Entscheidungsstichwort (Thema)
Prüfung der Prozeßfähigkeit
Orientierungssatz
Liegen dem Gericht Anhaltspunkte vor, die die Prozeßfähigkeit einer Partei in Frage stellen, so hat es diese von Amts wegen zu überprüfen.
Normenkette
SGG § 71 Abs. 1
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 11.05.1967) |
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 11. Mai 1967 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Beteiligten haben in diesem Rechtsstreit vor dem Landessozialgericht (LSG) am 16. März 1967 einen gerichtlichen Vergleich geschlossen. Der Kläger hat jedoch später die Fortsetzung des Verfahrens beantragt. Durch Urteil vom 11. Mai 1967 hat das LSG festgestellt, daß der Rechtsstreit durch den Prozeßvergleich erledigt sei.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die - nicht zugelassene - Revision des Klägers. Sie rügt einen wesentlichen Mangel im Verfahren vor dem LSG. Er, der Kläger, sei nämlich prozeßunfähig. Darauf habe er das Berufungsgericht mehrfach hingewiesen. Aus einem dem Gericht bekannt gewesenen medizinischen Sachverständigengutachten seien schwerwiegende Anhaltspunkte für seine Prozeßunfähigkeit ersichtlich. Das LSG hätte daher durch Einholung eines weiteren Gutachtens die Frage der Prozeßfähigkeit klären müssen.
Dem Kläger ist für das Verfahren vor dem Bundessozialgericht (BSG) das Armenrecht bewilligt worden.
Er beantragt,
1. ihm wegen der Versäumung der Revisions- und der Revisionsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren,
2. die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. Juni 1959 an zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
sie zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision ist zulässig. Allerdings ist sie nicht, wie es § 164 Abs. 1 Satz 1 SGG vorschreibt, innerhalb eines Monats nach Zustellung des angefochtenen Urteils eingelegt und binnen eines weiteren Monats begründet worden. Der Kläger hat jedoch Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, weil er ohne eigenes Verschulden verhindert war, diese Fristen einzuhalten (§ 67 SGG). Er war infolge seiner ungünstigen Einkommens- und Vermögensverhältnisse nicht in der Lage, auf eigene Kosten einen beim BSG zugelassenen Prozeßbevollmächtigten mit der Einlegung der Revision zu beauftragen. Dieses Hindernis ist erst mit der Zustellung des Beschlusses vom 4. August 1967, durch den ihm die jetzige Prozeßbevollmächtigte im Armenrecht beigeordnet wurde, beseitigt worden. Er hat innerhalb der Monatsfrist des § 67 Abs. 2 SGG den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt und die versäumten Rechtshandlungen fristgerecht nachgeholt. Die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat zur Folge, daß die Revisionsfrist und die Revisionsbegründungsfrist als gewahrt gelten. Die Revision ist auch statthaft, weil der Kläger einen - tatsächlich vorliegenden - wesentlichen Mangel im Verfahren vor dem LSG ordnungsgemäß gerügt hat (§ 162 Abs. 1, § 164 Abs. 2 SGG).
Es trifft zu, daß der Kläger das Berufungsgericht mehrfach auf seine - mögliche - Prozeßunfähigkeit hingewiesen hat. Aus den erstinstanzlichen Akten konnte das LSG ferner die Behauptung des Klägers entnehmen, daß er während des Krieges in Thüringen entmündigt worden sei. In diesen Akten befindet sich auch das in der Revisionsbegründungsschrift erwähnte Gutachten des Amtsarztes Dr. Sch- vom 11. November 1963. Dieser hat bei dem Kläger eine "mittel- bis hochgradige Psychopathie" festgestellt. Eine Geisteskrankheit könne zwar nicht gesichert werden, eine Geistesschwäche bestehe anscheinend in jenem Sektor, der seine Rentenangelegenheiten und Entschädigungsansprüche umfasse. Den kleinen Kreis seiner übrigen Angelegenheiten vermöge er jedoch zu besorgen. Er sei deshalb nicht als geschäftsunfähig bzw. entmündigungsfähig anzusehen, "solange seine konfusen, mitunter auch ans Wahnhafte grenzenden Vorstellungen noch im Bereich des Einfühlbaren" blieben. Eine vollständige ärztliche Untersuchung in typischer Weise sei jedoch wegen der Einstellung des Klägers zu dieser Frage nicht möglich gewesen. Diagnose und Beurteilung könnten daher nur mit Vorbehalten abgegeben werden.
Aus diesem Gutachten ergibt sich zwar noch nicht die Prozeßunfähigkeit des Klägers. Jedoch hätten sich dem LSG insoweit erhebliche Bedenken aufdrängen müssen. Der Hinweis darauf, daß auf dem Gebiete seiner Rentenangelegenheiten eine Geistesschwäche des Klägers bestehe, hätte Anlaß sein müssen, die Frage der Prozeßfähigkeit, insbesondere für ein Verfahren der vorliegenden Art, zu klären. Überdies hat der Sachverständige zu erkennen gegeben, seine Beurteilung könne nur mit Vorbehalten abgegeben werden, weil es bisher an einer eingehenden Untersuchung des Klägers fehle. Die Einholung eines erschöpfenden Gutachtens wäre deshalb erforderlich gewesen. Dadurch, daß dies unterblieben ist, hat das LSG gegen seine Pflicht, von Amts wegen die Prozeßfähigkeit des Klägers (§ 71 Abs. 1 SGG) zu prüfen, verstoßen. Dies stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) dar. Er macht die Revision statthaft.
Die Revision ist auch begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, weil nicht ausgeschlossen werden kann, daß ein fehlerfreies Berufungsverfahren zu einem anderen Ergebnis geführt hätte. Der Rechtsstreit muß zur Prüfung der Frage, ob und gegebenenfalls während welcher Zeiträume der Kläger prozeßunfähig war, an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG). Das Ergebnis dieser Prüfung kann die Wirksamkeit des zwischen den Beteiligten abgeschlossenen Prozeßvergleichs beeinflussen. Es ist denkbar, daß sodann weitere Ermittlungen erforderlich werden. Schon aus diesem Grunde ist eine - an sich mögliche - Prüfung der Prozeßfähigkeit des Klägers durch das Revisionsgericht untunlich.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen