Entscheidungsstichwort (Thema)

Heilungsbewährung. Herzinfarkt. Herabsetzung des GdB. Revisionsbegründungsfrist. bestimmter Antag

 

Leitsatz (amtlich)

Heilungsbewährung nach einem Herzinfarkt tritt auch dann ein, wenn das Risiko eines weiteren Infarktes unverändert fortbesteht.

Stand: 24. Oktober 2002

 

Normenkette

SGB X § 48 Abs. 1 S. 1; SchwbG § 3; SGG § 164 Abs. 2 S. 3

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 28.03.1996; Aktenzeichen L 15 Vs 11/94)

SG Landshut (Entscheidung vom 17.12.1993; Aktenzeichen S 1 Vs 159/92)

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 28. März 1996 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Nach einem früher abgelaufenen stummen Herzinfarkt erlitt der Kläger im Februar 1990 einen Vorderwandinfarkt. Der Beklagte stellte verschiedene Behinderungen nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG), darunter „Coronare Herzkrankheit (Zweitinfarkt 2/90)” und einen (Gesamt-)Grad der Behinderung (GdB) von 50 fest (Bescheid vom 4. Juli 1990). Eineinhalb Jahre später setzte der Beklagte den GdB auf 40 herab. Das Herzleiden sei heilungsbewährt. Der (Einzel-)GdB dafür betrage deshalb nicht länger 50, sondern allein nach der festgestellten Leistungsbeeinträchtigung nur noch 30. Zusammen mit den weiteren Behinderungen ergebe sich ein (Gesamt-)GdB von 40 (Bescheid vom 12. November 1991, Widerspruchsbescheid vom 24. Februar 1992).

Das Sozialgericht hat diese Bescheide hinsichtlich der GdB-Herabsetzung aufgehoben (Urteil vom 17. Dezember 1993). Die Berufung des Beklagten hatte keinen Erfolg (Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 28. März 1996). Gegenüber dem Zustand bei Erlaß des Ausgangsbescheides vom 4. Juli 1990 habe sich das Herzleiden des Klägers nicht gebessert; er sei unverändert hochgradig reinfarktgefährdet. Die coronare Herzkrankheit sei mithin nicht heilungsbewährt, der GdB von 50 wegen unveränderter Verhältnisse zu belassen.

Der Beklagte macht mit der Revision eine Verletzung des § 48 Abs 1 Satz 1 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) iVm § 3 SchwbG und den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP) geltend. Mit der Höherbewertung des GdB für die Dauer eines Jahres solle dem Umstand Rechnung getragen werden, daß nach dem Infarkt die psychische Situation und die Herzmuskelfunktion noch nicht stabilisiert seien und demzufolge die Belastbarkeit des Betroffenen abgewartet werden müsse. Nach Ablauf eines Jahres sei der GdB nur noch nach der verbliebenen Leistungsbeeinträchtigung zu beurteilen und deshalb ggf herabzusetzen.

Der Revisionsbegründung des Beklagten läßt sich folgender Antrag entnehmen:

die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 28. März 1996 und des Sozialgerichts Landshut vom 17. Dezember 1993 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 12. November 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Februar 1992 abzuweisen.

Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,

die Revision zurückzuweisen.

Der Beigeladene stellt keinen Antrag. Er trägt vor, daß die Sektion „Versorgungsmedizin” des Ärztlichen Sachverständigenbeirates beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung sich bereits mehrfach dahin geäußert habe, die Notwendigkeit einer Heilungsbewährung ergebe sich bei coronarer Herzerkrankung nicht aus der Gefahr eines neuerlichen Herzinfarktes, sondern vielmehr aus der Tatsache, daß direkt nach dem Infarktereignis die – durch die sich entwickelnde Herznarbe bedingte – zukünftige Belastbarkeit des Herzens nicht mit genügender Sicherheit beurteilbar sei und der Behinderte zunächst seine Lebensumstände dieser Ungewißheit entsprechend einrichten müsse.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Beklagten ist zulässig, obwohl die Revisionsbegründung keinen förmlichen Antrag enthält. Der Forderung des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG nach einem innerhalb der Begründungsfrist zu stellenden bestimmten Antrag genügt es, wenn aus den insgesamt im Revisionsverfahren abgegebenen schriftlichen Erklärungen des Revisionsklägers klar zu erkennen ist, welchen Antrag er stellen will (BSG SozR 1500 § 164 Nrn 8 und 10). So liegt es hier. Nach seinem Vorbringen will der Beklagte mit der Revision erreichen, daß die Urteile der Instanzgerichte aufgehoben werden und die Klage abgewiesen wird.

Die Revision ist auch begründet. Sie führt zur Aufhebung des Urteils des LSG und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz.

Ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung ist nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlaß vorgelegen haben, eine wesentliche, dh rechtserhebliche (BSGE 59, 111, 112 = SozR 1300 § 48 Nr 29), Änderung eintritt. Nach Auffassung des LSG durfte der Beklagte den GdB nach dieser Vorschrift nicht herabsetzen, weil die mit „Coronare Herzkrankheit (Zweitinfarkt 2/90)” bezeichnete Behinderung seit dem Ausgangsbescheid vom 4. Juli 1990 unverändert geblieben sei. Auch mit Ende der einjährigen Heilungsbewährung hätten sich die tatsächlichen Verhältnisse nicht geändert, denn das Reinfarktrisiko habe fortbestanden und eine Heilungsbewährung sei damit nicht eingetreten. Diese Auffassung trifft nicht zu.

Der Beklagte hatte bei Feststellung des GdB im Ausgangsbescheid vom 4. Juli 1990 nicht allein die aufgrund des Herzinfarkts verbliebenen Leistungsbeeinträchtigungen berücksichtigt, sondern unabhängig davon einen GdB von 50 angenommen, weil für ein Jahr nach dem Herzinfarkt eine Heilungsbewährung abzuwarten und während dieser Zeit auch bei relativ geringer Leistungsbeeinträchtigung der GdB mindestens mit 50 festzustellen war. Das schrieben die AHP 1983 in Ziff 26.9 (S 67) vor. Der Grund für diese zeitlich begrenzte Höherbewertung war nicht, wie das LSG und in früheren Entscheidungen auch der Senat (vgl Urteil vom 9. August 1995 – 9 RVs 15/94 –, unveröffentlicht) angenommen haben, die Gefahr eines weiteren Herzinfarkts bei unverändert fortbestehender Risikolage. Der Grund lag vielmehr darin, daß nach dem 1983 erreichten Stand der medizinischen Wissenschaft die tatsächliche Funktionsbeeinträchtigung erst nach Ablauf längerer Zeit festgestellt werden konnte (vgl den in Ziff 24 Abs 3 ≪S 37≫ AHP 1983 genannten Herzinfarkt als Krankheit, bei der „die Belastbarkeit abgewartet werden muß” und dazu Rauschelbach/Pohlmann in Rohr/Strässer, Bundesversorgungsrecht mit Verfahrensrecht, Bd V, Stand 1992, S A 182 f; Lorenz, MEDSACH 1997, 100 f). Dementsprechend ist die Zeit der Heilungsbewährung nach Herzinfarkt im Gleichschritt mit der Verbesserung der diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten zur sachgerechten Leistungsbeurteilung zunächst verkürzt und dann ganz abgeschafft worden. Während die AHP 1977 in Ziff 37 (S 63 f) noch drei Jahre vorsahen, wurde die Zeit der Heilungsbewährung in den AHP 1983 (aaO) auf ein Jahr herabgesetzt; heute ist sie entfallen (Ziff 26.9 ≪S 88≫ AHP 1996; vgl Rösner, MEDSACH 1996, 173, 176 f und VersorgVerw 1997, 4, 6 sowie -kritisch- Henter, br 1997, 89, 91).

Danach hatten sich die tatsächlichen Verhältnisse hier mit Ablauf der einjährigen Heilungsbewährung geändert, weil – wie vom LSG festgestellt – der GdB für die Behinderung „Coronare Herzkrankheit (Zweitinfarkt 2/90)” nach der verbliebenen Leistungsbeeinträchtigung nur 40 betrug. Das gilt selbst dann, wenn die AHP 1983 im Jahre 1990 dem Stand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr entsprochen haben sollten, weil schon damals, als dem Kläger wegen abzuwartender Heilungsbewährung noch ein GdB von 50 zuerkannt worden war, eine Beurteilung der nach Herzinfarkt verbliebenen Leistungsbeeinträchtigung kurze Zeit nach diesem Ereignis möglich gewesen wäre. Die AHP 1983 wären dann zwar fehlerhaft und deshalb unverbindlich gewesen (vgl BVerfG 3-3870 § 3 Nr 6). Gleichwohl hätten sich die tatsächlichen Verhältnisse mit Eintritt der Heilungsbewährung geändert, weil sich der Beklagte bei Erlaß des Bescheides vom 4. Juli 1990 objektiv erkennbar an die AHP 1983 gehalten hat und diese ungeachtet ihrer möglichen Fehlerhaftigkeit Maßstab für einheitliches Verwaltungshandeln gewesen sind (vgl BSG, Urteil vom 12. Februar 1997 – 9 RVs 5/96 –, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen; RV 1997, 135).

Eine abschließende Entscheidung darüber, ob der Beklagte den GdB mit den angegriffenen Bescheiden zu Recht auf 40 herabgesetzt hat, ist dem Senat nicht möglich, weil dafür der Gesamt-GdB unter Berücksichtigung der weiteren – mit Einzelgraden von 20 und weniger eingeschätzten – Behinderungen zu bilden ist. Diese von seinem Standpunkt her bislang zu Recht unterbliebene Feststellung wird das LSG nachzuholen haben. Dabei wird es zu berücksichtigen haben, daß der angegriffene Herabsetzungsbescheid keine Dauerwirkung hat und deshalb für die Beurteilung der vom Kläger erhobenen reinen Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, 1. Alternative SGG) maßgeblich ist, ob der Verwaltungsakt bei seinem Erlaß der Sach- und Rechtslage entsprochen hat (BSG SozR 3-1300 § 48 Nr 57). Anders als offenbar im Berufungsurteil geschehen, ist danach nicht auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht abzustellen. Zu vergleichen sind vielmehr die Verhältnisse bei Erlaß des Ausgangsbescheides vom 4. Juli 1990 mit denen, die bei Abschluß des Verwaltungsverfahrens (Widerspruchsbescheid vom 24. Februar 1992) vorgelegen haben.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1175031

NJW 1998, 2766

SozR 3-3870 § 4, Nr.21

SozSi 1998, 319

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