Leitsatz (redaktionell)
1. Auch die Ausübung einer selbständigen, nicht rentenversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit schließt die Gewährung des vorzeitigen Altersruhegeldes an weibliche Versicherte aus.
2. Eine Erwerbstätigkeit läßt sich mit dem Bezug des vorzeitigen Altersruhegeldes für Frauen nach Sinn und Zweck dieser Einrichtung nicht vereinbaren. - Die sinnvolle Anwendung des RVO § 1248 Abs 3 S 1 erfordert es, über den Wortlaut hinauszugehen.
3. Es bestehen vielfach keine scharfen Grenzen zwischen der ausdehnenden Auslegung und der abändernden Rechtsfindung.
Normenkette
RVO § 1248 Abs. 3 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 12. Februar 1965 aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 27. Mai 1964 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Es war zu entscheiden, ob der Klägerin das vorzeitige Altersruhegeld für weibliche Versicherte nach Vollendung des 60. Lebensjahres zusteht, obwohl sie nach der Feststellung des Berufungsgerichts als Selbständige eine Gastwirtschaft betreibt (§ 1248 Abs. 3 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Die 1902 geborene Klägerin lebte bis Februar 1956 im Ostsektor Berlins. Dort war sie als selbständige Gewerbetreibende - Inhaberin einer Erfrischungshalle und Eisdiele - rentenversicherungspflichtig und entrichtete Versicherungsbeiträge. Seit ihrer Übersiedlung nach West-Berlin betreibt sie eine Gastwirtschaft.
Die Beklagte lehnte die Gewährung des im November 1962 beantragten vorzeitigen Altersruhegeldes für weibliche Versicherte nach Vollendung des 60. Lebensjahres zunächst mit der Begründung ab, daß die Klägerin in den letzten 20 Jahren nur 117 Beitragsmonate zurückgelegt habe, also nicht in jenem Zeitraum überwiegend eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt habe, wie § 1248 Abs. 3 Satz 1 RVO es fordert (Bescheid vom 6. Februar 1963). Im Verfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) ging eine nähere Mitteilung des "Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes" im Ostsektor Berlins über die Beitragsentrichtung der Klägerin für 1951 bis 1955 ein. Die Beklagte vertrat daraufhin die Auffassung, das vorzeitige Altersruhegeld stehe der Klägerin dennoch nicht zu, weil sie weiterhin als Gastwirtin erwerbstätig sei (26. Oktober 1964).
Das Sozialgericht (SG) Berlin hatte die Klage gegen den Bescheid vom 6. Februar 1963 abgewiesen (Urteil vom 27. Mai 1964). Das LSG Berlin hat die Beklagte zur Gewährung des vorzeitigen Altersruhegeldes vom 1. November 1962 an verurteilt und die Revision zugelassen (Urteil vom 12. Februar 1965).
Die Beklagte hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt und beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG Berlin vom 27. Mai 1964 zurückzuweisen.
Sie rügt eine Verletzung des § 1248 Abs. 3 Satz 1 RVO. Sie meint, nach dieser Vorschrift solle das Altersruhegeld bisher berufstätigen Frauen nur gewährt werden, wenn sie ihre Beschäftigung aufgaben. Dafür spreche die Entstehungsgeschichte (184. Sitzung des 2. Deutschen Bundestages vom 16. Januar 1957), der Sinn und Zweck der Vorschrift und auch eine systematische Auslegung. Die Klägerin könne nicht einerseits die Anrechnung der Beiträge für die im Ostsektor Berlins versicherungspflichtige Tätigkeit als Gastwirtin verlangen, und andererseits die in West-Berlin weiter ausgeübte gleiche, hier aber nicht versicherungspflichtige Tätigkeit als dem vorzeitigen Altersruhegeld nicht entgegenstehend ansehen. Die Beklagte weist ferner auf die Neufassung des § 1248 Abs. 3 RVO durch das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 hin; diese habe die Vorschrift nicht inhaltlich geändert, sondern diene nur der Klarstellung.
Die Klägerin beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen. Sie meint insbesondere, die Auslegung des § 1248 Abs. 3 Satz 1 RVO durch die Beklagte verstoße gegen den klaren Wortlaut dieser Vorschrift und sei rechtswidrig. Das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 25. Mai 1965 (BSG 23, 67) betreffe einen anderen Fall.
II
Die Revision ist zulässig und begründet. Die Beklagte hat die Gewährung des vorzeitigen Altersruhegeldes ohne Gesetzesverletzung abgelehnt.
Nach § 1248 Abs. 3 Satz 1 RVO in der hier noch maßgeblichen Fassung vom 23. Februar 1957 (Art. 1 § 1 Nr. 13, Art. 5 § 10 Abs. 1 Buchst. e RVÄndG) wird das vorzeitige Altersruhegeld für Frauen nur gewährt, wenn die Versicherte in den letzten 20 Jahren überwiegend eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat und eine solche Beschäftigung oder Tätigkeit nicht mehr ausübt. Zu der letzten Voraussetzung hat das BSG entschieden, daß eine Versicherte keinen Anspruch hat, wenn und solange sie gegen Entgelt beschäftigt oder sonst erwerbstätig ist, auch wenn die Beschäftigung oder Tätigkeit nicht rentenversicherungspflichtig ist (BSG 23, 67). In dieser Entscheidung, die ebenfalls noch zu der Fassung des § 1248 Abs. 3 RVO vor Erlaß des RVÄndG ergangen ist, ist ausgesprochen, daß nach Sinn und Zweck dieser Vorschrift das vorzeitige Altersruhegeld das Erwerbseinkommen der bis dahin berufstätigen Versicherten ersetzen, aber nicht als weitere Einnahme zu diesem hinzutreten solle. Der durch Beruf und Haushalt doppelt belasteten Frau solle ein Ausgleich für die vorzeitige Abnutzung ihrer Kräfte ermöglicht werden. Dem Gesetzgeber habe es aber ferngelegen, eine besondere Art von Doppelverdienern zu schaffen.
Der Senat hat diese Auffassung bereits in einem Urteil vom 23. Juni 1964 (BSG 21, 137) vertreten und hält auch weiterhin daran fest. Er hat dort entschieden, daß die versicherte Frau die Voraussetzungen für den Anspruch auf vorzeitiges Altersruhegeld gemäß § 1248 Abs. 3 RVO nicht erfüllt, wenn sie als Beamtin weiterhin beschäftigt ist, auch wenn sie als solche gemäß § 1229 Abs. 1 Nr. 3 RVO rentenversicherungsfrei ist.
Die in diesen Urteilen behandelte Kernfrage ist die gleiche wie im vorliegenden Fall, nämlich die, ob eine Frau, die weiterhin erwerbstätig ist, das vorzeitige Altersruhegeld erhalten kann. Die Rechtsgründe, aus denen in jenen Fällen die weiterhin erwerbstätigen Rentenbewerberinnen nicht der Rentenversicherungspflicht unterlagen, sind nicht das allein entscheidende Merkmal für die Versagung des vorzeitigen Altersruhegeldes. Wesentlich ist auch in jenen Fällen, daß sich eine Erwerbstätigkeit mit dem Bezug des vorzeitigen Altersruhegeldes für Frauen nach Sinn und Zweck dieser Einrichtung nicht vereinbaren läßt. Lediglich der Weg, auf dem die Rechtsprechung zu jenen Entscheidungen gelangt ist, könnte verschieden von der im vorliegenden Fall anzuwendenden Methode der Urteilsfindung sein. In jenen Fällen waren die Klägerinnen - während andere Frauen bei gleicher Berufstätigkeit (Hebammen, im Postdienst Beschäftigte) an sich versicherungspflichtig sind (Hebammen nach § 2 Abs. 1 Nr. 5 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -, gegen Entgelt beschäftigte Arbeitnehmerinnen nach § 1227 Abs. 1 Nr. 1 RVO) - nur aus besonderen, in ihrer Person liegenden Gründen versicherungsfrei (wegen Überschreitens der Jahresarbeitsverdienstgrenze bzw. als Beamtin, § 4 Abs. 1 Nr. 1 AVG, § 1229 Abs. 1 Nr. 2 RVO); im vorliegenden Falle ist die Klägerin als selbständige Gastwirtin in einem Beruf erwerbstätig, dessen Angehörige von vornherein nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung unterliegen. In den im BSG Bd. 21 und 23 entschiedenen Fällen waren die Worte in § 1248 Abs. 3 Satz 1 RVO (§ 25 Abs. 3 Satz 1 AVG) "und eine solche Beschäftigung oder Tätigkeit nicht mehr ausübt" in der Richtung auszulegen, ob eine "solche", d. h. rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit, noch ausgeübt wird, wenn die Rentenbewerberin nur für ihre Person versicherungsfrei ist.
Es braucht nicht näher darauf eingegangen zu werden, ob die im vorliegenden Rechtsstreit getroffene Entscheidung gegenüber dem Wortlaut des § 1248 Abs. 3 Satz 1 RVO noch durch eine, dem vom Gesetzgeber gewollten Sinn und Zweck der Vorschrift entsprechende ausdehnende Auslegung gewonnen werden kann, die dahin geht, daß nicht nur die Ausübung einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit, sondern jeder Erwerbstätigkeit dem vorzeitigen Altersruhegeld entgegensteht, oder ob dieses Ergebnis bereits auf einer das Gesetz insoweit abändernden Rechtsfindung beruht. Es bestehen vielfach keine scharfen Grenzen zwischen der ausdehnenden Auslegung und der abändernden Rechtsfindung. Hier ist wesentlich, daß das Ergebnis dem vom Gesetzgeber gewollten Sinn und Zweck der Vorschrift entspricht. Auch bei Annahme einer abändernden Rechtsfindung handelt es sich hier jedenfalls um eine Rechtsfindung im Geiste des Gesetzgebers und nicht gegen seinen Willen. Die Vorschrift wird auch nicht in einem dem Wortlaut entgegengesetzten Sinn verkehrt. Sie wird nur über den Wortlaut hinaus, aber ihrem Sinn entsprechend, angewandt. Die sinnvolle Anwendung des § 1248 Abs. 3 Satz 1 RVO, wie sie allgemein in den angeführten Entscheidungen des BSG (Bd. 21 und 23) dargelegt ist, erfordert es, über den Wortlaut hinauszugehen.
Das vorzeitige Altersruhegeld für Frauen wurde vom Bundesrat mit der Begründung vorgeschlagen, die Kräfte der arbeitenden Frauen nutzten sich insbesondere dann vorzeitig ab, wenn sie neben ihrer Berufstätigkeit gleichzeitig einen Haushalt zu versorgen hätten (2. BT, zu Drucks. 2437, Anl. 1 zu Art. 1 Nr. 31 - § 1253 RVO). Der Ausschuß für Sozialpolitik des Bundestages hat diesen Vorschlag befürwortet und unter Hinweis auf die Statistiken der Rentenversicherungsträger über den Zugang an Invaliden- und Berufsunfähigkeitsrenten für Frauen ausgeführt, er habe sich davon leiten lassen, daß die versicherte Frau vielfach einen Doppelberuf als Arbeitnehmer und Hausfrau erfüllt habe, der eine frühzeitige Abnutzung der Kräfte und damit frühzeitige Berufsunfähigkeit hervorrufe (zu Drucks. 3080). Der Vorschlag wurde ohne weitere Aussprache im Bundestag Gesetz. Dem vorzeitigen Altersruhegeld für Frauen liegt hiernach der Gedanke zugrunde, die Frau, die in den letzten 20 Jahren mehr als 10 Jahre versicherungspflichtig beschäftigt oder tätig gewesen sei, könne mit 60 Jahren die besonders belastende Doppeltätigkeit - Haushalt und Erwerbstätigkeit - oft nicht mehr ausüben und solle zum Ausgleich dafür das Altersruhegeld schon vor Erreichen der allgemeinen Altersgrenze für das Altersruhegeld von 65 Jahren erhalten. Die Gewährung dieses Vorzuges setzt aber voraus, daß die Frau die besonders belastende Doppeltätigkeit, d. h. den Beruf außerhalb des Haushalts, tatsächlich nicht mehr ausübt. Das Schwergewicht bei dem Hinweis auf die Doppelbelastung liegt nicht auf einer weiteren Berufstätigkeit gerade als "rentenversicherungspflichtiger Arbeitnehmer" im Gegensatz zum selbständig Erwerbstätigen, sondern auf der doppelten Tätigkeit in Haushalt und Beruf.
Daß die Anwendung des § 1248 Abs. 3 Satz 1 RVO in diesem Sinne dem Willen des Gesetzgebers entspricht, zeigt auch der neue Wortlaut dieser Vorschrift nach dem RVÄndG, der klarstellt, daß Voraussetzung für den Anspruch auf das vorzeitige Altersruhegeld unter anderem ist, daß die Versicherte "eine Erwerbstätigkeit nicht mehr ausübt".
Aus diesem Grunde war das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das die Klage abweisende Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen