Entscheidungsstichwort (Thema)
Künstler. Definition. Lehrer von Kunst. Tanz. Eurythmie. Laienunterricht
Leitsatz (amtlich)
- Zur Versicherungspflicht einer Eurythmie-Lehrerin in der Künstlersozialversicherung.
- Für die Künstlersozialversicherung ist es ohne Bedeutung, welche Geisteshaltung oder Weltanschauung der Kunstausübung zugrunde liegt und welche Zwecke der Künstler außer dem Gelderwerb noch verfolgt.
Normenkette
KSVG §§ 1-2
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 08.10.1993; Aktenzeichen L 4 Kr 2326/9l) |
SG Stuttgart (Urteil vom 18.09.1991; Aktenzeichen S 10 Kr 2026/90) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 8. Oktober 1993 geändert.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 18. September 1991 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in allen Rechtszügen.
Tatbestand
I
Die Klägerin absolvierte an der Pflegestätte für Musische Künste in Bern (Schweiz) eine Ausbildung zur Eurythmistin. Ab 5. September 1988 gibt sie Eurythmie-Kurse für Kinder und Erwachsene in gemieteten Räumen der Studienstätte für Eurythmie in Stuttgart und außerdem an den Volkshochschulen Heilbronn und Böblingen. Seit Beginn ihrer Tätigkeit ist sie bei der zu 1 beigeladenen Ersatzkasse freiwillig krankenversichert. Ihren Antrag auf Feststellung der Versicherungspflicht nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz (KSVG) lehnte die beklagte Künstlersozialkasse mit der Begründung ab, bei der von der Klägerin ausgeübten selbständigen Tätigkeit handele es sich nicht um eine künstlerische Tätigkeit iS des KSVG, da sie lediglich Laien unterrichte (Bescheid vom 3. August 1989; Widerspruchsbescheid vom 9. Mai 1990). Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) festgestellt, daß die Klägerin seit dem 5. September 1988 nach dem KSVG in der gesetzlichen Rentenversicherung der Angestellten und seit dem 1. Januar 1989 auch in der gesetzlichen Krankenversicherung gesetzlich versichert sei; die auf die Feststellung eines früheren Beginns der Krankenversicherungspflicht gerichtete Klage hat es wegen des bis Ende 1989 geltenden Vorrangs der freiwilligen Krankenversicherung abgewiesen (Urteil vom 18. September 1991). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) die Klage in vollem Umfang abgewiesen (Urteil vom 8. Oktober 1993). Es hat sich der Auffassung der Beklagten angeschlossen, daß die Klägerin mit der Veranstaltung von Laienkursen in Eurythmie keine darstellende Kunst lehre. Die Klägerin sei als selbständige Lehrerin nur in dieser Eigenschaft in der Rentenversicherung der Angestellten versichert, weil es sich um keine geringfügige Beschäftigung handele.
Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin. Sie rügt eine Verletzung des § 2 KSVG, hilfsweise eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht nach §§ 103, 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG), und vertritt weiterhin die Auffassung, daß ihr Eurythmie-Unterricht das Lehren darstellender Kunst sei.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG zu ändern und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält ihre Auffassung, daß die Unterrichtung von Laien nicht unter das KSVG falle, nicht mehr aufrecht; sie verneint die Versicherungspflicht der Klägerin nach dem KSVG dennoch weiterhin mit der Begründung, daß vorrangiges Ziel ihrer Unterrichtstätigkeit nicht sei, anderen Menschen die Ausübung von Kunst beizubringen, sondern die ganzheitliche Persönlichkeitsbildung und die Entwicklung der sozialen Kräfte der Schüler entsprechend der anthroposophischen Lehre Rudolph Steiners zu fördern. Dieser habe die Eurythmie selbst als “beseeltes Turnen” bezeichnet.
Die Beigeladene zu 1 stellt keinen Antrag.
Die Beigeladene zu 2 beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist begründet. Das erstinstanzliche Urteil, mit dem die Versicherungspflicht der Klägerin nach dem KSVG in der gesetzlichen Rentenversicherung der Angestellten ab 5. September 1988 und in der gesetzlichen Krankenversicherung ab 1. Januar 1989 festgestellt worden ist, ist wiederherzustellen. Soweit die Versicherungspflicht der Klägerin in der gesetzlichen Krankenversicherung für die Zeit vom 5. September bis zum 31. Dezember 1988 vom SG verneint worden ist, hat die Klägerin dagegen kein Rechtsmittel eingelegt. Darüber ist deshalb auch nicht im Revisionsverfahren zu befinden.
Nach § 1 KSVG (idF durch das Gesetz zur Änderung des KSVG vom 20. Dezember 1988 – BGBl I 2606) werden selbständige Künstler in der Rentenversicherung der Angestellten und in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert, wenn sie die künstlerische Tätigkeit erwerbsmäßig und nicht nur vorübergehend ausüben. Als Künstler iS des Gesetzes bezeichnet § 2 KSVG in der genannten Fassung denjenigen, der Musik, darstellende oder bildende Kunst schafft, ausübt oder lehrt. Nach der bis zum 31. Dezember 1988 geltenden Ursprungsfassung des KSVG vom 27. Juli 1981 (BGBl I 705) war nach § 2 Künstler, wer nicht nur vorübergehend selbständig erwerbstätig Musik, darstellende oder bildende Kunst schafft, ausübt oder lehrt; § 2 enthielt damit hinsichtlich der Nachhaltigkeit und Erwerbsmäßigkeit der Tätigkeit Merkmale, die nunmehr in § 1 KSVG enthalten sind. Die unterschiedliche Fassung des Gesetzes ist für die hier ab September 1988 streitige Versicherungspflicht der Klägerin ohne Bedeutung. Das mit der Neufassung des Gesetzes nunmehr in § 1 KSVG formulierte Merkmal der “erwerbsmäßigen” Ausübung der Tätigkeit soll besser als die frühere Fassung des § 2 KSVG zum Ausdruck bringen, daß die künstlerische Tätigkeit zum Zwecke des Broterwerbs und nicht nur aus Liebhaberei ausgeübt werden muß (vgl Finke/ Brachmann/Nordhausen, KSVG, 2. Aufl, § 1 RdNr 15). Daß es sich bei der Tätigkeit der Klägerin sowohl in den von ihr angemieteten Räumen der Studienstätte für Eurythmie in Stuttgart als auch an den Volkshochschulen um eine selbständige Tätigkeit handelt, die eine wesentliche finanzielle Lebensgrundlage für die Klägerin darstellt, hat das LSG im Anschluß an die eingehenden Feststellungen des SG, insbesondere über das Ausmaß der Weisungsfreiheit und des finanziellen Risikos für den Unterricht an den Volkshochschulen, bejaht, wenn auch nur zur Begründung der Versicherungspflicht der Klägerin als selbständige Lehrerin in der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 2 Abs 1 Nr 3 Angestelltenversicherungsgesetz bzw ab 1. Januar 1992 nach § 2 Nr 1 Sozialgesetzbuch – Sechstes Buch – (SGB VI). Gegen die zugrundeliegenden Feststellungen und die daraus gezogenen rechtlichen Folgerungen werden von seiten der Beteiligten keine Einwendungen erhoben. Soweit die Klägerin geltend macht, das LSG sei irrtümlich von einem zu hohen durchschnittlichen monatlichen Einkommen ausgegangen, kann dies ohne Rücksicht auf die revisionsrechtliche Beachtlichkeit als richtig unterstellt werden. Die Klägerin macht nicht geltend, daß sie nach § 3 Abs 1 KSVG versicherungsfrei ist oder gewesen ist, weil sie lediglich ein Arbeitseinkommen erzielt hat, das 1/7 der Bezugsgröße nach § 18 Sozialgesetzbuch – Viertes Buch – nicht überstiegen hat; ohnehin wäre dies nach § 3 Abs 2 KSVG bis zum Ablauf von fünf Jahren nach erstmaliger Aufnahme der Tätigkeit unbeachtlich.
Entgegen der Auffassung des LSG zählt die Klägerin nicht zu den selbständigen Lehrern oder Erziehern im weiteren Sinn, die bis zum Außerkrafttreten des § 166 Nr 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) durch das Gesundheits-Reformgesetz vom 20. Dezember 1988 (BGBl I 2477) krankenversichert waren und nach den bereits erwähnten Vorschriften nach wie vor in der gesetzlichen Rentenversicherung der Angestellten versichert sind, wo sie ihre Beiträge allein zu tragen haben (vgl § 475b Satz 2 RVO aF; § 169 Nr 1 SGB VI). Als Eurythmie-Lehrerin ist die Klägerin selbständige Künstlerin iS der §§ 1 und 2 KSVG, weil sie darstellende Kunst ausübt und lehrt. Aufgrund der vom LSG getroffenen Feststellungen ergibt sich, daß die Klägerin sowohl Kinder als auch Erwachsene darin unterrichtet, die in der Sprache und der Musik liegenden Bewegungstendenzen durch Bewegungen des Körpers sichtbar zu machen, und zwar in der typischen Formensprache der Eurythmie. Diese gibt kein starres Bewegungsmuster vor, sondern läßt einen weiten Spielraum für die individuelle, eigenschöpferische Ausgestaltung der Bewegungen sowohl bei dem Lehrer als auch in der späteren Anwendung des Gelernten bei den Schülern. Damit sind die Mindestvoraussetzungen für das Lehren von Kunst erfüllt. Die Beklagte zieht nicht mehr in Zweifel, daß diese Voraussetzungen auch dann erfüllt werden können, wenn nicht angehende Künstler für ihren Beruf ausgebildet, sondern wenn nur Laien unterrichtet werden, die in ihrer Freizeit am Unterricht teilnehmen und das Gelernte auch nur für Freizeitzwecke verwenden wollen. Dies hat der Senat bereits in der den Beteiligten bekannten Entscheidung vom 20. April 1994 – 3/12 RK 14/92 – (zur Veröffentlichung vorgesehen) geklärt; auf die dortigen Ausführungen wird Bezug genommen (vgl zur Versicherungspflicht eines selbständigen Blockflötenlehrers auch Urteil vom 20. Juli 1994 – 3/12 RK 18/92 – ebenfalls zur Veröffentlichung vorgesehen). Der vorliegende Rechtsstreit weist in dieser Hinsicht keine neuen Gesichtspunkte auf, die der Senat noch nicht berücksichtigt hat. An der bisherigen Rechtsprechung wird deshalb festgehalten.
Die Beklagte bestreitet die Versicherungspflicht der Klägerin auch nicht damit, daß die Eurythmie keine Form der Kunst sei. Sie bezieht sich im Gegenteil ausdrücklich auf das von der Bundesanstalt für Arbeit herausgegebene Grundwerk ausbildungs- und berufskundlicher Informationen, in dem unter Nr 852g das Wesen der Eurythmie wie folgt beschrieben wird:
“Die Eurythmie ist eine von der Anthroposophie entwickelte akustischmotorische Kunst des “sichtbaren Gesangs”, der “sichtbaren Sprache”; die Eurythmie erspürt natürliche mit Klang zusammenhängende menschliche Bewegungsimpulse (Alltagsbeispiel: Mitschwingen des Körpers bei Musik, sprachbegleitende Gestik) und gestaltet sie zu Gebärden und Bewegung im Raum.”
Ausgehend von dieser Umschreibung, die auch das LSG sinngemäß seiner rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt hat, sieht die Beklagte Eurythmie als Darstellung von Kunst zB dann an, wenn sie auf einer Bühne vor Publikum ausgeübt wird. Dies deckt sich mit dem Kunstbegriff, den der erkennende Senat seiner bisherigen Rechtsprechung zugrunde gelegt hat (vgl Urteil vom 20. April 1994, aaO). Danach kommt es, sofern eine Darbietung nur ein Mindestmaß an eigenschöpferischer Gestaltung aufweist, in der Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse des Künstlers zur unmittelbaren Anschauung gebracht werden, im Rahmen des KSVG nicht weiter darauf an, ob und welche Geisteshaltung oder Weltanschauung dieser Darbietung zugrunde liegt und welche Zwecke – außer dem des Gelderwerbs – der Künstler mit seiner Darbietung verfolgt. Die Beklagte will hiervon für das Lehren von Eurythmie eine Ausnahme machen, weil es dort nicht darum gehe, andere Menschen selbst zur Ausübung von Eurythmie zu befähigen, sei es beruflich oder im Freizeitbereich, sondern in erster Linie um eine ganzheitliche Persönlichkeitsbildung nach den Grundsätzen der anthroposophischen Lehre. Ob die Persönlichkeitsbildung vorrangiges Handlungsmotiv der Klägerin bzw der Teilnehmer war, wozu Feststellungen fehlen, ist rechtlich unerheblich. Wenn der Gesetzgeber in § 2 KSVG das Lehren von Kunst den anderen Kunstausübungsformen gleichstellt, gilt dies auch für die Unbeachtlichkeit der im Einzelfall zugrundeliegenden Geisteshaltungen und weitergehenden Absichten. Es kommt allein auf die objektive Zielrichtung der Maßnahme an. Für diese ist im Grundsatz ihr unmittelbarer Zweck maßgebend. Dieser bestand hier nach den Feststellungen des LSG in der Befähigung zur Ausübung der Eurythmie. Daß diese Befähigung mittelbar auch der Allgemeinerziehung dient, ist rechtlich unerheblich. Der mittelbar verfolgte Zweck der Allgemeinerziehung kann allenfalls dann erheblich werden, wenn die konkrete Lehrmaßnahme in eine umfassendere Bildungsmaßnahme eingegliedert ist, die ihrerseits unmittelbar der Allgemeinerziehung dient. Das mag der Fall sein, wenn der Eurythmie-Unterricht als eines von vielen Unterrichtsfächern an allgemeinbildenden Schulen, etwa an Waldorf-Schulen, angeboten wird. Dann kann in gleicher Weise wie etwa beim Erteilen von Musik- und Kunstunterricht an staatlichen allgemeinbildenden Schulen zweifelhaft sein, ob dadurch die Schulen zu abgabepflichtigen Ausbildungseinrichtungen iS von § 24 Abs 1 Nr 9 KSVG 1989 zählen. Der Senat hat diese Frage bislang offengelassen (vgl Urteil vom 20. Juli 1994 – 3/12 RK 38/93 – betreffend die Abgabepflicht einer pädagogischen Hochschule). Im Gesetzgebungsverfahren wurde zwar allgemein darauf hingewiesen, daß selbständig Lehrende im Kulturbereich zum Vermarktungsprozeß nicht nur durch die Ausbildung der Künstler beitragen, sondern auch dadurch, daß sie beim Endabnehmer den Weg dafür bereiten, daß er künftig Kulturprodukte abnimmt (BT-Drucks 260/79 S 19).
Wäre hierbei nicht nur an spezielle Bildungsmaßnahmen gedacht, sondern auch an den Kunstunterricht an allgemeinbildenden Schulen, so wäre dies im Hinblick auf deren Bedeutung vermutlich besonders erwähnt worden. Bei der Einbeziehung der Ausbildungseinrichtungen (§ 24 Abs 2 Nr 9 KSVG) ist im Gesetzgebungsverfahren geäußert worden, daß sich dies auf die Ausbildung zum künstlerischen oder publizistischen Beruf beziehe (BT-Drucks 11/2964 S 18). Gleichwohl hat die Rechtsprechung, wie ausgeführt, den (auch) für Laien in besonderen Maßnahmen angebotenen Kunstunterricht einbezogen. Mit der Einbeziehung nicht nur der besonderen Bildungsmaßnahme für alle Konsumenten, sondern auch der Allgemeinerziehung würde sich die Gesetzesauslegung einen erheblichen Schritt weiter von den Gesetzesmaterialien entfernen, was einer besonderen Begründung bedarf. Indes muß diese Frage auch jetzt nicht entschieden werden, zumal es hier nicht um die Abgabepflicht, sondern um die Versicherungspflicht geht, die nicht notwendig deckungsgleich mit jener sein muß. Die Klägerin erteilt nach den Feststellungen des LSG ihren Unterricht nicht im Rahmen der allgemeinen Schulausbildung, sondern in speziellen Kursen ohne umfassenden Bildungsauftrag. Wenn auch diese Art von Unterricht pädagogische Elemente aufweist, die unterschiedliches Gewicht haben können, je nachdem, ob etwa Kinder oder Erwachsene zu unterrichten sind, so dienen sie doch lediglich der Vermittlung des Unterrichtsstoffs, nämlich der theoretischen Grundlagen und der praktischen Anwendung der Eurythmie. Die Pädagogik beschränkt sich hier auf Fragen der Methodik, sie ist kein eigenständiges Unterrichtsziel iS der Vermittlung einer Allgemeinbildung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 921721 |
SozSi 1997, 79 |