Entscheidungsstichwort (Thema)

Grobe Fahrlässigkeit iS des § 45 Abs 2 S 3 Nr 2 SGB 10. Geltung nur für die "Sozialversicherung"

 

Orientierungssatz

1. Zum Begriff der groben Fahrlässigkeit iS des § 45 Abs 2 S 3 Nr 2 SGB 10.

2. Das Vertrauen in die Hilfeleistung eines Bediensteten der Gemeindeverwaltung bei der Ausfüllung des Antrages kann zwar nicht dahingehen, daß diesem alle entscheidungserheblichen Tatsachen bekannt sind. Grobe Fahrlässigkeit kann aber, zumal bei einem rechtlich ungewandten Antragsteller, ausgeschlossen sein, wenn er sich auf die hinreichende Sachkenntnis und die erschöpfende und unmißverständliche Befragung zu allen entscheidungserheblichen Tatsachen verläßt und doch unrichtige Angaben im Antrag auf Kindergeld erfolgen.

 

Normenkette

SGB 10 § 45 Abs 2 S 3 Nr 2 Fassung: 1980-08-18; SGB 10 Art 2 § 40 Abs 2 S 3 Fassung: 1980-08-18; BKGG § 13 Fassung: 1975-01-31, § 22 Fassung: 1975-01-31; SGB 10 Art 2 § 37 Abs 1 Fassung: 1980-08-18

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 28.10.1983; Aktenzeichen L 1 Kg 11/83)

SG Osnabrück (Entscheidung vom 25.01.1983; Aktenzeichen S 6 Kg 9/81)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger für die Zeit von Januar 1975 bis Juni 1980 die Zahlung ihm nicht zustehenden Kindergeldes infolge grober Fahrlässigkeit herbeigeführt und die empfangenen Beträge in Höhe von 3.300,-- DM zurückzuerstatten hat.

Der Kläger, dessen Ehefrau ab Dezember 1970 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aus der Arbeiterrentenversicherung mit Kinderzuschuß für ein im Juli 1968 geborenes eheliches Kind bezieht, hatte für dieses Kind im September 1974 Kindergeld beantragt. Den Antragsvordruck hatte er durch einen bei seiner Wohnsitzgemeinde tätigen Angestellten ausfüllen lassen; im Antrag ist die Frage nach dem Bezug einer Kinderzulage oder eines Kinderzuschusses zu einer Rente des Antragstellers oder seines Ehegatten aus den gesetzlichen Rentenversicherungen durch Ankreuzen des Kästchens für Verneinung beantwortet worden. Aufgrund dieses Antrages hat die Beklagte am 18. Oktober 1974 die Zahlung des Kindergeldes verfügt. Nachdem ihr im Rahmen einer im Juni 1980 erfolgten allgemeinen Überprüfung der Leistungsvoraussetzungen für das Kindergeld der wahre Sachverhalt bekannt wurde, entzog sie mit dem Bescheid vom 20. August 1980 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. März 1981 das Kindergeld rückwirkend vom Beginn der Zahlung an. Zugleich forderte sie die gezahlten Beträge zurück. Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 25. Januar 1983 unter Klagabweisung im übrigen den Rückforderungsbescheid aufgehoben: Es könne nicht festgestellt werden, daß der Kläger die Frage nach dem Empfang einer Rente und eines Kinderzuschusses durch den Ehegatten infolge grober Fahrlässigkeit fehlerhaft beantwortet habe. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 28. Oktober 1983 die Klage in vollem Umfange abgewiesen: Die Rechtmäßigkeit des Rückforderungsanspruches der Beklagten sei unbeschadet der Übergangsvorschrift des Art II § 37 des Gesetzes vom 18. August 1980 (BGBl I 1469) nach § 13 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) in der bis zum 31. Dezember 1980 geltenden Fassung (aF) zu beurteilen, weil die für die Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte und die Rückforderung überzahlter Leistungen ab 1. Januar 1981 geltenden Vorschriften der §§ 45, 50 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) wegen der abweichenden Systematik der Rücknahme- und Rückforderungsvoraussetzungen gegenüber der bisherigen Regelung in §§ 13, 20 BKGG aF nicht anwendbar seien. Der Rückforderungsanspruch sei begründet, weil die Zahlung des dem Kläger von Anfang an nicht zustehenden Kindergeldes darauf beruht habe, daß er grob fahrlässig die Zahlung des Kinderzuschusses zur Rente seiner Ehefrau aus der gesetzlichen Rentenversicherung nicht angegeben habe.

Der Kläger macht zur Begründung seiner - vom LSG zugelassenen - Revision geltend, das LSG habe die Rechtmäßigkeit des Rückforderungsanspruches der Beklagten nicht nach § 13 BKGG aF, sondern nach § 45 SGB X beurteilen müssen. Die in dieser Vorschrift geregelten Vertrauensausschließungsgründe lägen nicht vor; zudem seien auch die Voraussetzungen des § 45 Abs 3 und 4 SGB X nicht erfüllt.

Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 28. Oktober 1983 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 25. Januar 1983 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits, weil die Entscheidung über die Begründetheit der Klage von der Nachholung weiterer, vom LSG von seinem rechtlichen Ausgangspunkt zu Recht nicht getroffener tatsächlicher Feststellungen abhängt.

Nach Art II § 37 Abs 1 des Gesetzes vom 18. August 1980 (aaO) sind die im Zeitpunkt des Inkrafttretens des SGB X (1./2. Kapitel) bereits begonnenen Verfahren nach den Vorschriften des SGB X zu Ende zu führen. Demgemäß richtet sich die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide nicht, wie das LSG meint, nach §§ 13, 22 BKGG (in der gemäß Art II § 24 Nr 1 des Gesetzes vom 18. August 1980 mit Wirkung vom 31. Dezember 1980 aufgehobenen Fassung der Bekanntmachung vom 31. Januar 1975 - BGBl I 412) -aF-, sondern nach §§ 45, 50 SGB X iVm § 20 BKGG (idF durch Art II § 24 Nr 2 des Gesetzes vom 18. August 1980).

Der Anwendung der letztgenannten Vorschriften des SGB X steht auch die Ausnahmeregelung des Art II § 40 Abs 2 Satz 1 und 2 des Gesetzes vom 18. August 1980 nicht entgegen, wonach die §§ 44 bis 49 SGB X nur anzuwenden sind, wenn ein Verwaltungsakt - auch wenn er vor dem 1. Januar 1981 erlassen worden ist - nach dem 31. Dezember 1980 aufgehoben werden soll. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Zwar ist der Aufhebungsbescheid am 20. August 1980 ergangen. Da die Beklagte jedoch allein schon wegen der Übergangsvorschrift des Art II § 37 Abs 1 des Gesetzes vom 18. August 1980 im Widerspruchsverfahren eine umfassende Prüfung unter Zugrundelegung der zur Zeit der Erteilung des Widerspruchsbescheides geltenden Rechtslage vorzunehmen hatte, war der Widerspruchsbescheid vom 5. März 1981 der maßgebliche Verwaltungsakt iS des Art II § 40 Abs 2 Satz 2 des Gesetzes vom 18. August 1980.

Ohne Bedeutung für den zu entscheidenden Fall ist ferner die die Anwendbarkeit der §§ 44 bis 49 SGB X weiter einschränkende Vorschrift des Art II § 40 Abs 2 Satz 3 des Gesetzes vom 18. August 1980, wonach Verwaltungsakte, die am 1. Januar 1981 bereits bestandskräftig waren, und bei denen auch nach § 1744 der Reichsversicherungsordnung (RVO) eine neue Prüfung nicht vorgenommen werden konnte, nicht gemäß §§ 44 bis 49 SGB X rücknehmbar sind. Die Geltung dieser Regelung ist ausdrücklich auf die "Sozialversicherung" beschränkt und erstreckt sich mithin nicht auf die Entscheidungen nach dem Kindergeldrecht. Zudem richtete sich die Rücknehmbarkeit der nach dem BKGG getroffenen Leistungsentscheidungen nicht nach § 1744 RVO, sondern nach den spezialgesetzlichen Vorschriften des BKGG. Dementsprechend hatte bereits die 0eklagte das am 1. Januar 1981 im Stadium des Widerspruchs anhängig gewesene Verwaltungsverfahren nach den Vorschriften des SGB X zu Ende führen müssen und die Entziehung nicht mehr auf § 22 BKGG aF sowie die Rückforderung nicht mehr auf § 13 Abs 1 Nrn 1 und 2 BKGG aF stützen dürfen, sondern §§ 45, 50 SGB X anwenden müssen; die in § 20 BKGG (in der ab 1. Januar 1981 geltenden Fassung) getroffene Sonderregelung ist für den zu entscheidenden Fall nicht einschlägig.

Aus den gleichen rechtlichen Gründen hätten auch das SG und das LSG die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide insgesamt unter Zugrundelegung des 2. Titels des 3. Abschnittes des SGB X prüfen müssen, weil Verfahren iS des Art II § 37 Abs 1 des Gesetzes vom 18. August 1980 nicht nur das Verwaltungsverfahren, sondern auch das gerichtliche Verfahren ist (Großer Senat des Bundessozialgerichts -BSG-, Beschluß vom 15. Dezember 1982 - GS 2/80 -, BSGE 54, 223 = SozR 1300 § 44 Nr 3). Daran ändert entgegen der vom LSG vertretenen Auffassung auch nichts, daß das SG die angefochtenen Bescheide nur bezüglich der Rückforderung aufgehoben und die Klage im übrigen abgewiesen hat und daß der Kläger dieses Urteil nicht angefochten hat. Richtig ist insoweit der Ausgangspunkt des LSG, daß sich die - für den nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG hier allein in Betracht kommenden Fall der grob fahrlässigen Herbeiführung der nicht zustehenden Kindergeldzahlung - bisherige spezialgesetzliche Regelung des BKGG über die rückwirkende Leistungsentziehung (§ 22 BKGG aF) und die Rückzahlungspflicht (§ 13 Nrn 1 oder 2 BKGG aF) in ihrer Systematik von der für einen derartigen Sachverhalt ab 1. Januar 1981 für den gesamten Bereich des SGB und damit auch für das Kindergeldrecht geltenden Regelung in §§ 45 Abs 2, 50 SGB X unterscheiden. Nach § 22 BKGG aF war das Kindergeld ua allein - auch rückwirkend - zu entziehen, wenn die materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen nicht gegeben waren. Da aber auch für den Bereich des Kindergeldrechts - wie für die sonstigen Bereiche des Sozialrechts - die Pflicht des Leistungsempfängers zur Rückerstattung zu Unrecht empfangener Leistungen auf die Fälle beschränkt sein sollte, in denen die Überzahlung durch schuldhaftes grobes Fehlverhalten des Empfängers bewirkt worden ist, hatte der Gesetzgeber den Rückforderungsanspruch in § 13 Nrn 1 und 2 BKGG aF entsprechend eingeschränkt. Demgegenüber liegt der ab 1. Januar 1981 geltenden Kodifikation des Rechts der Rücknahme bindend gewordener Verwaltungsakte und der Rückzahlung empfangener Leistungen in §§ 44 bis 51 SGB X eine hiervon abweichende Systematik zugrunde: Hier ist nicht erst die Rückforderung von der Erfüllung einschränkender Voraussetzungen abhängig gemacht worden, sondern bereits die Rücknahme des zugrundeliegenden Verwaltungsaktes. Dieser systematische Unterschied rechtfertigt es aber nicht, die mit dem Ablauf des Jahres 1980 ohne einen über Art II § 40 Abs 2 des Gesetzes vom 18. August 1980 hinausgehenden Vorbehalt außer Kraft getretenen bisherigen Rücknahme- und Rückforderungsvorschriften der §§ 22, 13 Nrn 1 und 2 BKGG aF ganz oder teilweise weiterhin anzuwenden. Denn sowohl nach bisherigem als auch nach geltendem Recht stehen - unbeschadet der unterschiedlichen Zuweisung einzelner Tatbestandsmerkmale entweder zu den Voraussetzungen der Rücknahme oder denen der Rückforderung - die Rücknahme- und Rückforderungsentscheidung in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis. In dem zur Entscheidung stehenden Fall hat daher die sowohl den Bereich der Rücknahme als auch den Bereich der Rückforderung umfassende und mit einer Verlagerung einzelner Tatbestandsmerkmale verbundene Änderung der Rechtslage zur Folge, daß die Rechtmäßigkeit der Rücknahme- und Rückforderungsentscheidung auch im gerichtlichen Verfahren unabhängig vom bisherigen Sach- und Streitstand in vollem Umfange nach der ab 1. Januar 1981 geltenden Rechtslage zu beurteilen ist.

Über die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide nach geltendem Recht kann der erkennende Senat jedoch nicht abschließend entscheiden, weil die tatsächlichen Feststellungen des LSG hierfür nicht ausreichen. Nach dem vom LSG festgestellten Sachverhalt war die Gewährung des Kindergeldes an den Kläger während der streitigen Zeit zwar rechtswidrig, weil der Kläger hierfür wegen der Gewährung eines Kinderzuschusses aus der gesetzlichen Rentenversicherung an seine Ehefrau gemäß § 8 Abs 1 Nr 1 BKGG nicht anspruchsberechtigt war. Die Beklagte durfte diesen Bescheid aber nur zurücknehmen, wenn die Einschränkungen des § 45 Abs 2 und Abs 4 SGB X nicht vorlagen; § 45 Abs 3 SGB X findet gemäß § 20 Abs 4 BKGG (idF des Art II § 24 Nr 2 des Gesetzes vom 18. August 1980) keine Anwendung. Insoweit wäre es zwar unerheblich, daß das LSG nicht festgestellt hat, ob der Kläger auf den Bestand der Entscheidung der Beklagten über die Bewilligung des Kindergeldes - bei der es sich um einen formlos in anderer Weise iS des § 33 Abs 2 SGB X erlassenen Verwaltungsakt handelte - vertraut hat und ob sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme hätte schutzwürdig sein können. Denn diese Feststellung wäre entbehrlich, wenn der Begünstigte sich auf Vertrauen nicht berufen kann (§ 45 Abs 2 Satz 3 SGB X). Dies wäre - soweit hier von Bedeutung - der Fall, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte ...grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung ...unvollständig gemacht hat (§ 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB X). Ob dieser Vertrauens-Ausschlußtatbestand vorliegt, kann nach den bisherigen Feststellungen des LSG nicht beurteilt werden. Zwar sind die Angaben des Klägers über den Bezug eines Kinderzuschusses aus der Rentenversicherung von wesentlicher Beziehung für die Anspruchsberechtigung nach dem Kindergeldgesetz, weil das Kindergeld für ein Kind, für das ein Kinderzuschuß gezahlt wird, ausgeschlossen ist (§ 8 Abs 1 Nr 1 BKGG). Das LSG hat auch festgestellt, daß die vom Kläger hierzu gemachten Angaben unrichtig waren, weil der Kläger die entsprechende Frage im Antragsvordruck der Beklagten unzutreffend durch Ankreuzen des falschen Feldes verneint hat. Ferner hat das LSG auch die Kausalität der fehlerhaften Klärung für die rechtswidrige Leistungsgewährung festgestellt. Jedoch ermöglichen die Feststellungen des LSG bezüglich der grob fahrlässigen Herbeiführung der fehlerhaften Entscheidung nicht die abschließende Beurteilung dieses Tatbestandsmerkmales iS des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB X. Bereits die Regelung in § 13 Nr 1 BKGG aF zielte ebenso wie jetzt die Vorschrift des § 45 Abs 1 Satz 3 Nr 2 SGB X darauf ab, daß der Begünstigte, der die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (so jetzt die gesetzliche Definition in § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 2. Halbsatz SGB X), nicht schutzbedürftig ist. Das LSG hat seiner Entscheidung zwar diese Definition zugrundegelegt und aus den von ihm ermittelten, von der Revision nicht angegriffenen und daher für den Senat bindend feststehenden Tatsachen auf grobe Fahrlässigkeit des Klägers geschlossen. Die Entscheidung darüber, ob das schuldhafte Fehlverhalten des Begünstigten nur leicht oder grob fahrlässig ist, kann vom Revisionsgericht nur in bestimmten Grenzen nachgeprüft werden, nämlich darauf, ob der Tatrichter begrifflich hinreichend zwischen leichter und grober Fahrlässigkeit unterschieden und den allgemein anerkannten Begriff der groben Fahrlässigkeit zugrundegelegt hat (BSGE 47, 180, 182 mwN). Letzteres ist nicht der Fall. Das BSG hat für die Annahme grober Fahrlässigkeit in den Fällen der Nichtbeachtung von Belehrungen der Verwaltung über Anzeigepflichten (BSGE 42, 184) und der Unterlassung der Mitteilung entscheidungserheblicher Tatsachen (BSGE 42, 184; 47, 28, 33; 47, 180, 182) gefordert, daß der Leistungsempfänger unter Berücksichtigung seiner individuellen Urteils- und Kritikfähigkeit seine Sorgfaltspflicht in außergewöhnlich großem Maße, dh in einem das gewöhnliche Maß einer Fahrlässigkeit in erheblich übersteigendem Ausmaß verletzt hat. Konkrete eigene Feststellungen zur individuellen Urteilsfähigkeit des Klägers hat das LSG nicht getroffen. Darauf, ob dem vom Kläger zugezogenen Gemeindeangestellten Zweifel an den geistigen Fähigkeiten des Klägers gekommen sind oder hätten kommen müssen, kommt es nicht an. Grobe Fahrlässigkeit kann ferner nicht ohne weiteres deshalb bejaht werden, weil sich dem Versicherten die Erkenntnis bestimmter rechtlicher Merkmale "aufdrängen" mußte. Schließlich macht es für das Ausmaß der Fahrlässigkeit auch einen erheblichen Unterschied, aus welchen - vom LSG nicht näher festgestellten - Gründen der Leistungsempfänger ein Merkblatt nicht gelesen oder nicht genügend beachtet hat. Hätte der Kläger dies unterlassen, weil er von vornherein beabsichtigte, die Hilfe des von ihm für sachkundig gehaltenen Bediensteten seiner Wohnsitzgemeinde in Anspruch zu nehmen, würde darin möglicherweise keine schon außergewöhnlich große Sorgfaltspflichtsverletzung liegen. Das Vertrauen in die Hilfeleistung eines Bediensteten der Gemeindeverwaltung bei der Ausfüllung des Antrages kann zwar - wie das LSG zutreffend meint - nicht dahingehen, daß diesem alle entscheidungserheblichen Tatsachen bekannt sind. Grobe Fahrlässigkeit kann aber, zumal bei einem rechtlich ungewandten Antragsteller, ausgeschlossen sein, wenn er sich auf die hinreichende Sachkenntnis und die erschöpfende und unmißverständliche Befragung zu allen entscheidungserheblichen Tatsachen verläßt.

Dementsprechend ist der Rechtsstreit zur Nachholung der erforderlichen Feststellungen und zu der danach notwendigen erneuten Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Diesem bleibt es auch vorbehalten, über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659932

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