Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 26.03.1993; Aktenzeichen L 4 J 102/92)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. März 1993 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten auch für das Revisionsverfahren zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob der Klägerin von einem früheren Zeitpunkt an (1. Januar 1985 statt 1. April 1989) Hinterbliebenenrente nach § 1265 Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.

Die am 29. Dezember 1923 geborene Klägerin ist die geschiedene Ehefrau des am 2. August 1967 verstorbenen und nicht wieder verheirateten Versicherten G. … L.. Ihre Ehe wurde am 10. Juli 1963 aus beiderseitigem Verschulden geschieden. Für den Fall der Rechtskraft der Scheidung verzichteten sie vergleichsweise gegenseitig auf Unterhalts- und Beitragsleistungen für Vergangenheit und Zukunft.

Nach dem Tode des Versicherten beantragte die Klägerin am 4. August 1967 erstmals, ihr eine Hinterbliebenenrente aus der Rentenversicherung der Arbeiter zu gewähren. Mit Bescheid vom 26. November 1967 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab: Der Versicherte sei nicht zu Unterhaltszahlungen verpflichtet gewesen und habe auch tatsächlich keinen Unterhalt an die Klägerin geleistet.

Weitere Anträge der Klägerin auf Hinterbliebenenrente vom 20. August 1974 und 18. Juni 1976 blieben erfolglos, wobei die Beklagte im ablehnenden Bescheid vom 30. September 1974 zusätzlich ausführte, der Anspruch sei auch nicht nach § 1265 Satz 2 RVO idF des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972 begründet, weil eine mögliche Unterhaltsverpflichtung nach § 60 Ehegesetz nicht nur wegen der Vermögens- und Erwerbsverhältnisse des früheren Ehemannes entfallen sei.

Mit Schreiben vom 10. März 1983 bat die Klägerin um Prüfung, ob ihr aufgrund einer neuen Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) eine Rente zustehe. Daraufhin teilte ihr die Beklagte unter dem 30. März 1983 mit, daß nach den vorliegenden Unterlagen kein Rentenanspruch zu begründen sei; es verbleibe bei dem Bescheid vom 30. September 1964 (richtig offenbar: 1974).

Am 6. März 1989 stellte die Klägerin nochmals den Antrag, ihr aufgrund der geänderten Rechtsprechung des BSG Hinterbliebenenrente zu gewähren. Daraufhin bewilligte die Beklagte der Klägerin Rente ab 1. April 1989 (Bescheid vom 27. September 1989).

Am 15. November 1989 bat die Klägerin um Überprüfung des Bescheides vom 27. September 1989, weil ihr die Rente gemäß § 44 Abs 4 Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch – (SGB X) bereits ab einem früheren Zeitpunkt gewährt werden müsse. Diesen Antrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 18. Dezember 1989 ab und gab an, der Rentenbeginn sei gemäß § 1290 Abs 4 RVO zutreffend auf den 1. April 1989 festgesetzt worden. Die früheren Rentenverfahren seien vor Vollendung des 60. Lebensjahres (29. Dezember 1983) – was jetzt anspruchsbegründend sei – abgeschlossen worden.

Im Widerspruchsverfahren wies die Klägerin auf ihre früheren Anträge (4. Dezember 1967, 20. August 1974, 18. Juni 1976 und 10. März 1983) hin, die stets mit der Begründung abgelehnt worden seien, daß kein Unterhaltsanspruch gegen den Versicherten bestanden habe. Da das BSG insofern seine frühere Rechtsauffassung geändert habe, greife jetzt § 44 SGB X zu ihren Gunsten ein. Die Beklagte habe sie im ablehnenden Schreiben vom 30. März 1983 auch nicht darauf hingewiesen, daß ihr Anspruch auf jeden Fall nach Vollendung des 60. Lebensjahres am 29. Dezember 1983 begründet sein werde. Durch Widerspruchsbescheid vom 7. Juni 1990 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und führte zur Begründung aus, die früheren Bescheide vom 26. November 1967, 30. September 1974 und 30. März 1983 seien zu Recht ergangen, weil die Klägerin aufgrund des im Scheidungsverfahren geschlossenen gerichtlichen Vergleichs keinen Unterhaltsanspruch gegen den Versicherten habe geltend machen können und weil damals die weiteren Voraussetzungen des § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO nicht erfüllt gewesen seien. Eine Neufeststellung nach § 48 SGB X wegen Veränderung der Verhältnisse infolge Vollendung des 60. Lebensjahres und zwischenzeitlicher Änderung der Rechtsprechung wäre nur bei einem Verwaltungsakt mit Dauerwirkung möglich, wogegen hier bisher lediglich einmalig gestaltende Ablehnungsbescheide vorgelegen hätten. Schließlich könne die Klägerin ihren Anspruch nicht aus einem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch wegen Verletzung der Auskunfts- und Beratungspflicht herleiten. Einem Versicherungsträger könne nicht zugemutet werden, bei einer Änderung der Rechtsprechung von sich aus alle bis dahin ergangenen Entscheidungen zu überprüfen.

Im anschließenden Klageverfahren hat die Klägerin Rente ab 1. Januar 1985 begehrt und unter Wiederholung ihrer bisherigen Ausführungen ergänzend geltend gemacht, daß es sich bei den Ablehnungen durchaus um Verwaltungsakte mit Dauerwirkung gehandelt habe. Durch Urteil vom 7. Mai 1992 hat das Sozialgericht (SG) die Klage abgewiesen: Der Anspruch der Klägerin sei nicht nach § 48 SGB X begründet, weil es sich bei der Ablehnung eines Rentenantrages nicht um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung handele. Dadurch werde lediglich eine einmalige, nicht auf Dauer angelegte Rechtslage zwischen Antragsteller und Leistungsträger gestaltet. Desgleichen greife auch § 44 SGB X nicht zugunsten der Klägerin ein. Es lasse sich nämlich nicht feststellen, daß die Beklagte beim Erlaß der früheren ablehnenden Verwaltungsakte das Recht unrichtig angewandt habe. Vielmehr sei die Klägerin auch zum Zeitpunkt des letzten Bescheides vom 30. März 1983 noch nicht 60 Jahre alt gewesen, so daß ihr damals die beantragte Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO nicht habe zugebilligt werden können. Daß die Beklagte als Grund der damaligen Ablehnungen lediglich auf den Unterhaltsverzicht hingewiesen habe und nicht auf das Fehlen der weiteren Voraussetzungen des § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO, stelle allenfalls einen Begründungsmangel dar, mache aber den Bescheid nicht unrichtig. Hier komme noch hinzu, daß sich der Begründungsmangel erst aus einer Änderung der Rechtsprechung ergebe. Schließlich könne die Klägerin ihren Anspruch auch nicht aus einem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch herleiten, weil danach ein pflichtwidriges Verhalten der Beklagten vorliegen müßte. Zum Zeitpunkt der letzten Ablehnung der Hinterbliebenenrente im März 1983 sei der Beklagten jedoch noch nicht bekannt gewesen, daß die Rechtsprechung ihre bisherige Auffassung, durch einen Unterhaltsverzicht werde die Anwendung des § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO generell ausgeschlossen, mit dem späteren Urteil des BSG vom 15. Dezember 1988, 4/11a RA 42/86 = SozR 2000 § 1265 Nr 92, aufgeben werde.

Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte unter Änderung des erstinstanzlichen Urteils sowie unter Aufhebung des Bescheides vom 18. Dezember 1989 idF des Widerspruchsbescheides vom 7. Juni 1990 verurteilt, unter teilweiser Rücknahme des Bescheides vom 27. September 1989 der Klägerin die Hinterbliebenenrente bereits ab 1. Januar 1985 zu gewähren (Urteil vom 26. März 1993) und zur Begründung ua ausgeführt: Das Begehren der Klägerin stelle sich als Antrag auf Vornahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes nach § 44 SGB X dar, dessen Voraussetzungen hier erfüllt seien. Die Beklagte habe in ihrem Bescheid vom 27. September 1989 das Recht insoweit unrichtig angewandt, als der Klägerin im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs die Hinterbliebenenrente bereits ab 1. Januar 1985 zu gewähren sei.

Insoweit könne sich die Beklagte nicht erfolgreich darauf berufen, daß für sie zZ der Ablehnung des Rentenantrages im März 1983 nach damaliger Rechtsprechung des BSG kein Anlaß zur Beratung bestanden habe, daß der Anspruch im Dezember 1983 erfüllt sein werde. Da der sozialrechtliche Herstellungsanspruch nicht auf ein subjektiv vorwerfbares Verhalten, sondern allein auf die objektiv richtige Rechtslage abstelle, seien die Voraussetzungen des genannten Anspruchs gegeben.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts durch das Berufungsgericht (§ 14 Sozialgesetzbuch – Erstes Buch -≪SGB I≫, § 44 SGB X) und macht insbesondere geltend: Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch sei nach ihrer Ansicht nicht gegeben. Entgegen der Auffassung des LSG habe sie die ihr nach § 14 SGB I obliegende Beratungspflicht nicht verletzt, weil bei Erteilung des Bescheides vom 30. März 1983 entsprechend damaliger Rechtsprechung keine Gestaltungsmöglichkeiten klar zutage gelegen hätten.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 26. März 1993 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Duisburg vom 7. Mai 1992 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Der Senat hat im Einvernehmen mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Über den Anspruch der Klägerin ist noch unter Anwendung der Vorschriften der RVO zu entscheiden, denn die Klägerin hat vor dem 1. Januar 1992 für einen vor diesem Zeitpunkt liegenden Zeitraum Ansprüche geltend gemacht (§ 300 Abs 2 Sozialgesetzbuch – Sechstes Buch –).

Im Ergebnis zu Recht hat das LSG die Beklagte verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente (Geschiedenen-Witwenrente gemäß § 1265 RVO) bereits ab 1. Januar 1985 zu gewähren. Gegenstand des Verfahrens sind die Bescheide der Beklagten vom 27. September 1989 und vom 18. Dezember 1989 idF des Widerspruchsbescheides vom 7. Juni 1990. Diese Bescheide sind, soweit sie von der Klägerin angefochten sind, rechtswidrig, wie das LSG zutreffend entschieden hat. Bei den Bescheiden handelt es sich, ausgehend von den zugrundeliegenden Anträgen der Klägerin vom 6. März 1989 und 15. November 1989, sachlich nicht um Verwaltungsentscheidungen über Neuanträge, sondern um Entscheidung, durch die im Rahmen von § 44 SGB X frühere rentenablehnende Bescheide – zuletzt der Bescheid vom 30. März 1983 – teilweise abgeändert wurden. Die Abänderung ist jedoch unzureichend. Die Beklagte war vielmehr verpflichtet, ihren Bescheid vom 30. März 1983 dahin zu ändern, der Klägerin Rente bereits ab 1. Januar 1985 zu gewähren.

Nach § 44 Abs 1 SGB X ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, daß ua bei Erlaß eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt worden ist, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Während § 48 SGB X die Aufhebung von Verwaltungsakten für die Zukunft regelt, wenn sich – wie hier durch das BSG-Urteil vom 15. Dezember 1988 – andere Rechtsauslegung zugunsten des Berechtigten auswirkt, läßt das Gesetz für die Vergangenheit die Anwendung von § 44 SGB X ausdrücklich zu (§ 48 Abs 2 Halbsatz 2 SGB X). Im Falle der Klägerin hat sich ergeben, daß die Beklagte das Recht bei Erlaß des Verwaltungsaktes vom 30. März 1983 unrichtig angewandt hat.

Der Antrag der Klägerin vom 10. März 1983 war dahin zu verstehen, daß die Klägerin Rente unter allen möglichen tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen, also insbesondere auch nach der bevorstehenden Vollendung des 60. Lebensjahres (mit Ablauf des 28. Dezember 1983, vgl §§ 187 Abs 2 Satz 2, 188 Abs 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs iVm § 26 Abs 1 SGB X), bewilligt haben wollte. Diesen Antrag hat die Beklagte durch das Schreiben vom 30. März 1983, das einen Verwaltungsakt iS von § 31 SGB X darstellt, ohne jede Einschränkung abgelehnt. Allerdings war dieser – formlose – Bescheid auch unter Berücksichtigung der späteren Rechtsprechungsänderung (vgl BSG Urteil vom 15. Dezember 1988, aaO) rechtmäßig, soweit er einen Rentenanspruch der Klägerin vor Vollendung des 60. Lebensjahres verneint hat. Der vorgenannte Bescheid war indes rechtswidrig, soweit durch ihn (auch) eine Rente nach Vollendung des 60. Lebensjahres abgelehnt worden ist. Zwar entsprach er der damaligen Rechtsprechung des BSG. Gleichwohl war er aber objektiv rechtswidrig, auch wenn sich dies erst durch die spätere Rechtsprechungsänderung herausgestellt hat (vgl BSG in SozR 1300 § 44 Nr 13). Danach hätte der Klägerin nach Vollendung des 60. Lebensjahres die begehrte Rente zugestanden. Als ihr Antrag vom 10. März 1983 bei der Beklagten einging, war allerdings diese Anspruchsvoraussetzung noch nicht erfüllt. Die Beklagte konnte deshalb den Rentenantrag ablehnen. Sie hätte dies aber nicht einschränkungslos tun dürfen, sondern in ihrer nicht näher begründeten Ablehnung vom 30. März 1983 zum Ausdruck bringen müssen, daß – der objektiven Rechtslage entsprechend – gegenwärtig kein Rentenanspruch bestand. Da sich der Bescheid vom 30. März 1983 bereits aus diesem Grunde als fehlerhaft erweist, kann offenbleiben, ob er auch deshalb rechtswidrig ist, weil die Beklagte – sofern sie die verhältnismäßig kurze Zeit bis zur Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen nicht abwartete – nach pflichtgemäßem Ermessen von der Möglichkeit des § 32 Abs 2 Nr 1 SGB X hätte Gebrauch machen müssen, der Klägerin die begehrte Rente gemäß § 1290 Abs 1 RVO „mit Wirkung ab 1. Januar 1984” zuzusprechen. Da zu diesem zeitnahen Termin alle tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt wurden, hätten die Rechtsfolgen mit Wirkung von diesem Zeitpunkt an schon vorher bescheidmäßig festgelegt werden können, was im übrigen einer häufigen Verwaltungspraxis entspricht, künftige Leistungen zu bewilligen.

Folglich hätte die Beklagte durch die Bescheide vom 27. September 1989 und 18. Dezember 1989 ihre rechtswidrige Verwaltungsentscheidung vom 30. März 1983 in der Weise zurücknehmen müssen, daß die Hinterbliebenenrente in Anwendung von § 44 Abs 4 SGB X und dem Begehren der Klägerin entsprechend bereits ab 1. Januar 1985 bewilligt wurde.

Unter diesen Umständen ist kein Raum für eine Entscheidung, ob der Klägerin – so das LSG – die begehrte Rente im Rahmen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs gewährt werden muß, weil die Beklagte sie bei Bescheiderteilung – eine Kenntnis der späteren Rechtsauslegung unterstellt – hätte darauf hinweisen müssen, daß sie erst nach Vollendung des 60. Lebensjahres mit Erfolg einen (neuen) Rentenantrag stellen könne.

Nach alledem war die Revision der Beklagten zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174059

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