Leitsatz (amtlich)
Zu den Bewertungsmerkmalen für die soziale Stellung eines ungelernten Arbeiters (hier: Hafenschiffers), insbesondere zu Kriterien, die neben der sogenannten 3-Stufen-Theorie zu beachten sind.
Orientierungssatz
Zu dem Berufsbild eines "Einmann-busfahrers".
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 25. Januar 1968 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der im Jahre 1916 geborene Kläger war mit Ausnahme von Zeiten des Kriegsdienstes und der Arbeitslosigkeit von 1932 bis 1965 in seinem Beruf als Hafenschiffer, zuletzt als Schiffsführer beschäftigt. Er besitzt das Befähigungszeugnis C 1 als Seemotorführer nach der Schiffsbesetzungsordnung vom 29. Juni 1931 (RGBl II, 517) - mit späteren Änderungen - und das Hamburger Hafenpatent (Befähigung zur Führung von Dampf- und Motorfahrzeugen im Hafen von Hamburg).
Die Leistungsfähigkeit des Klägers ist vornehmlich durch ausgeprägte cerebrale Durchblutungsstörungen bei labilem Hochdruck mit Neigung zu Schwindelanfällen in solchem Maße eingeschränkt, daß er nur noch körperlich leichte Arbeiten auf dem Festland verrichten kann. Anhaltende Belastungen kann er sogar nur für eine verkürzte Arbeitszeit von täglich 4 bis 6 Stunden durchhalten.
Seinen Antrag auf Gewährung der Rente wegen Berufsunfähigkeit lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 19. Oktober 1965). Die Klage ist vor dem Sozialgericht (SG) Hamburg ohne Erfolg geblieben (Urteil vom 2. März 1967). Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat dagegen die Beklagte zur Gewährung der Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. Januar 1965 an verurteilt (Urteil des LSG Hamburg vom 25. Januar 1968). Es hat angenommen, daß für den Kläger jede Tätigkeit auf dem Wasser als Erwerbsquelle ausscheide. Wegen des Fehlens kaufmännischer Kenntnisse kämen aber auch Stellungen als Schiffsdisponent, Befrachter, Listenführer, Deklarant oder Verwalter von größeren Warenlagern nicht in Betracht. Eine Verwendung des Klägers als Havariekommissar oder Reedereiinspektor scheitere an seiner mangelnden geistigen Wendigkeit. Für einen Verwalter eines kleineren Warenlagers bringe er nicht mehr die erforderliche körperliche Kraft auf. Andere Verdienstmöglichkeiten eines Angelernten oder gehobeneren Ungelernten hätten sich für ihn nicht finden lassen. Es bleibe mithin nur noch das Arbeitsfeld eines einfachen Ungelernten übrig, und zwar mit der Einschränkung auf leichte Funktionen auf festem Grund und dabei in zeitlicher Verkürzung. So sei z.B. an den Posten eines Wächters zu denken. Solche schlichten Arbeiten seien aber dem Kläger nicht anzusinnen, weil damit ein sozialer Abstieg verbunden wäre. Als Schiffsführer stehe der Kläger einem angelernten Arbeiter gleich. Er habe zwar keine Lehr- oder längeren Anlernzeiten hinter sich gebracht. Für seine gehobenere soziale Stellung seien aber die abgelegten Prüfungen sowie vor allem die Tatsache von Bedeutung, daß Schiffsführer nur sein könne, wer vorher - so wie der Kläger - eine Fahrpraxis von sieben Jahren aufzuweisen habe.
Die Beklagte hat die - von dem LSG zugelassene - Revision eingelegt mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen. Sie wendet sich dagegen, daß der Kläger einem angelernten Arbeiter gleichgestellt werde. Diese Gleichstellung sei unzutreffend, weil der Kläger einem Verkehrsberuf angehöre, der so wenig wie andere Tätigkeitsbereiche dieser Sparte eine privilegierte soziale Bewertung verdiene. Die Verkehrsverhältnisse in einem belebten Hafen, denen der Kläger habe gerecht werden müssen, seien mit dem Straßenverkehr in einer belebten Großstadt zu vergleichen. Ein Straßenbahn- oder Omnibusfahrer müsse ebenso zuverlässig wie ein Schiffsführer sein und über Umsicht und schnelles Reaktionsvermögen verfügen. Eine längere Fahrpraxis werde in dem einen wie im anderen Falle vor dem verantwortlichen Berufseinsatz verlangt. Der Besitz der Hafenlizenz sei, wie der Führerschein, nur aus verkehrspolizeilichen Gründen vorgeschrieben. Die in der Binnenschiffahrt erforderlichen nautischen Kenntnisse seien sehr gering.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, das Berufungsurteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Die zum Rechtsstreit beigeladene Allgemeine Ortskrankenkasse H stellt keinen Antrag.
Die Revision ist begründet. Die Entscheidung des LSG, daß der Kläger als Hafenschiffer einem angelernten Arbeiter mit längerer Anlernzeit gleichzustellen sei, daß er sich deshalb deutlich aus dem Kreise ungelernter, gewöhnlich mit einfachen Routineaufgaben betrauter Arbeiter heraushebe und daß ihm die Verweisung auf eine Wächtertätigkeit sozial unzumutbar sei, ist bei dem gegenwärtigen Stand der getroffenen Feststellungen nicht hinreichend begründet.
Für die soziale Stellung, die ein Arbeiter einnimmt, kommt es nicht allein auf seine Vor- und Ausbildung an. Die Zugehörigkeit des einzelnen zur Stufe der Gelernten, Angelernten oder Ungelernten liefert nur einen Anhalt, einen vorläufigen Annäherungswert, aber keinen ausschließlichen Maßstab für seine soziale Einschätzung. Die Vielgestaltigkeit des Arbeits-, Wirtschafts- und Soziallebens entzieht sich weitgehend einer schematisierenden Beschreibung. Dauer und Umfang einer Ausbildung sind nur ein Teil derjenigen Tatbestandsmerkmale, von denen nach § 1246 Abs. 2 Satz 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) die soziale Angemessenheit einer Erwerbstätigkeit abhängt. Der Besitz an Berufskenntnissen und Fertigkeiten kann das Ergebnis einer planmäßigen Fachausbildung sein wie auch das Resultat langjähriger beruflicher Erfahrung und Bewährung. Anscheinend will das LSG dem Kläger letzteres zugute halten, nämlich daß er in einem längeren Arbeitsleben eine fachliche und charakterliche Eignung für seinen Beruf erworben und gezeigt hat, die ihn gegenüber dem Durchschnitt unausgebildeter Kräfte überlegen erscheinen läßt. Dafür mag - was das LSG anführt - ins Gewicht fallen, daß der Kläger in Prüfungen das Befähigungszeugnis eines Seemotorführers und das Hamburger Hafenpatent erworben hat. Die Tatsache, daß er diese Prüfungen abgelegt hat, gibt aber für sich allein noch keinen Hinweis auf seinen sozialen Rang. Andererseits mindert es - entgegen der Ansicht der Beklagten - den Wert solcher Prüfungen nicht notwendig, daß sie aus hafenpolizeilichen Gründen vorgeschrieben sind. Ob eine bestandene Prüfung die soziale Einreihung des einzelnen beeinflußt, wird man erst entscheiden können, wenn man den Prüfungsstoff und die daraus herzuleitende Qualifikation kennt. Sowohl das Befähigungszeugnis als Seemotorführer als auch das Hamburger Hafenpatent setzen keine besondere Ausbildung voraus. Die Prüfung für das Hamburger Hafenpatent erstreckt sich auf Kenntnisse der für den Hafen und die Hafenschiffahrt geltenden Rechtsvorschriften, der Schiffahrtswege, der Betonung und Befeuerung sowie der Sturmwarn- und Nebelsignale im Hafen, des Verhaltens unter besonderen Umständen und der Wirkungsweise und Bedienung der Antriebsmaschinen. Wie hoch dieses Wissen und Können zu veranschlagen ist, wird jedoch erst noch näher zu ermitteln sein. Da der Kläger keine eigentliche Ausbildung zurückgelegt hat, müßten um so mehr andere Kriterien als berufsqualifizierend in Betracht kommen. Solche Merkmale können - vornehmlich in Verbindung mit beruflichem Können - allgemeine Persönlichkeitswerte sein, wenn sie auffällig in Erscheinung treten und von Trägern eines bestimmten Berufs üblicherweise bei der Erwerbsarbeit zu entfalten sind (BSG 17, 191, 195). Dazu können Charaktereigenschaften gehören wie übernormale Leistungsbereitschaft, Gewissenhaftigkeit, besonderes Verantwortungsbewußtsein oder allgemeine Anlagen wie ausgeprägte Disziplin, Nervenkraft, Selbständigkeit des Denkens und Handelns, natürliche Autorität und eine Wendigkeit, die den einzelnen befähigt, einer aus dem Rahmen fallenden Häufung und Kombination von Funktionen gerecht zu werden. An letzteres läßt sich beispielsweise bei dem Fahrer eines Einmannbusses denken, der das Fahrzeug im modernen Verkehr reaktionssicher und mit andauernder Konzentration fährt, außerdem kassiert, Auskünfte erteilt, für die Einhaltung des Fahrplanes verantwortlich ist und im Wagen Ordnung hält. Meistens werden die genannten oder andere Persönlichkeitswerte erst dann positionserhöhend wirken, wenn sie nicht einzeln, sondern summiert auftreten. Einzelne solcher Eigenschaften werden auch für Arbeiten eines Wächters, Schalttafelwärters, Prüfers, Kontrolleurs, Verwiegers benötigt, also für Erwerbsarbeiten, die nach Ansicht des LSG zu untergeordnet sind, als daß sie vom Kläger erwartet werden könnten. Inwieweit und für welche Zeitdauer der Aufgabenbereich des Klägers als Hafenschiffer durch solche Faktoren mit bestimmt war, kann sich nur aus einer detaillierten Schilderung der von ihm verrichteten Tätigkeiten ergeben. Solche Einzelheiten gibt das Berufungsurteil aber nicht wieder; es läßt nachprüfbare Grundlagen für die Ansicht vermissen, die es von der sozialen Zuordnung des Klägers hat. Eine sorgfältige Analyse der vom Kläger erfüllten Berufsaufgaben und der dabei gezeigten persönlichen Eignung war auch deshalb geboten, weil die Arbeitsvorgänge im wesentlichen gleichbleibender Art gewesen sein dürften und der Kläger anscheinend nur über ein bescheidenes Maß von Kenntnissen, Fertigkeiten und Erlerntem verfügt, was daraus zu schließen ist, daß die Möglichkeit seines Einsatzes in gehobenere Stellungen als ausgeschlossen bezeichnet worden ist.
Es war ferner angezeigt zu untersuchen, wie sich die Arbeitseinkünfte des Klägers zu den Löhnen ungelernter und angelernter Arbeiter verhielten und ob sich in ihnen nicht nur der Wert der erbrachten Leistungen, sondern auch das soziale Ansehen abzeichnete.
Als bedeutsam für die Rangstelle, die der Kläger in der sozialen Skala eingenommen hat, erwähnt das Berufungsgericht u.a., daß das Hamburger Hafenpatent erst nach siebenjähriger Fahrpraxis erteilt werde. Die Kenntnis von diesem Erfordernis bezieht das Berufungsgericht aus der Bekundung des Sachverständigen Kapitän K. In diesem Zusammenhang ist jedoch ungeklärt geblieben, warum eine längere Fahrpraxis verlangt wird. Dieses Erfordernis kann als Ersatz für eine entsprechende Ausbildung gedacht sein; vielleicht soll es die Gewähr für den Erwerb besonderer Erfahrungen und Fertigkeiten bieten; denkbar ist aber auch, daß dadurch nur der Nachweis für die Zuverlässigkeit oder für den Besitz anderer Persönlichkeitswerte erbracht sein soll. Es müßte ermittelt werden, wie sich dies - je nachdem - im sozialen Status widerspiegelt.
Außerdem kann - worauf das LSG nicht eingegangen ist - wichtig sein, welche Gewohnheiten und Erwartungen sich üblicherweise mit dem vom Kläger eingeschlagenen Berufsweg verbinden. Es wäre zu erörtern, ob Arbeitnehmer eines gleichartigen Wirkungsfeldes diese Beschäftigung regelmäßig erst mit Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze oder bereits früher aufgeben. Wenn ein Tätigkeitswechsel in jüngeren Lebensjahren nicht selten sein sollte - und zwar gleichgültig, aus welchen Gründen immer -, so wäre zu erforschen, welchen Arbeitsbereichen sich solche Arbeiter dann gewöhnlich zuwenden und welche innere Einstellung sie zu einer solchen Umstellung im allgemeinen zeigen.
Da hiernach in den angegebenen Richtungen Fragen offen geblieben sind, die einer abschließenden Entscheidung entgegenstehen, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Soweit es noch darauf ankommen sollte, wird das Berufungsgericht zu beachten haben, daß nicht jedes Absinken in der Pyramide der Berufe und Funktionen dem Versicherten erspart werden kann. Zu dieser Bemerkung gibt die Erwägung des Berufungsgerichts Anlaß, daß bei den ungelernten Arbeitern zwischen einer gehobeneren und einer einfachen Stufe zu unterscheiden sei und daß der Kläger Anspruch darauf habe, auf Erwerbsquellen nur in dem privilegierteren Bereich verwiesen zu werden. Eine solche Überlegung erscheint nicht generell gerechtfertigt. Ihr ist die Wirklichkeit des Lebens entgegenzuhalten. Es entspricht einer Zeitströmung, daß die Gesellschaftsgliederung zunehmend eingeebnet wird. Materielles Streben drängt immer stärker das Standes-, Gruppen- und Klassenbewußtsein und sogar die Anhänglichkeit an einen liebgewordenen Beruf zurück. Nicht selten gehen Facharbeiter bei besserer Entlohnung oder günstigeren Arbeitsbedingungen zu Tätigkeiten eines Ungelernten über. Von einem solchen Verhalten der Arbeitnehmer kann die Rechtsanwendung nicht unberührt bleiben. Hinzu kommt, daß die Grenze zur Berufsunfähigkeit nur dann überschritten wird, wenn die Einbuße in wirtschaftlicher und sozialer Beziehung für den Versicherten unannehmbar ist. Das drückt das Gesetz einmal dadurch aus, daß es einen spürbaren Verlust der Erwerbsfähigkeit - Einbuße von mehr als der Hälfte des Lohnes eines vergleichbaren gesunden Versicherten - fordert; zum anderen wird dies dadurch verdeutlicht, daß das Gesetz von dem Versicherten vor einer Inanspruchnahme der Versichertengemeinschaft die Verrichtung "aller Tätigkeiten" erwartet, die ihm "zugemutet" werden können. Der Begriff der Zumutbarkeit schließt ein beachtliches Maß eigenen Opfers ein. Um im Einzelfall die die Grenzen des noch Zumutbaren festlegen zu können, wird es notwendig sein, die in der Wirklichkeit auftretenden Gepflogenheiten und Entwicklungen sowie die in der Umwelt, insbesondere in den beteiligten Berufskreisen herrschenden Vorstellungen zu beachten. Jedenfalls müßten besondere Umstände dargetan werden, wenn im Falle des Klägers die feine Differenzierung zwischen einem einfachen und einem gehobenen ungelernten Arbeiter zu berücksichtigen sein sollte.
Die Entscheidung über die Pflicht zur Erstattung der Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem Berufungsgericht überlassen.
Fundstellen