Leitsatz (amtlich)
Erhebt jemand gegen einen Versicherungsträger wegen Nichterledigung seines Rentenantrages Untätigkeitsklage (SGG § 88) und ändert er diese im Verlaufe des gerichtlichen Verfahrens in eine Aufhebungs- und Verpflichtungsklage gegen einen bisher beigeladenen anderen Versicherungsträger als nunmehrigen Beklagten, so ist vor der Entscheidung ein Vorverfahren erforderlich (SGG § 80 Nr 1).
Normenkette
SGG § 88 Fassung: 1953-09-03, § 80 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 23. Mai 1962 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I.
Der Ehemann und Rechtsvorgänger der Klägerin, der im Laufe des Revisionsverfahrens verstorbene Alfred H, beantragte am 30. September 1954 bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) Gewährung des Ruhegeldes wegen Berufsunfähigkeit. Diesem Antrag gab die BfA statt, wobei sie Berufsunfähigkeit vom 22. Juni 1954 an annahm. Sie setzte jedoch den Beginn der Rente auf den 25. Juni 1955 fest, weil die B Ersatzkasse dem früheren Kläger, der nach seinem Ausscheiden aus der Pflichtversicherung bei dieser freiwillig weiterversichert gewesen war, vom 25. Juni bis zum 18. September 1954 Krankenhauspflege und vom 18. September 1954 bis zum 24. Juni 1955 Krankengeld gewährt hatte. Im Laufe des gegen diesen Bescheid erhobenen Klageverfahrens, zu dem auch die jetzige Beklagte, die Ruhrknappschaft, beigeladen worden war, schlossen die Beteiligten einen Vergleich, durch den die Ruhrknappschaft sich zur Weiterbearbeitung des Rentenantrags verpflichtete, während die BfA sich bereit erklärte, die bisherigen Leistungen einstweilen weiter zu gewähren.
Im Juni 1959 erhob der Kläger Untätigkeitsklage gegen die BfA, weil diese noch keinen Bescheid erteilt habe; er machte auch geltend, daß der Rentenbeginn auf den 30. September 1954 festgestellt werden müsse, weil ihm dadurch kein Nachteil entstehen dürfe, daß er auf Grund freiwilliger Weiterversicherung Krankengeld erhalten habe. Das Sozialgericht (SG) lud die Ruhrknappschaft bei. Diese stellte mit Bescheid vom 11. Mai 1960 die Rente des Klägers neu fest, sprach aber ebenfalls aus, daß diese erst nach Wegfall des Krankengeldes, am 25. Juni 1955, beginnen könne. Im Laufe des Verfahrens wurde dann die BfA aus dem Verfahren entlassen, an ihre Stelle trat die damalige Beigeladene als Beklagte ein. Der Kläger beantragte nunmehr, die Beklagte zur Rentenzahlung vom 1. Oktober 1954 an zu verurteilen, und zwar für die Zeit vom 1. Oktober 1954 bis zum 24. Juni 1955 unter Anrechnung des für diese Zeit aus der freiwilligen Krankenversicherung gewährten Krankengeldes. Das SG wies die Klage ab, weil die Beklagte den Rentenbeginn richtig festgestellt habe; denn Krankengeld im Sinne des § 1286 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF sei auch das auf Grund freiwilliger Weiterversicherung gewährte Krankengeld. Die Berufung wurde zugelassen. Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung des Klägers zurück. Zur Begründung führte es aus, die ursprünglich erhobene Untätigkeitsklage sei im Wege einer Klageänderung nunmehr gegen die frühere Beigeladene gerichtet. Gegenstand dieses Verfahrens sei nur noch der Bescheid vom 11. Mai 1960, in dem die Beklagte entgegen dem Verlangen des Klägers den Rentenbeginn auf den 25. Juni 1955 festgestellt habe. Zwar habe ein Vorverfahren nicht stattgefunden, jedoch sei ein solches nicht erforderlich, weil der Bescheid vom 11. Mai 1960 gemäß § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des schwebenden Verfahrens geworden sei und deshalb ein Vorverfahren nicht mehr stattzufinden habe. Denn Streitgegenstand sei nicht nur das Begehren auf Erlaß eines Verwaltungsaktes schlechthin, sondern auf Erlaß eines Rentenbescheides gewesen, mit dem der Beginn der Rente anderweit festgestellt werden sollte.
Nach § 51 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) aF i. V. m. § 1286 Abs. 1 RVO aF müsse die Rente für die Zeit vom 1. Oktober 1954 an festgestellt werden, jedoch beginne die Rente nach § 1286 Abs. 2 RVO aF erst mit dem auf den Wegfall des Krankengeldes folgenden Tag. Denn das Krankengeld aus freiwilliger Versicherung sei dem aus einer Pflichtversicherung gleichzustellen. Die Revision wurde zugelassen.
Der frühere Kläger legte gegen dieses Urteil Revision ein. Er trug vor, § 1286 RVO aF enthalte eine Ausnahme von dem Grundsatz, daß jemand, der zusätzliche Versicherungsbeiträge gezahlt habe, auch weitergehende Leistungen erwarten dürfe; er sei deshalb eng auszulegen. Eine solche Auslegung gebiete, nur dann Krankengeld anzurechnen, wenn dieses zweifelsfrei ein solches im Sinne von § 1286 RVO aF sei. Daß Krankengeld aus einer freiwilligen Weiterversicherung unter diese Regelung falle, ergebe sich nicht aus dem Gesetz. Zumindest müsse er in der Höhe Leistungen erhalten, in der sie ihm zuzusprechen wären, wenn er keine freiwilligen Beiträge erbracht haben würde. Ein anderes Ergebnis wäre sozial völlig unverständlich.
Nachdem der ursprüngliche Kläger verstorben ist, beantragte die jetzige Klägerin,
das Urteil des LSG Niedersachsen vom 23. Mai 1962 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 11. Mai 1960 abzuändern und diese zu verurteilen, die Gesamtleistung vom 1. Oktober 1954 an zu gewähren, evtl. unter Anrechnung des in der Zeit vom 6. Oktober 1954 bis zum 24. Juni 1955 gewährten Krankengeldes.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II.
Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte Revision ist zulässig und insoweit begründet, als das Urteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war. Das LSG hat zu Unrecht angenommen, daß im vorliegenden Fall kein Vorverfahren stattzufinden habe. Die Entbehrlichkeit eines Vorverfahrens kann nicht aus § 96 SGG gefolgert werden, wie das LSG angenommen hat. Denn durch den Bescheid vom 11. Mai 1960 ist nicht ein früherer Verwaltungsakt abgeändert oder ersetzt worden; es fehlte bis dahin ja überhaupt an einem Bescheid der Beklagten, der durch diesen Bescheid hätte abgeändert oder ersetzt werden können. Der Kläger hat demgemäß ja auch eine Untätigkeitsklage erhoben. Daß im Jahre 1955 schon ein Bescheid der BfA ergangen war, ist in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung. Nicht nur, daß er durch den Vergleich überholt war, sondern er konnte durch den Bescheid der Beklagten nicht abgeändert oder ersetzt werden. Dazu war die Beklagte rechtlich überhaupt nicht in der Lage; ein Versicherungsträger kann grundsätzlich nur seine eigenen Bescheide abändern oder ersetzen. Der Bescheid vom 11. Mai 1960 ist daher nicht auf Grund des § 96 SGG, sondern auf Grund der Klageerhebung gegen die beklagte Ruhrknappschaft Gegenstand des Verfahrens geworden.
Es liegt aber auch kein anderer Grund vor, der dazu berechtigte, auf das Vorverfahren zu verzichten. Zunächst hatte der Versicherte zu Recht eine Untätigkeitsklage erhoben, weil er den Erlaß eines Bescheids erzwingen wollte. Diese Klage, die sich gegen die BfA richtete, setzte allerdings kein Vorverfahren voraus, da nach § 78 SGG nur Verwaltungsakte durch ein Vorverfahren nachzuprüfen sind, bei einer Untätigkeitsklage ein Verwaltungsakt aber nicht vorausgeht. Erst während des Verfahrens vor dem SG hat die beklagte Ruhrknappschaft einen - wenn auch für den Versicherten negativen - Bescheid erteilt. Dadurch, daß der Versicherte vor dem SG von der Untätigkeitsklage zur Aufhebungs- und Leistungsklage übergegangen ist und diese gegen die beklagte Ruhrknappschaft richtete, ist erstmals eine Klage, und zwar eine Aufhebungs- und Leistungsklage gegen die beklagte Ruhrknappschaft erhoben worden. In diesem Zeitpunkt aber lag bereits deren ablehnender Bescheid vor. Diese Klage setzt nach § 80 Nr. 1 SGG ein Vorverfahren voraus. Es kann zwar dahinstehen, ob bei dem Übergang von einer Untätigkeitsklage zu einer zusammengefaßten Aufhebungs- und Leistungsklage, wenn inzwischen der Bescheid ergangen ist, im allgemeinen von der Nachholung eines Vorverfahrens abgesehen werden kann, hier jedenfalls hielt der Senat dies nicht für möglich, weil die Untätigkeitsklage gegen einen anderen Versicherungsträger erhoben ist und die Aufhebungs- und Leistungsklage gegen die beklagte Ruhrknappschaft erst als zu einem Zeitpunkt erhoben angesehen werden kann, zu welchem deren Bescheid bereits ergangen war. Dieser Fall kann daher nicht anders beurteilt werden, als der Normalfall, in welchem gegen den Bescheid unmittelbar Aufhebungs- und Leistungsklage erhoben wird, ohne daß eine Untätigkeitsklage vorausgegangen ist.
Der Senat hielt es allerdings aus prozeßökonomischen Gründen - um der Klägerin ein völlig neues sozialgerichtliches Verfahren zu ersparen - in Anwendung des § 170 Abs. 2 SGG nicht für tunlich, in der Sache selbst zu entscheiden, d. h. die Klage als unzulässig abzuweisen. Er hat sie vielmehr an das Berufungsgericht zurückverwiesen, um Gelegenheit zu geben, während des landessozialgerichtlichen Verfahrens das Vorverfahren nachzuholen, was während des Revisionsverfahrens nicht möglich ist (vgl. BSG 8, 3).
Dem LSG bleibt auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens überlassen.
Fundstellen