Entscheidungsstichwort (Thema)
Verweisbarkeit. konkrete Bezeichnung. Ausbildungsberuf
Orientierungssatz
1. Eine Aufzählung mehrerer Verweisungstätigkeiten reicht nicht aus; vielmehr muß im Einzelfall festgestellt werden, ob der Versicherte die für die jeweilige Verweisungstätigkeit erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt und ob die Verweisung ihm subjektiv zumutbar ist.
2. Die Verweisung auf berufsfremde Tätigkeiten erfordert deren konkrete Bezeichnung, der grundsätzlich eine Prüfung, ob der Versicherte zur Ausführung dieser Tätigkeiten körperlich und geistig leistungsfähig ist, vorausgehen muß. Insoweit muß die Sachaufklärung grundsätzlich nach zwei Richtungen betrieben werden; einmal medizinisch zur Feststellung des Restleistungsvermögens des Versicherten und zum anderen berufskundlich zur Feststellung einer zumutbaren Erwerbstätigkeit.
3. Ein Facharbeiter (hier: Schlosser) darf nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, die qualitativ einem Ausbildungsberuf entsprechen. Qualitätsmerkmale, die die Vergleichbarkeit einer Tätigkeit mit einem Ausbildungsberuf rechtfertigen, können außer berufsspezifischen Kenntnissen und Fertigkeiten auch besondere Anforderungen an fachliches Können oder ein Verantwortungsbereich sein, der über die ordnungsgemäße Erledigung der übertragenen Arbeiten deutlich hinausgeht, zB weil damit die Verantwortung für die Arbeit anderer verbunden ist. Ob eine Tätigkeit einem Ausbildungsberuf in diesem Sinne entspricht, muß nach den genannten Grundsätzen aufgrund des üblichen bzw typischen Arbeitsinhalts oder, sofern ein Versicherter einen Arbeitsplatz innehat, der individuellen Bewertung dieser Tätigkeit im Tatsächlichen geprüft und festgestellt werden.
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 20.02.1979; Aktenzeichen L 18 J 110/78) |
SG Duisburg (Entscheidung vom 10.04.1978; Aktenzeichen S 9 J 281/76) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um den Anspruch des Klägers auf Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit.
Der im Jahre 1921 geborene Kläger hat den Beruf eines Stahlbauschlossers erlernt; er ist als Schlosser, Montageschlosser und Vorzeichner versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Im September 1976 beantragte er die Gewährung von Versichertenrente. Die Beklagte hielt den Kläger noch für fähig, leichte bis mittelschwere Arbeiten vollschichtig zu verrichten und lehnte durch Bescheid vom 4. November 1976 den Rentenantrag ab.
Das Sozialgericht (SG) Duisburg verurteilte die Beklagte zur Gewährung von Berufsunfähigkeitsrente (Urteil vom 10. April 1978) mit der Begründung, der Kläger könne nach den eingeholten ärztlichen Gutachten nur noch körperlich leichte Arbeiten im Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen, zu ebener Erde, nur im Innendienst, nicht im Akkord oder am Fließband vollschichtig verrichten. Damit sei er außerstande, als Stahlbauschlosser oder in anderen Berufen zu arbeiten, die seinen Kenntnissen und Fähigkeiten entsprächen. Dies gelte auch für berufsfremde Tätigkeiten wie die eines qualifizierten Pförtners, Apparate- und Schalttafelwärters oder Verwiegers.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 20. Februar 1979 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Das LSG hielt den Kläger noch für fähig, Tätigkeiten eines Instrumentenablesers, Apparate- oder Schalttafelwärters, eines einfachen Maschinisten oder Kontrolleurs zu betriebsüblichen Bedingungen vollschichtig zu verrichten. Diese Arbeiten seien leicht, entsprächen dem Leistungsvermögen des Klägers, ließen einen Wechsel der Arbeitshaltung zu, würden in geschlossenen Räumen ausgeführt und erforderten nicht die volle Gebrauchsfähigkeit der linken Hand. Im übrigen könne der Kläger auch auf alle ungelernten Tätigkeiten verwiesen werden, die keine Ausbildung voraussetzten, sondern schon nach einer kurzen, nicht über drei Monate hinausgehenden Einweisung oder Einarbeitung am Arbeitsplatz vollwertig ausgeführt werden könnten.
Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt der Kläger die fehlerhafte Feststellung der für ihn in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten durch das LSG. So habe das LSG keine konkreten Feststellungen darüber getroffen, ob er überhaupt in der Lage sei, eine der aufgeführten Verweisungstätigkeiten zu verrichten. Das LSG hätte für jede in Betracht kommende Verweisungstätigkeit ermitteln müssen, welche Anforderungen an die Leistungsfähigkeit und die beruflichen Kenntnisse und Fertigkeiten gestellt würden. Überdies seien die Tätigkeiten, auf die das LSG den Kläger verwiesen habe, subjektiv nicht zumutbar, weil damit ein wesentlicher sozialer Abstieg verbunden wäre. Zumindest habe das LSG das soziale Rangverhältnis zwischen dem Ausgangsberuf des Klägers und den in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten nicht geprüft.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen
vom 20. Februar 1979 aufzuheben und die Berufung
der Beklagten gegen das Urteil des SG Duisburg
vom 10. April 1978 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war. Die vom LSG getroffenen Feststellungen reichen zur Klärung des Vorliegens von Berufsunfähigkeit iSd § 1246 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht aus.
Nach den unangefochtenen und damit bindenden Feststellungen des LSG ist der Kläger nicht mehr in der Lage, seinen bisherigen Beruf als Stahlbauschlosser weiter auszuüben. Die vom LSG vorgenommene Verweisung des Klägers auf berufsfremde Tätigkeiten erfordert deren konkrete Bezeichnung, der grundsätzlich eine Prüfung, ob der Kläger zur Ausführung dieser Tätigkeiten körperlich und geistig leistungsfähig ist, vorausgehen muß (vgl BSG Urteil vom 15. Februar 1979 - 5 RJ 48/78 -). Insoweit muß die Sachaufklärung grundsätzlich nach zwei Richtungen betrieben werden; einmal medizinisch zur Feststellung des Restleistungsvermögens des Versicherten und zum anderen berufskundlich zur Feststellung einer zumutbaren Erwerbstätigkeit (so Urteil des erkennenden Senats vom 3. Dezember 1980 - 4 RJ 83/79 - mwN). Mit dieser Rechtsprechung steht das angefochtene Urteil nicht in Einklang.
Das LSG hat sich darauf beschränkt, das Restleistungsvermögen des Klägers in medizinischer Hinsicht aufzuklären und festzustellen. Die von ihm in Betracht gezogenen Verweisungstätigkeiten wie die eines Instrumentenablesers, Apparate- oder Schalttafelwärters, einfachen Maschinisten oder Kontrolleurs hat das LSG dem Kläger mit der Begründung zugemutet, hierdurch werde er gesundheitlich nicht überfordert. Diese vom Kläger angegriffene Wertung beruht erkennbar nicht auf einer berufskundlichen Sachaufklärung. So hat das LSG einmal nicht festgestellt, ob der Kläger nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten überhaupt in der Lage ist, eine dieser Tätigkeiten ggf nach einer kurzen Einweisungs- oder Einarbeitungszeit vollwertig zu verrichten. Weiterhin ist dem angefochtenen Urteil nicht zu entnehmen, warum diese Tätigkeiten leicht sind und dem Leistungsvermögen des Klägers entsprechen. Das LSG hat keine Ermittlungen über den Arbeitsinhalt auch nur einer Verweisungstätigkeit angestellt. Seine Feststellungen reichen damit in tatsächlicher Hinsicht nicht aus. Insoweit ist noch eine weitere Sachaufklärung erforderlich, die der erkennende Senat nicht selbst durchführen kann. Der Rechtsstreit war daher an das LSG zurückzuverweisen.
Bei seiner erneuten Entscheidung kann sich das LSG auf die Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit beschränken (vgl BSG Urteil vom 28. Juni 1979 - 4 RJ 70/78 - = SozR 2200 § 1246 Nr 45), sofern diese Tätigkeit im Arbeitsleben nicht nur ganz vereinzelt vorkommt. Hierbei wird das LSG aber prüfen müssen, ob der Kläger sowohl nach seinem Gesundheitszustand als auch nach seinen beruflichen Kenntnissen und Fertigkeiten in der Lage ist, den Anforderungen dieser Verweisungstätigkeit gerecht zu werden. Im Rahmen der Sachaufklärung kann das LSG Tarifverträge heranziehen oder Auskünfte von Großbetrieben, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, ggf auch bei berufskundlichen Sachverständigen einholen oder aber die Verwertung einer Berufsdokumentation in Erwägung ziehen (BSG aaO, S 135).
Hinsichtlich der sozialen Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit iSd § 1246 Abs 2 RVO wird das LSG zu beachten haben, daß der Kläger als Facharbeiter nur auf Tätigkeiten verwiesen werden darf, die qualitativ einem Ausbildungsberuf entsprechen (vgl Urteile des Bundessozialgerichts -BSG- vom 12. November 1980 - 1 RJ 104/79; vom 28. November 1980 - 5 RJ 50/80 - und vom 3. Dezember 1980 - 4 RJ 35/80 -). Ausbildungsberufe sind in § 25 des Berufsbildungsgesetzes gesetzlich geregelt und in dem Verzeichnis vom 28. Juli 1980 (Beilage Nr 41/80 zum Bundesanzeiger Nr 193 vom 15. Oktober 1980) abschließend aufgeführt.
Allerdings kann ein Versicherter auch auf ungelernte Tätigkeiten zumutbar verwiesen werden, sofern sich diese deutlich aus dem Kreis der einfachen Hilfsarbeiten herausheben. Hierfür ist die tarifliche Einstufung im Regelfall ein wichtiges Indiz, weil in der Einstufung zuverlässig zum Ausdruck kommt, welchen Wert die am Berufsleben teilnehmenden Bevölkerungskreise und insbesondere die Tarifparteien einer bestimmten Berufstätigkeit zumessen (vgl BSG Urteil vom 3. Dezember 1980 - 4 RJ 35/80 -). Von Bedeutung ist allerdings, daß die tarifliche Einstufung wegen der Qualität der Arbeitsanforderungen und nicht wegen etwaiger Nachteile oder Erschwernisse einem Ausbildungsberuf entspricht (vgl Urteil vom 28. November 1980 - 5 RJ 50/80 -). Zur Verweisbarkeit genügt nicht eine innerbetriebliche Zweckausbildung, in der nur betriebsspezifische Fachkenntnisse vermittelt werden (BSG Urteil vom 3. Dezember 1980 - 5 RJ 35/80 -). Qualitätsmerkmale, die die Vergleichbarkeit einer Tätigkeit mit einem Ausbildungsberuf rechtfertigen, können außer berufsspezifischen Kenntnissen und Fertigkeiten auch besondere Anforderungen an fachliches Können oder ein Verantwortungsbereich sein, der über die ordnungsgemäße Erledigung der übertragenen Arbeiten deutlich hinausgeht, zB weil damit die Verantwortung für die Arbeit anderer verbunden ist. Ob eine Tätigkeit einem Ausbildungsberuf in diesem Sinne entspricht, muß nach den genannten Grundsätzen aufgrund des üblichen bzw typischen Arbeitsinhalts oder, sofern ein Versicherter einen Arbeitsplatz innehat, der individuellen Bewertung dieser Tätigkeit im Tatsächlichen geprüft und festgestellt werden. Diese Prüfung wird das LSG noch nachzuholen und die entsprechenden Feststellungen zu treffen haben.
Nach alldem war der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Über die Kosten wird das LSG zu entscheiden haben.
Fundstellen