Leitsatz (amtlich)
1. Der Antrag, nach SGG § 109 einen bestimmten Arzt als Gutachter zu hören, kann sich im Einzelfalle sowohl darauf beziehen, ob ein "schädigendes Ereignis" vorliegt, als auch darauf, welche Folgen dieses "schädigende Ereignis" gehabt hat (vergleiche BSG 1959-04-29 8 RV 1097/57 = SozR Nr 10 zu § 85 BVG); dieser Antrag umfaßt alle mit dem "angeschuldigten" Ereignis zusammenhängenden medizinischen Fragen.
2. Das Gericht darf einen Antrag nach SGG § 109 auch nicht deshalb ablehnen, weil es eine medizinische Vorfrage - zB, ob ein Sturz zu einem Knochenbruch geführt habe - bereits als geklärt ansieht; es darf dies auch dann nicht tun, wenn es davon überzeugt ist, daß weitere Gesundheitsschäden - zB eine Knochentbc - nur dann Schädigungsfolgen sind, wenn die medizinische Vorfrage zu bejahen ist.
Normenkette
SGG § 109 Fassung: 1953-09-03; BVG § 1 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 7. April 1961 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Kläger, geboren am 25. Januar 1941, beantragte im Oktober 1951 Versorgung wegen Becken- und Rückgratverletzung mit nachfolgender Knochentuberkulose; die Verletzung führte er auf einen Sturz zurück, den er als Kind im Alter von dreieinhalb Jahren im November 1944 erlitten habe, als er bei Fliegeralarm das Bett verlassen habe, um den Luftschutzbunker aufzusuchen; er habe sofort nach diesem Sturz nicht mehr gehen können und sei vom folgenden Tag an deshalb ärztlich behandelt worden; im Sommer 1945 sei eine Schambein- und Sitzbeintuberkulose, später eine Lendenwirbelsäulentuberkulose festgestellt worden. Das Versorgungsamt II B… lehnte mit Bescheid vom 12. November 1953 den Antrag ab, Widerspruch und Klage blieben erfolglos. Die Berufung wies das Landessozialgericht (LSG) Berlin durch Urteil vom 7. April 1961 zurück: Gesundheitsschäden, die dadurch entstehen, daß jemand beim Aufsuchen des Luftschutzraumes infolge Fliegeralarms verunglücke, seien eine unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne von § 5 Abs. 1 Buchst. b des Bundesversorgungsgesetzes (BVG); der erkennende Senat sei auch davon überzeugt, daß sich der Sturz des Klägers so abgespielt habe, wie es von seiner Mutter und anderen Zeugen geschildert werde. Für den Versorgungsanspruch sei jedoch weiter der Nachweis erforderlich, daß dieser Sturz tatsächlich geeignet gewesen sei, zu einer Schädigung im Sinne des BVG zu führen, nur dann, wenn ein "schädigender" Unfall nachgewiesen sei, greife die Wahrscheinlichkeitsvermutung des § 1 Abs. 3 BVG ein. Ein "schädigender Vorgang" sei jedoch schon deshalb nicht erwiesen, weil der behauptete Beckenbruch, der letzthin nach Meinung des Klägers die Tuberkulose verursacht bzw. verschlimmert habe, nach den zahlreichen ärztlichen Gutachten - mit einer Ausnahme - nicht festzustellen sei; da ein Knochenbruch, also der behauptete "schädigende Vorgang" nicht nachgewiesen sei, sei der Antrag des Klägers, nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) noch Prof. Dr. R... als Gutachter zu hören, abzulehnen, dieser Gutachter solle lediglich darüber gehört werden, ob ein festgestellter Beckenbruch Ursache für die Tuberkulose sein könne; wenn der Beckenbruch nicht nachgewiesen sei, könne dahingestellt bleiben, ob er die Tuberkulose irgendwie beeinflußt habe, was alle ärztlichen Gutachter ebenfalls verneint hätten. Das Urteil wurde dem Kläger am 4. Mai 1961 zugestellt.
Am 29. Mai 1961 legte der Kläger Revision ein, er beantragte,
unter Aufhebung des angefochtenen Bescheids der Klage stattzugeben.
Ferner stellte er beim Termin am 14. Dezember 1961 den Antrag,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Nachdem die Revisionsbegründungsfrist bis 4. August 1961 verlängert worden war, begründete der Kläger die Revision am 2. August 1961: Die Revision sei statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 SGG. Das LSG habe zu Unrecht den Antrag des Klägers abgelehnt, nach § 109 SGG Prof. Dr. R... als Gutachter zu hören; das LSG habe festgestellt, daß der Kläger bei dem nächtlichen Fliegeralarm einen Unfall erlitten habe, damit sei ein schädigender Vorgang im Sinne von § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG erwiesen. Prof. Dr. R... habe entgegen der Meinung des LSG nicht zu der Frage gehört werden sollen, ob ein schädigender Vorgang vorliege, sondern zu der Frage, ob der auch vom LSG als erwiesen angesehene schädigende Vorgang die Gesundheitsstörungen des Klägers verursacht oder verschlimmert habe. Das LSG habe auch den Sachverhalt nicht genügend aufgeklärt, es habe nach dem Befund des Röntgeninstituts Dr. F... davon ausgehen müssen, daß noch am 7. November 1945 röntgenologisch eine traumatische Veränderung am linken Schambeinast festgestellt worden sei; es habe im Hinblick auf die nicht übereinstimmenden ärztlichen Gutachten den Sachverhalt noch weiter aufklären müssen. Das LSG habe auch den im Versorgungsrecht geltenden Kausalitätsbegriff verkannt.
Der Beklagte beantragte,
die Revision zu verwerfen.
II.
Die Revision ist statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Der Kläger rügt zu Recht einen wesentlichen Mangel des Verfahrens des LSG.
Nach der Niederschrift über die öffentliche mündliche Verhandlung des LSG am 7. April 1961 hat der Kläger in erster Linie beantragt, einen Zustand nach Beckenfraktur, Knochentuberkulose des Beckens und - als mittelbare Folge dieser beiden Leiden - aktive Knochentuberkulose der Wirbelsäule als Schädigungsfolge festzustellen und ihm Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 v.H., Pflegezulage und einen Pauschbetrag für Kleidermehrverschleiß vom 1. Oktober 1951 an zu gewähren; hilfsweise hat er beantragt, gemäß § 109 SGG von Prof. Dr. R... von der Universitätsklinik in K... ein Gutachten darüber einzuholen, ob der jetzige Leidenszustand ursächlich auf den Sturz im Jahre 1944 zurückzuführen sei, einen solchen Antrag hat er ohne Erfolg übrigens schon im Verfahren vor dem Sozialgericht (SG) gestellt; dieser Antrag ist, auch wenn er nur bedingt - nämlich für den Fall, daß dem Hauptantrag nicht entsprochen werde - gestellt worden ist, wirksam gewesen (vgl. BSG SozR Nr. 17 und Nr. 25 zu § 109 SGG). Das LSG hat diesen Antrag - abgesehen von § 109 Abs. 2 SGG - nur dann ablehnen dürfen, wenn die Frage, über die der Sachverständigenbeweis erhoben werden soll, für die Entscheidung nicht rechtserheblich ist; für die Frage, ob das Verfahren des LSG insoweit an einem wesentlichen Mangel leidet, kommt es auf den sachlich-rechtlichen Standpunkt des LSG an (BSG SozR Nr. 25 zu § 109 SGG mit weiteren Hinweisen). Das LSG hat darüber zu entscheiden gehabt, ob die Gesundheitsstörungen des Klägers mit einem versorgungsrechtlich geschützten Tatbestand ursächlich zusammenhängen. Es hat damit prüfen müssen, ob drei Anspruchsvoraussetzungen zu einer "Ursachenkette" verknüpft sind, nämlich ein versorgungsrechtlich geschützter Tatbestand im Sinne der §§ 1 bis 5 BVG, eine Schädigung (das sogenannte "schädigende Ereignis", der sogenannte "schädigende Vorgang") und die Gesundheitsstörungen des Klägers (vgl. BSG 6, 120 ff.; 7, 180 ff.). Eine medizinische Beurteilung kann im Einzelfalle sowohl im Hinblick auf die zweite als auch im Hinblick auf die dritte Anspruchsvoraussetzung erforderlich sein (vgl. hierzu auch BSG SozR Nr. 10 zu § 85 BVG). Im vorliegenden Falle hat das LSG festgestellt, daß der damals dreieinhalb Jahre alte Kläger gestürzt ist, als er während eines nächtlichen Fliegeralarms das Bett verlassen hat, um in den Luftschutzbunker zu gehen; sachlich-rechtlich ist das LSG davon ausgegangen, daß der Fliegeralarm und der durch ihn notwendig gewordene Weg zum Luftschutzbunker als "unmittelbare Kriegseinwirkung" im Sinne von § 5 Abs. 1 Buchst. b BVG anzusehen sind. Damit hat das LSG bejaht, daß das erste und das zweite Glied der Ursachenkette vorliegen, nämlich der versorgungsrechtlich geschützte Tatbestand und das "schädigende Ereignis", der "schädigende Vorgang", der durch diesen Tatbestand ausgelöst, verursacht worden ist. Offengeblieben ist damit aber noch die Frage, ob der Sturz (das "schädigende Ereignis", das im vorliegenden Falle ohne medizinische Beurteilung hat festgestellt werden können) zu den Gesundheitsstörungen geführt hat, auf die der Kläger seinen Versorgungsanspruch stützt. Die Entscheidung über diese Frage darf nicht, wie das LSG es getan hat, abhängig gemacht werden von der Feststellung, daß das Ereignis tatsächlich zu der vorhandenen Gesundheitsstörung geführt hat. Zwar kann von einem "schädigenden" Vorgang, von einem "schädigenden" Ereignis richtigerweise nur gesprochen werden, wenn das Ereignis tatsächlich zu einer Schädigung geführt hat; dieser Begriff, der im BVG selbst nicht enthalten ist, ist daher ungenau; das zweite Glied der Ursachenkette betrifft in Wirklichkeit nur die Feststellung, daß der Betroffene bestimmten Ereignissen (zB einer Schußverletzung, einem Unfall während des Militärdienstes, Gewaltmaßnahmen oder schlechten Ernährungsverhältnissen in der Gefangenschaft, der Einwirkung von Kampfmitteln, der Flucht, der besonderen Gefahr der Verschleppung) tatsächlich ausgesetzt gewesen ist oder, wie im vorliegenden Fall, auf Grund behördlicher Maßnahmen im unmittelbaren Zusammenhang mit Kampfhandlungen oder deren Vorbereitung Maßnahmen ergriffen hat, die für ihn schädigend gewesen sein können, nicht aber die Feststellung, daß diese Ereignisse für ihn tatsächlich schädigend gewesen sind. Nur dann, wenn ein Sachverhalt, der einen versorgungsrechtlich geschützten Tatbestand erfüllt, nicht festgestellt werden kann oder wenn nicht festgestellt werden kann, daß von diesem Sachverhalt die Person "betroffen" worden ist, die Versorgungsansprüche geltend macht, wenn also nicht festgestellt werden kann, daß diese Person einem bestimmten Ereignis oder einem bestimmten Vorgang ausgesetzt gewesen ist, ist die Frage, welche "gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen" (§ 1 BVG) durch dieses Ereignis eingetreten sind, nicht beweiserheblich für die Frage, ob ein Anspruch auf Versorgung besteht. Das LSG hat daher im vorliegenden Fall den Antrag des Klägers, nach § 109 SGG noch einen bestimmten Arzt als Gutachter zu hören, ablehnen dürfen, wenn es nicht hat feststellen können, daß zu der vom Kläger behaupteten Zeit Fliegeralarm gewesen ist, daß der Kläger sich wegen dieses Alarms zum Luftschutzbunker begeben hat und daß er dabei gestürzt ist; es hat den Antrag aber nicht deshalb ablehnen dürfen, weil es auf Grund seiner tatsächlichen Ermittlungen, insbesondere der ärztlichen Gutachten, davon überzeugt gewesen ist, der Sturz sei nicht ursächlich für die Gesundheitsschädigungen des Klägers; wenn es den Antrag trotzdem abgelehnt hat, hat es das Ergebnis der vom Kläger nach § 109 SGG beantragten Beweisaufnahme vorweggenommen, es hat ein "schädigendes" Ereignis, einen "schädigenden" Vorgang deshalb verneint, weil es die behaupteten Folgen dieses Ereignisses nicht als gegeben angesehen hat. Damit hat das LSG gegen § 109 SGG verstoßen. Es hat auch zu Unrecht darauf abgehoben, daß der Beckenbruch, auf den der Kläger die Tuberkulose des Beckens und der Wirbelsäule zurückführt, nicht erwiesen sei und daß es deshalb nicht mehr darauf ankomme, ob die Tuberkulose mit einem Beckenbruch zusammenhänge. Zunächst wäre nicht, wie das LSG meint, der Knochenbruch - falls er nachgewiesen wäre - der "schädigende Vorgang", das "schädigende Ereignis" gewesen, sondern der Sturz des Klägers; der Knochenbruch wäre bereits die Folge des "schädigenden Vorgangs". Die medizinische Beurteilung des Ursachenzusammenhangs, die der Kläger mit dem Antrag nach § 109 SGG begehrt hat, betrifft aber nicht nur die Frage, ob der Sturz des Klägers zu einem Beckenbruch oder zu einer anderen für die Entstehung oder Verschlimmerung der Schambein- und Sitzbeintuberkulose wesentlichen Erkrankung geführt habe, sie umfaßt vielmehr alle mit dem Sturz zusammenhängenden Fragen; das LSG hat den Antrag, nach § 109 SGG ein Gutachten einzuholen, nicht deshalb ablehnen dürfen, weil es eine medizinische Einzelfrage, nämlich die, ob der Sturz des Klägers zu einem Beckenbruch geführt habe, bereits als geklärt angesehen hat (vgl. Urteil des BSG vom 15. Juni 1961 - 11 RV 1256/60 -); es hat dies auch dann nicht tun dürfen, wenn es der Meinung gewesen ist, daß die Tuberkulose medizinisch nur dann als Schädigungsfolge in Betracht komme, wenn der Sturz zu einem Beckenbruch geführt habe; auch dem Kläger ist es übrigens, wie der protokollierte Antrag ergibt, entgegen der Meinung des LSG, keineswegs nur auf die Feststellung angekommen, daß er infolge des Sturzes einen Beckenbruch erlitten habe, sondern auf ein Gutachten darüber, daß "der jetzige Leidenszustand ursächlich auf den damaligen Sturz zurückgehe"; dieses Begehren entspricht auch dem Sinn und Zweck des § 109 SGG. Auch insoweit hat der Kläger zu Recht gerügt, daß das LSG gegen die zwingende Verfahrensvorschrift des § 109 SGG verstoßen habe.
Da der gerügte Verfahrensmangel vorliegt, ist die Revision statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; der Kläger hat sie auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet, sie ist damit zulässig. Die Revision ist auch begründet; es ist möglich, daß das LSG, wenn es auf den Antrag des Klägers Prof. Dr. R. noch als Sachverständigen hört, zu einem anderen Ergebnis kommt. Das Urteil des LSG ist daher mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben; der Senat kann nicht selbst entscheiden, da die Beweisaufnahme noch nicht abgeschlossen ist, die Sache ist deshalb zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen