Leitsatz (amtlich)
Ein Dezimalrest, der sich bei der Umrechnung mitgliedstaatlicher Versicherungszeiten ergibt, ist auf einen vollen Monat aufzurunden (Anschluß an BSG 1977-01-28 5 RJ 48/76).
Normenkette
RVO § 1250 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, Abs. 3 Fassung: 1957-02-23; EWGV 4 Art. 13 Abs. 4 Fassung: 1958-12-03; EWGV 574/72 Art. 15 Abs. 3 Fassung: 1972-03-21
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 17.02.1976; Aktenzeichen L 6 Ar 221/74) |
SG Augsburg (Entscheidung vom 27.02.1974; Aktenzeichen S 8 Ar-lt 163/72) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 17. Februar 1976 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Es ist umstritten, ob die Klägerin die Wartezeit für die Gewährung von Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit erfüllt (§ 1246 Abs. 3, § 1247 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Die im Jahre 1940 geborene Klägerin ist italienische Staatsangehörige; sie wohnt in Italien. Von Februar 1965 bis Mai 1967 war sie in der Bundesrepublik Deutschland versicherungspflichtig beschäftigt und entrichtete für 23 Monate Pflichtbeiträge zur deutschen Rentenversicherung. In Italien legte sie in der Zeit von 1960 bis 1969 eine Versicherungszeit von 157 Wochen (36,2307 Monate) aufgrund versicherungspflichtiger Beschäftigung zurück.
Die Klägerin beantragte im Oktober 1970 die Gewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente. Mit Bescheid vom 25. Oktober 1971 lehnte die Beklagte den Antrag ab, da die Klägerin die Wartezeit für die Gewährung einer Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeitsrente nicht erfülle und auch nicht berufs- oder erwerbsunfähig sei.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin begehrt, den Bescheid der Beklagten aufzuheben und diese zu verurteilen, ihr Rente vom 1. Oktober 1970 bis 31. Dezember 1972 wegen Erwerbsunfähigkeit und anschließend bis 31. Dezember 1974 wegen Berufsunfähigkeit dem Grunde nach zu gewähren. Während des Klageverfahrens hat die Beklagte für diese Zeiträume das Vorliegen vorübergehender Erwerbsunfähigkeit und anschließender Berufsunfähigkeit eingeräumt.
Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 27. Februar 1974). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 17. Februar 1976): Die Klägerin habe mit ihren deutschen und italienischen Versicherungszeiten die Wartezeit von 60 Monaten erfüllt. Maßgebend seien für sie die Verordnungen Nr. 3 und Nr. 4 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer (EWG-VO Nr. 3 und Nr. 4) sowie die am 1. Oktober 1972 in Kraft getretenen Verordnungen Nr. 1408/71 und Nr. 574/72 des Rates zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern. Nach Art. 27 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 Buchst. a EWG-VO Nr. 3 seien die nach den Rechtsvorschriften jedes Mitgliedsstaates zurückgelegten Zeiten zusammenzurechnen. Die Zusammenrechnung erfolge nach Art. 13 EWG-VO Nr. 4. Entsprechendes gelte nach Art. 45 Abs. 1 VO Nr. 1408/71 i. V. m. Art. 15 Abs. 3 VO Nr. 574/72. Für die Klägerin ergebe die Zusammenrechnung eine Zeit von 59,2307 Versicherungsmonaten. Diese Zeit sei gemäß der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 30. Oktober 1975 in der Rechtssache 33/75 (Sammlung 1975), 1323) nach innerstaatlichem deutschen Recht auf 60 Monate aufzurunden. Eine Aufrundung nach § 1250 Abs. 3 RVO scheide zwar aus, da die Pflichtbeiträge der Klägerin nicht an eine Einzugsstelle (§ 1399 RVO), sondern an einen italienischen Versicherungsträger abgeführt worden seien. Jedoch sei § 1250 Abs. 2 Satz 2 RVO symptomatisch für die Absicht des Gesetzgebers, Beiträge zur Rentenversicherung, die für kürzere Zeitabschnitte als einen Kalendermonat entrichtet worden seien, durch Aufaddieren umzurechnen; Zeitreste sollten nicht verloren gehen. Eine - analoge - Anwendung auf italienische Versicherungszeiten verbiete sich nicht, da § 1250 Abs. 2 RVO Ausfluß eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes sei.
Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,
die Urteile des Bayerischen LSG vom 17. Februar 1976 und des SG Augsburg vom 27. Februar 1974 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie ist der Auffassung, daß Zeitreste, die sich bei der Umrechnung von mitgliedsstaatlichen Versicherungszeiten nach EWG-Recht ergäben, nicht nach § 1250 Abs. 2 oder Abs. 3 RVO aufgerundet werden könnten, sondern unberücksichtigt bleiben müßten. Die Bundesrepublik Deutschland sei als Mitgliedsstaat der EWG nur aufgrund des höherrangigen EWG-Rechts verpflichtet, die Zeiten anderer Mitgliedsstaaten wie eigene Zeiten zu behandeln; die Gleichstellung der Zeiten eines anderen Mitgliedsstaates könne nicht durch innerstaatliches Recht, sondern nur durch EWG-Recht erfolgen. Die EWG-Umrechnungsvorschriften beschränkten sich jedoch auf die Umrechnung in volle Zeiteinheiten. Diese Begrenzung sei für das nationale Recht verbindlich. § 1250 Abs. 3 RVO sei aus den vom LSG angeführten Gründen nicht anzuwenden. § 1250 Abs. 2 RVO sei nur eine Übergangsregelung. Dem deutschen Sozialversicherungsrecht sei die Aufrundung eines nur mathematisch ermittelten, zeitlich nicht fixierbaren Dezimalrests in einen vollen Monat Versicherungszeit fremd.
Die Beklagte regt an, zu der hier strittigen Frage dem EuGH folgende Fragen vorzulegen:
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1. |
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Ist in den Fällen, in denen die Umrechnungsvorschriften der Art. 13 Abs. 4 VO Nr. 4 bzw. Art 15 Abs. 3 VO Nr. 574/72 lückenhaft sind, davon auszugehen, daß diese Lücke |
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a) |
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im Interesse einer einheitlichen Koordinierung der nationalen Versicherungssysteme gewollt ist, oder |
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b) |
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nach allgemeinen für alle Mitgliedsstaaten in gleicher Weise geltenden Gesichtspunkten in der Weise zu schließen ist, daß auch Restwerte aufzurunden sind, |
oder
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c) |
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durch Anwendung nationaler Umrechnungsvorschriften zu schließen ist? |
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2. |
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Ist bei Bejahung der Frage 1 c ein nach Art. 13 Abs. 4 VO Nr. 4 bzw. Art. 15 Abs. 3 VO Nr. 574/72 verbleibender Restwert in allen Mitgliedsstaaten stets auf die im jeweiligen nationalen Versicherungssystem bestehende kleinste Zeiteinheit aufzurunden, auch wenn das nationale System keine passende Aufrundungsvorschrift enthält, sondern nur Aufrundungen für andere, hier nicht einschlägige Sachverhalte vorsieht? |
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie meint, die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache 33/75 verweise zur Regelung der Frage, ob ein nach Umrechnung verbleibender Dezimalrest aufzurunden sei oder nicht, eindeutig auf das nationale Recht.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Ihrer Auffassung zu den hier strittigen Fragen ist im Ergebnis nicht zu folgen.
Der EuGH legt nur Gemeinschaftsrecht, nicht innerstaatliches Recht aus. Diese Beschränkung hat er in der Entscheidung vom 30. Oktober 1975 - 33/75 - eingehalten. Mit dieser Entscheidung wird der Trennung von übergeordnetem Gemeinschaftsrecht und innerstaatlichem Recht sowie der Trennung der jeweiligen Befugnisse zur Normsetzung und zur Entscheidung nicht widersprochen. Da das Gemeinschaftsrecht in Art. 13 Abs. 4 EWG-VO Nr. 4, Art. 15 Abs. 3 VO Nr. 574/72 nicht bestimmt, daß bei der vorgeschriebenen Umrechnung Dezimalwerte unberücksichtigt bleiben, hat der EuGH im Rahmen seiner Ermächtigung diese Vorschriften dahin ausgelegt, daß solche Dezimalwerte rechtlich vorhanden sind. Er hat nicht in innerstaatliches Recht eingegriffen, indem er die Antwort auf die Frage, ob die vorhandenen Dezimalreste aufzurunden sind, dem innerstaatlichen Recht überlassen hat; denn er hat damit nur das Gleichbehandlungsangebot des Art. 8 VO Nr. 3 und des Art. 3 VO Nr. 1408/71 ausgelegt.
Die Beklagte versteht § 1250 Abs. 2 RVO zu Unrecht dahin, daß nur Zeiten, nicht aber Dezimalreste aufgerundet werden können. Nach § 1250 Abs. 2 RVO sollen keine Versicherungszeiten verloren gehen, die die Mindestzeiteinheit von einem Kalendermonat nach neuem Recht nicht erreichen. Daß diese Vorschrift nicht nur einen auf den Übergang vom alten zum neuen Recht beschränkten Grundsatz ausspricht, zeigt die Regelung in Abs. 3 des § 1250 RVO. Dort ist der allgemeine Gedanke, daß Versicherungszeiten, die die Mindestzeiteinheit von einem Kalendermonat nicht ausfüllen, berücksichtigt werden müssen, enthalten. Damit kommt ein zugunsten der Versicherten in die RVO aufgenommener allgemeiner Grundgedanke zum Ausdruck. Daß dieser auch bei der Zusammenrechnung von deutschen und italienischen Versicherungszeiten anzuwenden ist, ist der Entscheidung des EuGH vom 30. Oktober 1975 zu entnehmen.
Der Anwendung der Aufrundungsvorschrift des § 1250 Abs. 2 RVO auf Dezimalwerte nach Art. 13 Abs. 4 VO Nr. 4 und Art. 15 Abs. 3 VO Nr. 574/72 steht nicht entgegen, daß § 1250 Abs. 2 RVO von Wochen ausgeht, während bei den genannten Umrechnungsvorschriften des EWG-Rechts rechnerisch Zahlen vorliegen. Auch der Umrechnung von 157 Wochen in 36,2307 Monate liegen letztlich zeitlich fixierte Versicherungszeiten in Italien zugrunde. In dem Dezimalrest ist eine tatsächlich zurückgelegte Versicherungszeit ausgedrückt. Sie ginge dem Versicherten verloren, wenn der Dezimalrest nicht berücksichtigt würde. Ob eine Versicherungszeit, die nicht die gesetzliche Mindestzeiteinheit erreicht, in einer Dezimalzahl der Mindestzeiteinheit oder als eine Zeit von weniger als der gesetzlichen Mindestzeiteinheit ausgedrückt wird, ändert nichts daran, daß sie auf die gesetzliche Mindestzeiteinheit aufgerundet werden muß, wenn sie nicht untergehen soll. Wenn dabei im Einzelfall unter Umständen eine Aufrundung der deutschen Zeiten und eine Aufrundung der italienischen Zeiten vorgenommen würde, so müßte dies gegenüber der Benachteiligung des Versicherten bei Weglassen einer Versicherungszeit in Kauf genommen werden.
Es besteht kein Anlaß, dem EuGH die von der Beklagten gestellten Fragen vorzulegen. Die Fragen zu 1 a und c sind bereits durch die Entscheidung des EuGH vom 30. Oktober 1975 bejaht. Die Fragen zu 1 b und zu 2 gehen über den vorliegenden Fall hinaus. Nach Art. 177 Abs. 2 und 3 des EWG-Vertrages muß es sich aber bei Vorlagen um Fragen handeln, deren Entscheidung das mitgliedsstaatliche Gericht zum Erlaß seines Urteils für erforderlich hält. Dies ist bei diesen Vorlegungsfragen nicht der Fall.
Der Senat tritt somit nach Überprüfung der neuen Einwendungen der Beklagten der Entscheidung des 5. Senats des Bundessozialgerichts vom 28. Januar 1977 - 5 RJ 48/76 - im Ergebnis bei. Die Entscheidung des LSG entspricht dem Gesetz. Die Revision der Beklagten ist daher unbegründet und deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen