittelbarer Anwendung des § 270 BGB zuzustimmen ist; jedenfalls gehört diese Einschränkung nicht zu dem hinter § 270 BGB stehenden allgemeinen Rechtsgrundsatz, und nur dieser ist im öffentlichen Recht anzuwenden.
Die Revision der Beklagten war daher mit der Kostenfolge aus
Fundstellen