Entscheidungsstichwort (Thema)

Übergangsregelung für Kinderzulage

 

Orientierungssatz

1. § 583 Abs 1 RVO setzt die tatsächliche Auszahlung der dem Schwerverletzten zustehenden Rente voraus.

2. Die Kinderzulage ist keine besondere Leistung neben der Verletztenrente, sondern ein von der Erfüllung besonderer tatsächlicher Voraussetzungen abhängiger Bestandteil. Sie teilt deren rechtliches Schicksal und ist zeitlich mit ihr verbunden.

 

Normenkette

RVO § 583 Abs 1 Fassung: 1983-12-22; HBegleitG 1984 Fassung: 1983-12-22

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 02.03.1988; Aktenzeichen L 4 U 49/87)

SG Kiel (Entscheidung vom 12.05.1987; Aktenzeichen S 4 U 55/86)

 

Tatbestand

Streitig ist die einem Schwerverletzten zustehende Kinderzulage nach § 583 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO).

Der beklagte Gemeindeunfallversicherungsverband gewährte dem Kläger Unfallrente unter anderem nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 45 vom Hundert -vH- (Bescheid vom 26. November 1981). Seinem Verschlimmerungsantrag vom 25. Juli 1985 gab der Beklagte insofern statt, als er rückwirkend die MdE vom 11. Oktober 1984 an auf 55 vH feststellte und entsprechende Verletztenrente gewährte. Der gehörte Gutachter Professor Dr. H           von der Chirurgischen Universitätsklinik K    ging von einer Verschlimmerung der Unfallfolgen etwa ein Jahr vor der Untersuchung am 14. Oktober 1985 aus. Der Beklagte lehnte die Gewährung von Kinderzulage ab, da der Kläger erst seit 11. Oktober 1984 Schwerverletzter sei (Bescheid vom 20. März 1986).

Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verurteilt, ab 11. Oktober 1984 Kinderzulage zu zahlen, da nach dem Sachverständigen Facharzt für Chirurgie Dr. E      die MdE schon am 31. Dezember 1983 50 vH betragen habe (Urteil vom 12. Mai 1987). Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 2. März 1988). Zur Begründung hat es ua ausgeführt, § 583 Abs 1 RVO setze den tatsächlichen Bezug der Verletztenrente nach einer MdE um 50 vH voraus. Die Schwerverletzteneigenschaft allein zum 1. Januar 1984 sei nicht entscheidend. Der durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 gewährte Bestandsschutz komme nur demjenigen Personenkreis zugute, der an dem fraglichen Stichtag tatsächlich Kinderzulage ausgezahlt erhalten habe.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 583 Abs 1 RVO. Maßgebend sei - meint der Kläger - das Vorliegen der Schwerverletzteneigenschaft vor dem 1. Januar 1984. Die Kinderzulage sei nicht von dem konkreten Bezug einer entsprechenden Rente vor dem fraglichen Zeitpunkt abhängig.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers gegen das Urteil des LSG zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil des LSG für zutreffend. Für die Gewährung von Kinderzulage sei entscheidend, ob vor dem 1. Januar 1984 Verletztenrente eines Schwerverletzten bezogen worden sei. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit zu dem fraglichen Zeitpunkt sei nicht das entscheidende Kriterium.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Ihm steht, wie das LSG zutreffend entschieden hat, Kinderzulage nicht zu.

Rechtsgrundlage des streitigen Anspruches ist § 583 Abs 1 RVO in der durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 vom 22. Dezember 1983 (BGBl I, 1532; im folgenden: HBeglG 1984) ab 1. Januar 1984 geltenden Neufassung. Danach erhöht sich die Verletztenrente für jedes Kind bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres um 10 vH (Kinderzulage), solange der Verletzte eine Rente von 50 oder mehr vH der Vollrente oder mehrere Verletztenrenten aus der Unfallversicherung bezieht und sofern er für das Kind vor dem 1. Januar 1984 einen Anspruch auf Kinderzulage gehabt hat. Diese Voraussetzungen, meint der Kläger, seien schon dann erfüllt, wenn die Schwerverletzteneigenschaft vor dem 1. Januar 1984 bestanden habe; auf einen entsprechenden Bezug der Rente um mindestens 50 vH der Vollrente komme es hingegen nicht an. Dem pflichtet der Senat nicht bei.

Nach § 583 Abs 1 RVO hat nur derjenige einen Anspruch auf Kinderzulage, der nach der in dieser Vorschrift enthaltenen Legaldefinition als Schwerverletzter entsprechende Verletztenrente erhält. Die Wortfassung "solange ... bezieht" macht deutlich, daß es für die Schwerverletzteneigenschaft im genannten Sinne entgegen der Meinung des Klägers nicht allein darauf ankommt, ob die MdE tatsächlich 50 vH oder mehr beträgt. Entscheidend ist vielmehr, daß dem Verletzten auch eine Rente nach einer MdE um mindestens 50 vH gezahlt wird (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, Band III Seite 580a; Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, Anm 2 zu § 583; Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 4. Aufl, Anm 2 zu § 583; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl, Kennzahl 550 S 5).

Die am Wortlaut orientierte Auslegung ergibt auch im übrigen, daß § 583 Abs 1 RVO die tatsächliche Auszahlung der dem Schwerverletzten zustehenden Rente voraussetzt. Die Kinderzulage bewirkt die Erhöhung der Vollrente um 10 vH. Erhöhen kann sich begriffsnotwendig nur ein bestehender Leistungsanspruch, der dem Leistungsberechtigten auch effektiv zugute kommt (BSGE 60, 18, 19 = SozR 2200 § 1262 Nr 33 mwN). Ferner leitet sich aus der Fassung der Vorschrift ab, daß die Kinderzulage keine besondere Leistung neben der Verletztenrente, sondern ein von der Erfüllung besonderer tatsächlicher Voraussetzungen abhängiger Bestandteil der Rente ist (Brackmann aa0 S 580). Sie teilt deren rechtliches Schicksal und ist zeitlich mit ihr verbunden (Lauterbach/Watermann aa0 Anm 2 zu § 583). Infolge dieser Verknüpfung richtet sich in den Übergangsfällen des § 583 Abs 1 letzter Halbsatz RVO ("sofern der Verletzte für das Kind vor dem 1. Januar 1984 einen Anspruch auf Kinderzulage gehabt hat") der Anspruch auf Kinderzulage danach, ob der Verletzte vor dem 1. Januar 1984 die Auszahlung der einem Schwerverletzten zustehenden Rente verlangen konnte. Ein solcher Anspruch vor dem 1. Januar 1984 stand dem Kläger nicht zu. Der Kläger bezieht erst vom 11. Oktober 1984 an eine Rente um 55 vH der Vollrente; zuvor richtete sich der Rentenbezug nach einer MdE um 45 vH.

Die Gesetzesmaterialien bestätigen die vorstehende Auslegung. Der in der Neufassung des § 583 Abs 1 RVO eingefügte Zusatz geht auf einen Vorschlag der Bundesregierung in dem von ihr eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über Maßnahmen zur Entlastung der öffentlichen Haushalte und zur Stabilisierung der Finanzentwicklung in der Rentenversicherung sowie über die Verlängerung der Investitionshilfeabgabe (HBeglG 1984) zurück (BT-Drucks 10/335 S 8 Nr 20). Danach sollte in § 583 Abs 1 RVO nach dem Wort "(Kinderzulage)" eingefügt werden "sofern für das Kind vor dem 1. Januar 1984 ein Anspruch auf Kinderzulage bestanden hat." Nach den Intentionen der Bundesregierung war eine Stabilisierung in der Finanzentwicklung ua durch das Ersetzen der bisher kinderbezogenen Leistungen der Rentenversicherung und Unfallversicherung durch das gesetzliche Kindergeld bei Neurenten zu erreichen (Allgemeiner Teil der Begründung: BT-Drucks aa0 S 2 und 42). Diese Zielsetzung kommt in der "Allgemeinen Begründung zum sozialrechtlichen Teil" nochmals zum Ausdruck, soweit es darin im Abschnitt A Ziffer 7 heißt "Der Kinderzuschuß der Rentenversicherung soll vom 1. Januar 1984 an für künftige Versicherungsfälle durch das Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz ersetzt werden; um Eingriffe in laufende Leistungen zu vermeiden, soll die vorgesehene Ersetzung des Kinderzuschusses durch das Kindergeld nur für künftige Versicherungsfälle gelten" (BT-Drucks aa0 jeweils S 60). Diese letztgenannten Ausführungen beziehen sich zwar nur auf Leistungen der Rentenversicherung, sie gelten indessen auch für solche der Unfallversicherung. Die in dem Regierungsentwurf in Abschnitt III "Besondere Begründung zum sozialrechtlichen Teil" zu Art 1 Nr 20 (§ 583) enthaltenen Darlegung bestätigt dies: "Angesichts der vorgesehenen Harmonisierung bei der Anpassung in der Rentenversicherung und in der Unfallversicherung ist eine unterschiedliche Behandlung der Kinderleistungen nicht länger vertretbar. Mit der Neufassung des § 583 Abs 1 RVO wird die Regelung der Rentenversicherung in § 1262 Abs 1 Satz 1 RVO übernommen, das heißt, künftig soll an die Stelle der Kinderzulage das Kindergeld treten" (BT-Drucks aa0 S 72). Wie in dem vorgenannten Abschnitt zu Nr 35 (§ 1262) ergänzend angemerkt ist, "betrifft die Änderung nur die Kinder, für die vor 1984 noch kein Anspruch auf einen Kinderzuschuß (im Unfallrecht: Kinderzulage) bestand" (BT-Drucks aa0 S 74). Die endgültige Gesetzesfassung geht auf eine Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zurück (BT-Drucks 10/690 S 1), wonach in § 583 Abs 1 nach dem Wort "(Kinderzulage)" anstelle der Entwurfsfassung "sofern für das Kind vor dem 1. Januar 1984 ein Anspruch auf Kinderzulage bestanden hat" nunmehr eingefügt wurde "sofern der Verletzte für das Kind vor dem 1. Januar 1984 einen Anspruch auf Kinderzulage gehabt hat" (BT-Drucks 10/690 S 13 zu Nr 20). Der Ausschuß ist damit einer Anregung des mitberatenden Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuß) gefolgt. In Abschnitt III "Zu den Maßnahmen im einzelnen" bemerkt der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ua "Der Ausschuß hat ... den Regelungen, wonach für künftige Versicherungsfälle die Kinderzulage der gesetzlichen Unfallversicherung und der Kinderzuschuß der gesetzlichen Rentenversicherung durch das Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz ersetzt werden sollen, mit einer klarstellenden Ergänzung zugestimmt" (BT-Drucks 10/691 S 12). Zur Begründung der zu § 583 RVO vorgeschlagenen Neufassung wird auf die in § 1262 RVO eingefügte Paralleländerung verwiesen (Art 1 zu Nr 20 = § 583 RVO: BT-Drucks 10/691 S 23). Dort ist zu Nr 35 (§ 1262 RVO) ausgeführt "Durch die Neufassung kommt es für die Leistung künftiger Kinderzuschüsse nicht nur auf die Personengleichheit beim Kind, sondern auch beim Rentenberechtigten an" (BT-Drucks 10/691 S 24).

Nach alldem wird die Grundkonzeption des Gesetzes deutlich, nur demjenigen Schwerverletzten einen Bestandsschutz zuzubilligen, der vor dem 1. Januar 1984 einen Anspruch auf Kinderzulage nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung bzw Kinderzuschuß nach dem Recht der gesetzlichen Rentenversicherung hatte. Nur diesem Personenkreis sind diese Leistungen über den fraglichen Stichtag hinaus weiterzugewähren. Alle nach diesem Stichtag entstehenden Ansprüche im Rahmen des hier in Betracht kommenden Familienlastenausgleichs sind nach dem Kindergeldgesetz abzuwickeln. Insoweit folgt der Senat der zu § 1262 RVO ergangenen Rechtsprechung (BSGE 60 aa0; SozR 2200 § 1262 Nr 31 und 39, Brackmann aaO S 705 u). Gleichermaßen geht der Senat in Anlehnung an den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Oktober 1986 - 1 BvR 520/86 - (= SozR 2200 § 1262 Nr 37), wonach die Neuregelung des § 1262 Abs 1 Satz 1 RVO idF des HBeglG 1984 mit dem Grundgesetz vereinbar ist, davon aus, daß auch § 583 Abs 1 RVO in der durch das HBeglG 1984 erhaltenen Neufassung verfassungsgemäß ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648560

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge