Orientierungssatz
1. Zum Umfang der Sachaufklärungspflicht bei Entziehung einer Invalidenrente wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse.
2. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Bewilligung des Armenrechtsgesuchs.
Normenkette
SGG §§ 103, 67; RVO § 1286
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 17.08.1967) |
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 17. August 1967 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Kläger hatte von der Beklagten Invalidenrente bezogen. Durch Bescheid vom 9. Oktober 1962 wurde ihm die Rente gemäß § 1286 der Reichsversicherungsordnung (RVO) entzogen, weil er wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse nicht mehr berufsunfähig sei.
Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat seine Entscheidung wie folgt begründet: Anläßlich der stationären Untersuchung des Klägers vom 29. Mai bis 2. Juni 1962 hätten die Sachverständigen der medizinischen Universitätsklinik M eine wesentliche Besserung in dem Leberleiden des Klägers, das in erster Linie kausal war für die Gewährung der Rente, festgestellt. Der Kläger könne wieder täglich 6 - 8 Stunden leichte bis mittelschwere Arbeiten verrichten. Spätere Sachverständigengutachten hätten dies bestätigt. Zugleich sei darin festgestellt worden, daß im Verlauf der letzten Jahre - nicht vor der stationären Untersuchung in Marburg - bei dem Kläger ein Herzinfarkt - ohne deutliche klinische Zeichen - aufgetreten sei. Eine genauere zeitliche Festlegung sei nicht möglich. Der Krankheitswert eines symptomlos verlaufenen Herzinfarkts sei nicht anders zu beurteilen, als der eines deutlich aufgetretenen Infarktgeschehens. Der Herzinfarkt habe die Verhältnisse zur Zeit des Erlasses des Rentenentziehungsbescheides nicht beeinflussen können.
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen, der Kläger jedoch - nach Bewilligung des Armenrechts (Beschluß vom 30. Oktober 1967) - das Rechtsmittel eingelegt. Er rügt einen wesentlichen Mangel im Verfahren vor dem LSG. Das Gericht habe seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), verletzt. Aus den Sachverständigengutachten ergebe sich, daß im Zeitpunkt seiner Untersuchung in Marburg - also Ende Mai, Anfang Juni 1962 - bei ihm ein Herzinfarkt noch nicht vorgelegen habe. Das Infarktgeschehen könne sich kurze Zeit nach der Untersuchung in Marburg - also noch vor dem Erlaß des Entziehungsbescheides im Oktober 1962-ereignet haben. Wenn diese Möglichkeit bisher nicht auszuschließen sei, so hätte durch Einholung eines weiteren Gutachtens geklärt werden müssen, welche Auswirkungen dem Infarkt auf seine, des Klägers Erwerbsfähigkeit zukomme.
Der Kläger beantragt,
1) ihm wegen der Versäumung der Rechtsmittelfristen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren,
2) unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
sie zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).
Die Revision ist zulässig. Allerdings ist sie nicht, wie es § 164 Abs. 1 Satz 1 SGG vorschreibt, innerhalb eines Monats nach Zustellung des angefochtenen Urteils eingelegt und binnen eines weiteren Monats begründet worden. Der Kläger hat jedoch Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, weil er ohne eigenes Verschulden verhindert war, diese Fristen einzuhalten (§ 67 SGG). Er war infolge seiner ungünstigen Einkommens- und Vermögensverhältnisse nicht in der Lage, auf eigene Kosten einen beim BSG zugelassenen Prozeßbevollmächtigten mit der Einlegung der Revision zu beauftragen. Dieses Hindernis ist erst mit der Zustellung des Beschlusses vom 30. Oktober 1967, durch den ihm der jetzige Prozeßbevollmächtigte im Armenrecht beigeordnet wurde, beseitigt worden. Er hat innerhalb der Monatsfrist des § 67 Abs. 2 SGG den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt und die versäumten Rechtshandlungen fristgerecht nachgeholt. Die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat zur Folge, daß die Revisionsfrist und die Revisionsbegründungsfrist als gewahrt gelten. Die Revision ist auch statthaft, weil der Kläger einen - tatsächlich vorliegenden - wesentlichen Mangel im Verfahren vor dem LSG ordnungsgemäß gerügt hat (§ 162 Abs. 1, § 164 Abs. 2 SGG).
Das LSG hat seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären, nicht in hinreichendem Maße beachtet und damit § 103 SGG verletzt. Das Ergebnis der Beweisaufnahme rechtfertigt nicht die Schlußfolgerung, daß beim Erlaß des Rentenentziehungsbescheides im Gesundheitszustand des Klägers eine wesentliche Besserung eingetreten sei. In diesem Zusammenhang kann es entscheidend auch auf den Herzinfarkt, der bei dem Kläger aufgetreten ist, ankommen. Die ärztlichen Gutachten lassen nicht erkennen, daß das Infarktgeschehen zeitlich erst nach der Entziehung der Rente aufgetreten ist. Es kann hierzu auch kurz nach der Untersuchung des Klägers in Marburg - also noch vor dem Erlaß des Entziehungsbescheides - gekommen sein. Unterstellt man dies einmal, so könnte eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 1286 RVO im Zeitpunkt des Erlasses des Entziehungsbescheides nur dann vorgelegen haben, wenn dem Infarktgeschehen keine Bedeutung beizumessen gewesen wäre. Dies läßt sich jedoch aus den medizinischen Gutachten nicht entnehmen. Dem LSG hätte sich daher wegen des Herzinfarkts eine weitere Aufklärung aufdrängen müssen. Falls der Nachweis, daß der Herzinfarkt erst nach dem Erlaß des Rentenentziehungsbescheides aufgetreten ist, nicht geführt werden kann, kommt es für die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit dieses Bescheides darauf an, welche Bedeutung dem Infarkt auf die Erwerbsfähigkeit des Klägers beizumessen ist. Die Unterlassung dieser Aufklärung stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar. Er macht die Revision statthaft.
Die Revision ist auch begründet. Es ist nicht auszuschließen, daß ein fehlerfreies Berufungsverfahren zu einem anderen Ergebnis geführt hätte. Das angefochtene Urteil muß deshalb aufgehoben, der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird nunmehr zu klären haben, ob trotz des Herzinfarkts, den der Kläger erlitten hat, tatsächlich eine wesentliche Besserung im Gesundheitszustand des Klägers eingetreten war.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen