Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Wiedereinsetzung nach Armenrechtsbewilligung
Orientierungssatz
1. Legt das Gericht seiner Entscheidung ein Gutachten zugrunde, ohne die betroffene Partei sich dazu äußern zu lassen, liegt ein wesentlicher Mangel des Verfahrens vor.
2. Versäumt eine Partei in Erwartung einer Entscheidung über ihr Armenrechtsgesuch die Revisionsfrist, so ist ihr nach Armenrechtsbewilligung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Normenkette
SGG §§ 62, 128 Abs. 3, § 67
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 25.05.1966) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 25. Mai 1966 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Kläger bezog wegen einer Lungenspitzentuberkulose Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (Bescheid vom 22. Mai 1962). Mit Wirkung vom 1. April 1964 an wurde die Rente in eine Rente wegen Berufsunfähigkeit umgewandelt (Bescheid vom 20. Februar 1964).
Klage und Berufung hatten keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 2. November 1964 und Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Hamburg vom 25. Mai 1966). Das LSG hat in den Entscheidungsgründen ausgeführt: In den Verhältnissen, die zur Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente geführt hätten, sei eine wesentliche Änderung im Sinne des § 1286 Abs. 1 Satz 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) eingetreten. Bei der Gewährung dieser Rente sei die Lungentuberkulose des Klägers aktiv gewesen. Vor der Entziehung der Rente sei jedoch Inaktivität festgestellt worden; an diesem Zustand habe sich nichts mehr geändert. - Das LSG stützt seine Entscheidung ua auch auf das Sachverständigengutachten des Facharztes für innere Krankheiten Dr. S vom 23. Mai 1966. Dieses Gutachten, das zu dem Ergebnis gelangt, daß bei dem Kläger eine ruhende Lungenspitzentuberkulose vorliege, ist dem Kläger - wie die Sitzungsniederschrift ausweist - in der letzten mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 25. Mai 1966, und zwar nach Stellung der Sachanträge, übergeben worden. Anschließend hat der Sachverständige auf Veranlassung des Gerichts sein Gutachten noch mündlich ergänzt. Sodann wurde die Verhandlung geschlossen. - Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.
Der Kläger hat - nachdem ihm für das Verfahren vor dem Bundessozialgericht (BSG) das Armenrecht bewilligt worden war - Revision eingelegt. Er rügt einen wesentlichen Mangel im Verfahren vor dem LSG. Sein Recht auf rechtliches Gehör (§ 62, § 128 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) sei dadurch verletzt worden, daß ihm das Gutachten des Sachverständigen Dr. S erst in der letzten mündlichen Verhandlung übergeben worden sei. Er habe keine Gelegenheit gehabt, zu diesem Gutachten Stellung zu nehmen, insbesondere darzutun, aus welchen Gründen es fehlerhaft sei. Das den Beteiligten nach § 128 Abs. 2 SGG eingeräumte Recht, sich zu allen bedeutsamen Tatsachen zu äußern, schließe ein, daß hinreichend Zeit für eine solche Äußerung gewährt werde. Auf diesem Verfahrensmangel beruhe die Entscheidung. Eine erneute Untersuchung habe inzwischen das Vorliegen einer aktiven Lungentuberkulose ergeben. Hiernach sei es fraglich, ob überhaupt je eine Besserung seines Gesundheitszustandes eingetreten gewesen sei.
Der Kläger beantragt - nach Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Rechtsmittelfristen - unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen der Klage stattzugeben, hilfsweise, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).
Die Revision ist zulässig. Allerdings ist sie nicht, wie es § 164 Abs. 1 Satz 1 SGG vorschreibt, innerhalb eines Monats nach Zustellung des angefochtenen Urteils eingelegt und binnen eines weiteren Monats begründet worden. Der Kläger hat jedoch Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, weil er ohne eigenes Verschulden verhindert war, diese Fristen einzuhalten (§ 67 SGG). Er war infolge seiner ungünstigen Einkommens- und Vermögensverhältnisse nicht in der Lage, auf eigene Kosten einen beim BSG zugelassenen Prozeßbevollmächtigten mit der Einlegung der Revision zu beauftragen. Dieses Hindernis ist erst mit der Zustellung des Beschlusses vom 27. November 1967, durch den ihm die jetzige Prozeßbevollmächtigte im Armenrecht beigeordnet wurde, beseitigt worden. Er hat innerhalb der Monatsfrist des § 67 Abs. 2 SGG den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt und die versäumten Rechtshandlungen fristgerecht nachgeholt. Die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat zur Folge, daß die Revisionsfrist und die Revisionsbegründungsfrist als gewahrt gelten.
Die Revision ist statthaft, weil der Kläger einen - tatsächlich vorliegenden - wesentlichen Mangel im Verfahren vor dem LSG ordnungsgemäß gerügt hat (§ 162 Abs. 1, § 164 SGG). - Das LSG hat das Recht des Klägers auf rechtliches Gehör nicht hinreichend beachtet und damit gegen §§ 62, 128 Abs. 2 SGG verstoßen. Den Beteiligten ist vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren; das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Dies ist in dem vorliegenden Fall nicht geschehen. Die Entscheidung des LSG beruht wesentlich auf dem Gutachten des medizinischen Sachverständigen Dr. S vom 23. Mai 1966. Diesem Gutachten ist insbesondere entnommen worden, daß die Lungentuberkulose des Klägers zum Ruhen gekommen sei. Daraus hat das LSG eine - bis zur letzten mündlichen Verhandlung unverändert gebliebene - wesentliche Besserung im Gesundheitszustand des Klägers hergeleitet, welche die von der Beklagten vorgenommene Rentenumwandlung rechtfertige. Zu dem vorbezeichneten Gutachten konnte sich der Kläger jedoch nicht äußern. Es ist ihm erst in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG - wie die Sitzungsniederschrift ausweist, nach Stellung der Sachanträge und nach Erörterung des Sachverhalts - übergeben worden. Anschließend hat der Sachverständige sein Gutachten noch mündlich ergänzt. Die Verhandlung ist geschlossen worden, ohne daß der Kläger Gelegenheit hatte, zu dem Gutachten Stellung zu nehmen oder in diesem Zusammenhang Anträge zu stellen. Von einem Laien ist nicht zu erwarten, daß er innerhalb weniger Minuten ein Sachverständigengutachten nicht nur zur Kenntnis nimmt, sondern sich dazu auch sinnvoll äußern kann. Doch kann es hier dahingestellt bleiben, ob durch die Möglichkeit einer Erörterung des Gutachtens in der mündlichen Verhandlung den Vorschriften der §§ 62 und 128 Abs. 2 SGG Rechnung getragen worden wäre, in dem vorliegenden Fall ist dem Kläger selbst eine solche Erörterung versagt geblieben. Dies stellt einen wesentlichen Mangel im Berufungsverfahren dar.
Die Revision ist auch begründet. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß das Berufungsgericht bei Beachtung der vorbezeichneten Verfahrensvorschriften zu einem anderen, für den Kläger günstigeren Ergebnis gelangt wäre. Möglicherweise hätte eine weitere Beweisaufnahme ergeben, daß eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 1286 RVO nicht eingetreten oder daß sie später - bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem LSG (vgl. hierzu BSG in SozR Nr. 4 und 5 zu § 1293 RVO aF, BSG 9, 151, 153; 12, 127; 17, 295, 299) - wieder beseitigt worden war.
Das angefochtene Urteil muß hiernach aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen