Entscheidungsstichwort (Thema)

Mangelnde Sachaufklärung. Herstellung der Spruchreife. unzulässige Zurückverweisung an Verwaltung

 

Orientierungssatz

1. Nach der Rechtsprechung des Senats stimmen § 44 SGB 10 und die Vorgängervorschrift des § 40 KOVVfG in den Voraussetzungen für die Rücknahme eines nicht begünstigenden Verwaltungsaktes überein (vgl BSG 28.1.1981 9 RV 29/80 = BSGE 51, 139 = SozR 3900 § 40 Nr 15). Danach sind die Gerichte gehalten, die Sach- und Rechtslage uneingeschränkt zu kontrollieren. Dazu gehört es, daß das Gericht sich über die Sachlage, die dem Merkmal der Unrichtigkeit unterzuordnen ist, umfassend Aufschluß verschafft. Hierzu rechnet beispielsweise die Beiziehung des Originals einer ärztlichen Bescheinigung. Das Gericht darf sich nicht mit der Anforderung des Originals beim Kläger begnügen, sondern ist gehalten, das Original von der Behörde beizuziehen. Andernfalls verstößt das Gericht gegen die ihm obliegende Sachaufklärung nach § 103 SGG sowie andererseits gegen das Gebot der Herstellung der Spruchreife (§ 131 Abs 2 SGG; vgl BSG 24.11.1977 9 RV 64/76 = SozR 1500 § 103 Nr 16).

2. Ein im Urteil enthaltener Hinweis "es mag dem Kläger überlassen bleiben, unter Vorlage dieses Originals einen neuen Antrag auf Anerkennung der Folgen der Lungentuberkulose bei der Versorgungsverwaltung zu stellen", kommt in den praktischen Auswirkungen einer unzulässigen Zurückverweisung der Sache an die Verwaltung gleich.

 

Normenkette

SGB 10 § 44; KOVVfG § 40; SGG § 103 S 1, § 131 Abs 2

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 07.02.1984; Aktenzeichen L 4 V 106/83)

SG Mainz (Entscheidung vom 05.05.1983; Aktenzeichen S 5 V 54/82)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Anerkennung von Gesundheitsstörungen im Lungenbereich (Lungentuberkulose, chronische und spastische Bronchitis, Lungenblähung) als Schädigungsfolgen sowie Versorgungsrente eines Erwerbsunfähigen.

Er macht für diese Leiden Lungen- und Rippenfellentzündungen verantwortlich, die er im Jahre 1943 während der Zugehörigkeit zur Luftwaffe und wiederum 1945 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft sich zugezogen haben will. Anläßlich einer stationären Behandlung wegen einer im März 1951 festgestellten Lungentuberkulose verwies der Kläger auf die in den Jahren 1943 und 1945 erlittenen Erkrankungen.

Die Versorgungsverwaltung lehnte die Anträge des Klägers auf Anerkennung seines Lungenleidens als Schädigungsfolge mit den Bescheiden vom 24. Januar 1953 und 22. Dezember 1975 ab. Im Februar 1981 stellte der Kläger erneut einen Versorgungsantrag, wobei er sich zum Beweis der durchgemachten Lungenerkrankung in amerikanischer Kriegsgefangenschaft erstmals auf das Zeugnis des Prof. Dr. P., W. , bezog. Dieser bestätigte als Zeuge im sozialgerichtlichen Verfahren eine Lungen- und Rippenfellentzündung mit anschließender Lungentuberkulose. Nach ergebnislosem Verwaltungs- und Klageverfahren legte der Kläger im Berufungsverfahren ua die Fotokopie einer ärztlichen Bescheinigung eines amerikanischen Sanitätsoffiziers vom 3. März 1946 vor. Darin ist eine Lazarettbehandlung vom 22. Februar bis 8. Oktober 1945 mit der Diagnose Lungentuberkulose, Sinusitis und Bronchitis bestätigt. Der gerichtlichen Aufforderung im Januar 1984, die Originalbescheinigung vorzulegen, begegnete der Kläger mit dem Hinweis, er habe sie am 23. November 1983 dem Pentagon in Washington zum Zwecke der Ausstellung eines Original-Entlassungsscheines zugeleitet. Er beantragte Terminsaufhebung sowie die weitere Aufklärung des Sachverhalts von Gerichts wegen.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers als unbegründet zurückgewiesen. Es hat sich auf die versorgungsärztlichen Gutachten bezogen und ist der Zeugenaussage des Prof. Dr. P. nicht gefolgt. In bezug auf die fragliche ärztliche Bescheinigung vom 3. März 1946 hat es wörtlich ausgeführt:

"Die Überzeugung des Senats wird nicht durch die

vorgelegte Fotokopie einer ärztlichen Bescheinigung vom

3. März 1946 erschüttert. Denn der Kläger hat das Original

dieser Bescheinigung trotz der Auflage des Senats vom

13. Januar 1984 nicht vorgelegt, sondern mitgeteilt, er

habe das Original in das Verteidigungsministerium der USA

geschickt, um einen neuen Entlassungsschein zu erhalten.

Es mag dem Kläger überlassen bleiben, unter Vorlage dieses

Originals einen neuen Antrag auf Anerkennung der Folgen

der Lungen-Tbc bei der Versorgungsverwaltung zu stellen.

Der Senat sieht jedenfalls unter Berücksichtigung der

höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Umfang der

Ermittlungspflicht im Rücknahmeverfahren (BSG SozR 3900 § 40

Nr 15) und der vorliegenden Beweismittel keine Veranlassung,

die mündliche Verhandlung zu vertagen und weitere

Ermittlungen einzuleiten."

Der Kläger rügt mit der - vom Senat zugelassenen - Revision eine Verletzung des § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Das LSG hätte - meint der Kläger -, nachdem es selbst die ärztliche Bescheinigung vom 3. März 1946 im Original von ihm angefordert habe, seinem Beweisantrag folgen und die Originalbescheinigung beiziehen müssen. Diese Ermittlungen seien um so mehr durchzuführen gewesen, nachdem die bisherigen Beweisunterlagen die Überzeugung des LSG, daß die streitigen Gesundheitsstörungen nicht mit Wahrscheinlichkeit auf eine im Jahre 1945 durchgemachte Lungentuberkulose zurückzuführen seien, nicht zu erschüttern vermochte.

Der Kläger beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen sowie den Bescheid der Versorgungsbehörde aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, Lungentuberkulose, chronische spastische Bronchitis sowie Lungenblähung als Schädigungsfolge anzuerkennen und ihm Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 % zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist insoweit erfolgreich, als das Berufungsurteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist. Für eine Entscheidung über den Versorgungsantrag des Klägers fehlen ausreichende Tatsachenfeststellungen.

Nach der zutreffenden Rüge des Klägers beruht das angefochtene Urteil auf einer Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG). Das LSG hätte das Original der ärztlichen Bescheinigung vom 3. März 1946 selbst beiziehen müssen, nachdem ihm bekannt geworden war, daß der Kläger diese einer amerikanischen Behörde zugeleitet hatte. Die vom Kläger begehrte Sachaufklärung war auch entscheidungserheblich.

Für eine Entscheidung darüber, ob dem Kläger ein Versorgungsanspruch zusteht, kommt es, wovon auch das LSG zutreffend ausgeht, nach § 44 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) auf die tatsächliche oder rechtliche Unrichtigkeit der früheren bindenden Bescheide an, die somit nicht der materiellen Rechtslage entsprechen. Das Berufungsgericht hat die Anspruchsvoraussetzungen verneint, da es an einer tatsächlichen Anspruchsgrundlage fehle. Es habe sich nämlich trotz der Zeugenaussage des Prof. Dr. P. nicht zu überzeugen vermocht, daß der Kläger im Jahre 1945 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft an einer Lungentuberkulose erkrankt gewesen sei. Demzufolge könne auch die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs nach § 1 Abs 3 Satz 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) nicht bejaht werden.

Nach der Rechtsprechung des Senats stimmen § 44 SGB 10 und die Vorgängervorschrift des § 40 KOV-VfG in den Voraussetzungen für die Rücknahme eines nicht begünstigenden Verwaltungsaktes überein (BSGE 51, 139 = SozR 3900 § 40 Nr 15). Danach sind die Gerichte gehalten, die Sach- und Rechtslage uneingeschränkt zu kontrollieren. Dazu gehört es, daß das Berufungsgericht sich über die Sachlage, die dem Merkmal der Unrichtigkeit unterzuordnen ist, hätte umfassend Aufschluß verschaffen müssen. Hierzu rechnet die Beiziehung des Originals der ärztlichen Bescheinigung vom 3. März 1946. Dies um so mehr, als das LSG der vorgelegten Fotokopie offenbar keinen Beweiswert beimaß, ohne darauf allerdings, wie dies erforderlich gewesen wäre, einzugehen. Das Berufungsgericht durfte sich nicht mit der Anforderung des Originals beim Kläger begnügen, sondern war entsprechend der klägerischen Information gehalten, das Original von der amerikanischen Behörde beizuziehen. Indem das LSG dies unterließ, verstieß es gegen die ihm obliegende Sachaufklärung nach § 103 SGG sowie andererseits gegen das Gebot der Herstellung der Spruchreife (§ 131 Abs 2 SGG; BSG SozR 1500 § 103 Nr 16). Zudem kommt der im Berufungsurteil enthaltene Hinweis "es mag dem Kläger überlassen bleiben, unter Vorlage dieses Originals einen neuen Antrag auf Anerkennung der Folgen der Lungentuberkulose bei der Versorgungsverwaltung zu stellen" in den praktischen Auswirkungen einer unzulässigen Zurückverweisung der Sache an die Verwaltung gleich (vgl hierzu BSG SozR 3900 § 40 Nr 16 mwN). Das Gericht muß selbst alle Ermittlungsmöglichkeiten ausschöpfen, um sodann abschließend über die Frage der Unrichtigkeit entscheiden zu können. Ob es daneben letztendlich bei der versorgungsärztlichen Begutachtung verbleiben kann oder doch, wie seitens des Klägers angeregt, ein fachärztliches Gutachten von Gerichts wegen einzuholen ist, wird das Berufungsgericht ebenfalls in seine Überlegung mit einzubeziehen haben. Immerhin hat der Kläger gegen die versorgungsärztlichen Gutachten beachtliche Einwände erhoben, die eine fachärztliche Überprüfung angezeigt erscheinen lassen.

Allein das Unterlassen der erforderlichen Beweiserhebung führt zur Zurückverweisung der Sache. Das LSG wird festzustellen haben, ob eine gesundheitliche Schädigung im Zusammenhang mit einer militärischen Dienstverrichtung (§ 1 Abs 1 BVG) bzw einer Kriegsgefangenschaft (§ 1 Abs 2 Buchst b BVG) festzustellen ist. Ein solch gebotener Nachweis, der ua die Voraussetzung für die Anerkennung von Schädigungsfolgen ist, ist allerdings nicht allein durch die Originalbescheinigung zu führen. Denkbar wäre auch eine die Zeugenaussage des Prof. Dr. P. bestätigende fachärztliche Begutachtung.

Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657923

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