Leitsatz (redaktionell)
1. Beruht ein Leiden auf einer "Anlage" die körperliche oder psychische Veränderungen hervorzurufen pflegt, und haben sich solche Veränderungen bereits entwickelt, auch ohne daß sie sofort bemerkt worden sind, so handelt es sich versorgungsrechtlich um eine Verschlimmerung, wenn die äußere Einwirkung entweder den Zeitpunkt vorverlegt hat, an dem das Leiden sonst in Erscheinung getreten wäre, oder das Leiden schwerer auftreten läßt, als es sonst zu erwarten gewesen wäre. Beruht das Leiden dagegen auf einer Anlage, die bisher kein krankhaftes Geschehen hervorgerufen hat, und wird das krankhafte Geschehen erst durch einen schädigenden Vorgang zum Ausbruch gebracht, so stehen als Bedingungen sowohl die Anlage als auch der schädigende Vorgang nebeneinander; in diesem Falle ist versorgungsrechtlich die durch den schädigenden Vorgang gesetzte Bedingung auch dann eine wesentliche Bedingung und damit Ursache im Rechtssinne für die Entstehung des Leidens, wenn sich Anlage und schädigender Vorrang gleichwertig gegenüberstehen.
Wenn wehrdienstliche Einwirkungen an der Entstehung eines Leidens mitgewirkt haben, so sind auch die Gesundheitsstörungen, die erst später in Erscheinung getreten sind, aber auch Äußerungsformen des Leidens darstellen, Schädigungsfolge; das gilt jedenfalls so lange, als bei den einzelnen Äußerungsformen nicht von einem gänzlich "isolierten Geschehen" gesprochen werden kann.
2. Zur Frage der Anerkennung "anlagebedingter" Leiden als Schädigungsfolgen iS der Entstehung oder iS der Verschlimmerung.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20, Abs. 3 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 21. Oktober 1959 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger leistete Wehrdienst von August 1959 bis Anfang 1942. Während dieser Zeit erkrankte er an einem Sehnervenschwund. In der wehrmachtärztlichen Beurteilung von 10. Oktober 1941 heißt es, es fänden sich keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger vor seiner Einberufung an Sehstörungen gelitten habe, der Kläger sei bis März 1941 gesund gewesen, er habe bis dahin mehrere Feldzüge mitgemacht und sei als Melder eingesetzt gewesen, erst seit April 1941 seien Sehstörungen aufgetreten, die durch starke Kopfschmerzen kompliziert werden; Schädigung durch Wehrdiensteinflüsse sei als gesichert anzusehen.
Der Sehnervenschwund wurde als Wehrdienstbeschädigung anerkannt. Der Kläger wurde als "arbeitsverwendungsfähig" entlassen; er konnte seinen Beruf als Werkmeister im Tischlergewerbe nicht mehr ausüben.
Mit Bescheid vom 20. Oktober 1951 (und mit dem inhaltlich gleichlautenden Bescheid vom 8. Mai 1953) stellte das Versorgungsamt III Berlin bei dem Kläger "Sehnervenschwund links mit Herabsetzung der Sehschärfe rechts auf 1/3, links auf 1/10" als Schädigungsfolge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) fest und bewilligte dem Kläger eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H. Mit dem Einspruch machte der Kläger geltend, er leide auch an Störungen des Geruchs-Geschmacks- und Gehörsinns sowie an einer Schwäche des linken Beines, dies seien Zeichen eines organischen Nervenleidens, auch dieses organische Nervenleiden sei als Schädigungsfolge anzuerkennen, die MdE sei deshalb höher zu bewerten.
Das Landesversorgungsamt Berlin wies den Widerspruch (Einspruch) mit Bescheid vom 31. Mai 1954 zurück, weil "die Krankheitssymptome und Ausfallserscheinungen, die sich nach dem wehrdienstbedingten Sehnervenschwund bei dem Kläger gezeigt hätten, wahrscheinlich nicht Folgeerscheinungen des Wehrdienstes seien."
Mit Urteil vom 14. März 1956 entschied das Sozialgericht (SG) Berlin: "Unter Aufhebung der Bescheide vom 8. Mai 1953 und vom 31. Mai 1954 wird der Beklagte verurteilt, als Versorgungsleiden im Sinne der abgegrenzten Verschlimmerung organisches Nervenleiden (multiple Sklerose) anzuerkennen; im übrigen wird die Klage abgewiesen."
Der Kläger legte Berufung ein; er beantragte,
den Beklagten zu verurteilen, das organische Nervenleiden (multiple Sklerose) im Sinne der Entstehung als Schädigungsfolge anzuerkennen und dem Kläger eine Rente nach einer MdE von 70 v.H. zu gewähren.
Das Landessozialgericht (LSG) Berlin änderte auf die Berufung des Klägers am 21. Oktober 1959 das Urteil des SG insoweit ab, als die Anerkennung im Sinne der Verschlimmerung als "abgegrenzt" bezeichnet worden ist; im übrigen wies es die Berufung des Klägers zurück. Das LSG führte aus, das Leiden des Klägers sei von den Ärzten überwiegend als "multiple Sklerose" (MS) diagnostiziert worden; das Leiden habe sich erstmals durch den Sehnervenschwund während des Wehrdienstes geäußert, die MS hänge mit den Anstrengungen, denen der Kläger als Melder ausgesetzt gewesen sei, ursächlich zusammen; das Leiden sei aber durch den Wehrdienst nicht hervorgerufen worden, die wehrdiensteigentümlichen Umstände seien nicht die alleinige Ursache für die Entstehung des Leidens gewesen; bei der Entstehung einer MS spielten auch endogene Faktoren, nämlich eine gewisse Disposition, eine wesentliche Rolle; das Leiden sei "schubartig" verlaufen, die Gesundheitsstörungen, die später aufgetreten sind - Störungen des Gehör- und Gleichgewichtsapparats, Arm- und Beinschwäche -, seien daher nicht mehr Schädigungsfolge, sondern anlage- oder konstitutionsbedingt; unter diesen Umständen sei nur eine Anerkennung der MS im Sinne der Verschlimmerung gerechtfertigt; in diesem Sinne hätten sich auch die meisten ärztlichen Sachverständigen ausgesprochen.
Das Urteil des LSG wurde dem Kläger am 14. Dezember 1959 zugestellt. Der Kläger legte am 11. Januar 1960 Revision ein und beantragte,
das Urteil des LSG Berlin vom 21. Oktober 1959 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger wegen eines organischen Nervenleidens (Multiple Sklerose) als Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung eine Versorgungsrente nach einer Erwerbsminderung von mindestens 70 v.H. seit 1. Juni 1950 zu gewähren,
hilfsweise,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger begründete die Revision am 10. Februar 1960: Das LSG habe bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs des organischen Nervenleidens (MS) mit einer Schädigung im Sinne des BVG das Gesetz verletzt (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-); es habe ferner durch unvollständige und unschlüssige Auswertung der ärztlichen Gutachten und durch unrichtige Anwendung der Denkgesetze gegen die Verfahrensvorschriften der §§ 103 und 128 SGG verstoßen.
Der Beklagte beantragte,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 SGG statthaft. Der Kläger rügt mit Recht, das Verfahren des LSG leide an wesentlichen Mängeln; das LSG hat auch bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs des Leidens des Klägers mit einer Schädigung im Sinne des BVG das Gesetz verletzt.
Das LSG hat festgestellt, der Kläger leide an einem organischen Nervenleiden, einer MS, dieses Leiden sei durch den Wehrdienst des Klägers nicht hervorgerufen, sondern nur verschlimmert worden. Diese Feststellung des LSG ist in verfahrensrechtlich nicht einwandfreier Weise und unter Verkennung der für das Gebiet der Kriegsopferversorgung geltenden Kausalitätsnorm zustande gekommen.
Das LSG hat ausgeführt, die MS des Klägers, die sich erstmals in dem Sehnervenschwund während des Wehrdienstes im Jahre 1941 geäußert habe, hänge wahrscheinlich mit den besonderen Belastungen zusammen, denen der Kläger als Melder ausgesetzt gewesen sei; das Leiden sei aber nicht durch den Wehrdienst hervorgerufen, weil die wehrdienstlichen Einflüsse nicht die alleinige Ursache für die Entstehung des Leidens gewesen seien; neben exogenen hätten auch endogene Faktoren, nämlich eine gewisse Disposition, eine wesentliche Bedeutung für die Entstehung des Leidens gehabt; die MS sei daher nur als Schädigungsfolge im Sinne der Verschlimmerung festzustellen. Das LSG hat sich mit dieser Auffassung zwar den Gutachten mehrerer ärztlicher Sachverständiger angeschlossen; diese Ärzte haben die MS als Schädigungsfolge im Sinne der Verschlimmerung gewertet, weil bei diesem Leiden - dessen Ätiologie noch ungeklärt ist - anzunehmen sei, daß "sowohl endogene konstitutionelle Momente als auch exogene Noxen (zB außergewöhnliche Belastungen) pathogenetisch entscheidend seien" (Prof. Dr. V... in seinem Gutachten vom 20. Oktober 1957) und damit Versorgung nur für einen Teil des Leidens, nicht für den Gesamtzustand gerechtfertigt sei. Das LSG hat aber nicht annehmen dürfen, es sei insoweit an die Ansicht der Gutachter schon deshalb gebunden, weil es sich hierbei um die Frage der Entstehung einer Krankheit handele, für die besondere medizinische Sachkenntnisse erforderlich seien, die dem Senat fehlten; es hat den Schlußfolgerungen der Ärzte nicht ohne weiteres folgen dürfen; es hat vielmehr selbständig prüfen müssen, ob der medizinische Sachverhalt diese Schlußfolgerungen rechtfertigt, es hat insoweit die Beweise nicht erschöpfend gewürdigt und damit gegen § 1. SGG verstoßen.
Das LSG hat aber auch die im Versorgungsrecht geltende Kausalitätsnorm nicht richtig angewandt, weil es davon ausgegangen ist, daß ein Leiden nur dann durch den Wehrdienst hervorgerufen und als Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung festzustellen sei, wenn wehrdienstliche Einflüsse die alleinige Ursache für die Entstehung des Leidens gewesen seien; es hat den Begriff der Leidensverschlimmerung im versorgungsrechtlichen Sinne verkannt, wenn es allein deshalb, weil auch "endogenen Faktoren", nämlich einer "gewissen Disposition", eine wesentliche Bedeutung für "das Auftreten" des Leidens zukomme, im vorliegenden Falle eine Verschlimmerung festgestellt hat. Sofern die ärztliche Beurteilung den ursächlichen Zusammenhang im Sinne der Verschlimmerung "bewertet" (vgl. Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen 1958, S. 12, 13), wenn "durch schädigende Vorgänge" eine Krankheit "zum Ausbruch kommt", für deren Manifestierung andere Ursachen "gleich oder annähernd gleich wesentlich sind", ist dies versorgungsrechtlich nicht ohne weiteres ebenso zu beurteilen.
Nach der für das Gebiet der Kriegsopferversorgung - ebenso wie für die gesetzliche Unfallversicherung - geltenden Theorie der "wesentlichen Bedingung" ist Ursache diejenige Bedingung, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg nach der natürlichen Betrachtungsweise zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat; haben mehrere Bedingungen zu dem Erfolg wesentlich (gleichwertig) beigetragen, so sind sie auch rechtlich nebeneinanderstehende Mitursachen; jede von ihnen ist also Ursache im Sinne des Versorgungsrechts; kommt jedoch einer Bedingung gegenüber den anderen Bedingungen überwiegende Bedeutung zu, so ist diese Bedingung rechtlich die alleinige Ursache (vgl. auch BSG 8, 275 ff, 277 mit weiteren Hinweisen; Haueisen, Juristenzeitung 1961, 9 ff). Auf die zeitliche Folge der Bedingungen und ihre Voraussehbarkeit kommt es dabei nicht an (Urt. des Bundessozialgerichts - BSG- vom 25. August 1960, SozR Nr. 9 zu § 35 BVG). Auch die Bedingungen, die sich aus der physischen und psychischen "Anlage" eines Menschen ergeben, sind wie die sonstigen Bedingungen auf ihre Bedeutung für den "Erfolg", also den Leidenszustand, zu prüfen; es ist zu klären, ob es sich nach der Beurteilung durch die medizinischen Sachverständigen um eine "Anlage" handelt, die ohne eine auslösende Ursache zunächst kein krankhaftes Geschehen im Körper hervorruft ("ruhende Anlage"), oder ob bereits ein krankhaftes physisches oder psychisches Geschehen vorliegt, auch ohne daß physische und psychische Veränderungen bei Eintritt der weiteren "von außen" hinzutretenden Bedingung bereits erkennbar gewesen sind (vgl. Urteil des BSG vom 9. Dezember 1959, zitiert in "Die Kriegsopferversorgung", 1960, S. 81/82); nur im zweiten Falle kann es sein, daß das "anlagebedingte" Leiden durch die von außen hinzukommende weitere Bedingung, etwa schädigende Vorgänge im Sinne des BVG, "verschlimmert" worden ist.
Beruht danach das Leiden auf einer "Anlage", die körperliche oder psychische Veränderungen hervorzurufen pflegt, und haben sich Solche Veränderungen bereits entwickelt, auch ohne daß sie sofort bemerkt worden sind, so handelt es sich versorgungsrechtlich um eine Verschlimmerung, wenn die äußere Einwirkung (der schädigende Vorgang im Sinne des § 1 BVG) entweder den Zeitpunkt vorverlegt hat, an dem das Leiden sonst in Erscheinung getreten wäre, oder das Leiden schwerer auftreten läßt, als es sonst zu erwarten gewesen wäre. Beruht das Leiden dagegen auf einer Anlage, die bisher kein krankhaftes Geschehen hervorgerufen hat, und wird das krankhafte Geschehen erst durch einen schädigenden Vorgang im Sinne des § 1 BVG "zum Ausbruch gebracht", so stehen als Bedingungen sowohl die Anlage als auch der schädigende Vorgang nebeneinander; in diesem Falle ist versorgungsrechtlich die durch den schädigenden Vorgang gesetzte Bedingung auch dann eine wesentliche Bedingung und damit Ursache im Rechtssinne für die Entstehung des Leidens, wenn sich Anlage und schädigender Vorgang "gleichwertig" gegenüberstehen, in diesem Falle muß das Leider, deshalb als durch den Wehrdienst hervorgerufen festgestellt (anerkannt) werden (vgl. Urt. des BSG von 23. März 1961, 11 RV 1484/59; vgl. auch Wilke, KOV 1960 S. 82).
Die Entscheidung des LSG, die MS des Klägers sei Schädigungsfolge im Sinne der Verschlimmerung, beruht danach sowohl auf einer Verkennung der für das Gebiet der Kriegsopferversorgung geltenden Kausalitätsnorm als auch auf einer unzutreffenden rechtlichen Würdigung der ärztlichen Gutachten. Diese Gutachten lassen nämlich nicht ohne weiteres den Schluß zu, daß bei der Kläger vor der Schädigung bereits ein "krankhaftes Geschehen" vorhanden gewesen ist; der Hinweis auf die Bedeutung "endogener Faktoren" und die "konstitutionelle Bereitschaft" besagt jedenfalls noch nicht, daß bei dem Kläger schon vor den wehrdienstlichen Belastungen - wenn auch nach außen hin zunächst nicht erkennbar - körperliche Veränderungen von "Krankheitswert" vorgelegen haben. Insoweit hat das LSG auch keine Feststellungen getroffen, aus denen sich ergibt, daß das Leiden des Klägers zu Recht als durch den Wehrdienst "verschlimmert" festgestellt (anerkannt) worden ist.
Infolge der Verkennung des Kausalitätsbegriffs ist möglicherweise auch die Feststellung des LSG unzutreffend, daß die späteren Gesundheitsstörungen des Klägers, die Äußerungsformen der MS sind, nicht Schädigungsfolge seien und daß von der Gesamt-MdE des Klägers infolge der MS nur ein Teil als Schädigungsfolge zu berenten sei. Wenn nämlich die wehrdienstlichen Einwirkungen en der Entstehung der MS (in ihrer ersten Äußerungsform, dem Sehnervenschwund) wesentlich mitgewirkt haben, so sind auch die Gesundheitsstörungen, die erst später in Erscheinung getreten sind, aber auch Äußerungsformen der MS darstellen, Schädigungsfolge; es ist dabei unerheblich, ob die MS progredient oder "schubförmig" verlaufen ist; das gilt jedenfalls so lange, als bei den einzelnen Äußerungsformen nicht von einem gänzlich "isolierten Geschehen" gesprochen werden kann.
Die Revision ist sonach statthaft; sie ist, da sie frist- und formgerecht eingelegt und begründet ist, auch zulässig. Sie ist auch begründet; denn es ist möglich, daß das LSG bei richtiger Anwendung der Kausalitätsnorm und gesetzmäßiger Würdigung der Beweise zu einem anderen Ergebnis kommt. Das Urteil des LSG ist deshalb aufzuheben. Der Senat kann nicht selbst entscheiden, da hierzu noch tatsächliche Feststellungen erforderlich sind; die Sache ist zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen