Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung des rechtlichen Gehörs bei Antrag auf Vertagung durch den Bevollmächtigten
Orientierungssatz
Hat der auf dem Weg zum Termin von einem Unfall betroffene Prozeßbevollmächtigte fernmündlich ausdrücklich einen Vertagungsantrag gestellt, so ist die Zustimmung der Klägerin, ohne den Prozeßbevollmächtigten zu verhandeln, kein wirksamer Verzicht (§ 202 SGG iVm § 295 ZPO) auf ihren Anspruch (§ 62 SGG), daß ihr Bevollmächtigter in der mündlichen Verhandlung Gehör findet. Das Gericht darf sich nicht darauf beschränken, die Entscheidung darüber, ob verhandelt werden soll, dem Ermessen der Klägerin zu überlassen, ohne sie vollständig auch darüber zu unterrichten, daß ihr Prozeßbevollmächtigter einen "Vertagungsantrag" gestellt hat.
Normenkette
SGG §§ 62, 202; ZPO § 227 Abs 1, § 295
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 04.02.1987; Aktenzeichen L 4 An 71/85) |
SG Schleswig (Entscheidung vom 28.02.1985; Aktenzeichen S 3 An 37/84) |
Tatbestand
Streitig ist, wann der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit (EU) eingetreten ist.
Die im Jahr 1928 geborene Klägerin war als Hauptgeschäftsführerin bei der Volksbank D. eG beschäftigt. Seit dem 16. Juni 1981 leistete sie dort krankheitsbedingt keinen Dienst mehr. Das Arbeitsverhältnis wurde durch gerichtlichen Vergleich im Oktober 1982 mit Wirkung vom 30. September 1982 aufgelöst. In einer Anlage zu dem am 29. Dezember 1982 gestellten Rentenantrag beantwortete die Klägerin ua die Frage, ab wann sie sich für "berufs- oder erwerbsunfähig" halte, mit: "seit dem 16. Juni 1981". Durch Bescheid vom 26. Juli 1983 gewährte die Beklagte ab 1. Dezember 1982 Rente wegen eines am 16. Juni 1981 eingetretenen Versicherungsfalles der EU. Nach diesem Zeitpunkt entrichtete Beiträge berücksichtigte sie bei der Rentenberechnung nicht. Der dagegen gerichtete Widerspruch der Klägerin wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 4. Mai 1984).
Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts Schleswig -SG- vom 28. Februar 1985; Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts -LSG- vom 4. Februar 1987). Das LSG hat ausgeführt: Für die Zeit bis zum Erlaß des Bescheides vom 26. Juli 1983 hätten die Äußerungen der Klägerin und der behandelnden und begutachtenden Ärzte bezüglich des Eintritts der EU ein einheitliches Bild ergeben. Die Klägerin selbst habe mit dem Rentenantrag den Beginn ihrer EU auf den 16. Juni 1981 datiert. Ihre im Klage- und Berufungsverfahren aufgestellte Behauptung, sie sei im streitigen Zeitraum nicht gehindert gewesen, wie bisher einer rein geistigen Tätigkeit nachzugehen, sei offensichtlich zweckgerichtet. Sie werde weder durch ärztliche Berichte und Stellungnahmen noch durch die eingeholten Gutachten bestätigt. Diese kämen zwar nicht zu ganz einheitlichen Ergebnissen, belegten aber bei richtiger Auslegung, daß die Klägerin zumindest ab 30. Juni 1981 erwerbsunfähig (eu) gewesen sei.
Durch Beschluß vom 29. Oktober 1987 hat der - damals noch zuständige - 11a Senat des Bundessozialgerichts (BSG) die Revision gegen das Urteil des LSG zugelassen, weil das Berufungsgericht den Anspruch der Klägerin auf Gewährung des rechtlichen Gehörs (§ 62 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - iVm Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes - GG) verletzt habe. Obwohl der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin auf der Fahrt zum Verhandlungstermin vor dem LSG einen Verkehrsunfall erlitten und deswegen telefonisch einen Antrag auf Terminsverlegung gestellt habe, den die Klägerin auch nicht zurückgenommen habe, sei nicht förmlich darüber befunden worden. Das LSG habe vielmehr unzulässig sogleich in der Sache entschieden. Auf diesem Verfahrensmangel beruhe das angefochtene Urteil, weil nach dessen Gründen nicht auszuschließen sei, daß das LSG zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, wenn die Klägerin unter Mitwirkung ihres Prozeßbevollmächtigten hätte vortragen können, sie habe bei Erstellung des Rentenantrages die Frage nach dem Beginn der EU im Sinne von "arbeitsunfähig krank" verstanden.
Mit der Revision trägt die Klägerin unter Vorlage einer eigenen "eidesstattlichen Versicherung" vor, das LSG habe aus den Gründen des vorgenannten Beschlusses ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, zumal ihr die Angaben im Rentenantrag erstmalig in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht und völlig überraschend vorgehalten worden seien. Ferner habe das LSG nicht bzw unzutreffend gewürdigt, daß die behandelnde Ärztin Frau Dr. E. in dem Attest vom 12. November 1981 nicht EU, sondern nur Arbeitsunfähigkeit festgestellt und daß das Arbeitsverhältnis bis zum 30. September 1982 fortbestanden habe. Außerdem habe es das Gutachten des Professor Dr. I. überbewertet, jedoch die des Professor Dr. F. , des Chefarztes Dr. T. und des Dr. D. , die zu anderen Ergebnissen gelangt seien, falsch ausgewertet. Vor allem habe das LSG das Gutachten des Professor Dr. I. nicht verwerten dürfen. Denn er habe ausweislich der Anlage zur Niederschrift über die Verhandlung vom 28. Februar 1985 vor dem SG erklärt: "Ich will nicht aussagen". Ferner sei er nach der im Berufungsverfahren trotz ihres Einspruchs unzulässigerweise vorgenommenen Protokollberichtigung nicht über das Zeugnis- und Eidesverweigerungsrecht belehrt worden.
Die Klägerin beantragt,
auf die Revision der Klägerin das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 4. Februar 1987 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 26. Juli 1983 zu verurteilen, der Klägerin einen neuen Bescheid zu erteilen, durch den ihr unter Anrechnung weiterer Beitrags- und Ausfallzeiten vom 1. Juli 1981 bis 30. September 1982 höhere Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gewährt wird, hilfsweise: das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts aufzuheben und das Verfahren zu erneuter Verhandlung zurückzuverweisen.
Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt und nicht Stellung genommen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 - SGG).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Klägerin ist insoweit begründet, als der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden muß. Die vom Berufungsgericht verfahrensfehlerfrei getroffenen tatsächlichen Feststellungen reichen zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus.
Nicht Gegenstand des Rechtsstreites und auch zwischen den Beteiligten unstreitig ist, daß der Klägerin ab 1. Dezember 1982 eine Rente wegen EU zu zahlen ist. Zu prüfen ist allein, ob die Beklagte bei der Berechnung der Höhe der Rente Beitrags- und uU Ausfallzeiten der Klägerin zwischen dem 16. Juni 1981 und dem 30. November 1982 zu Recht nicht berücksichtigt hat. Wie das LSG insoweit von der Revision unangefochten und darum für den Senat bindend (§ 163 SGG) festgestellt hat, sind - jedenfalls - bis zum 27. Juli 1981 für die Klägerin Beiträge zur Angestelltenversicherung entrichtet worden. Diese Beiträge für Juli 1981 - und eventuell anschließende Beitrags- oder Ausfallzeiten - mußte die Beklagte bei der Berechnung der Rente außer Ansatz lassen, wenn die Klägerin bereits seit Juni 1981 eu war. Nach § 35 Abs 4 Satz 1 Regelung 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) werden nämlich für die Rente wegen EU nur vor Eintritt der EU zurückgelegte Versicherungs- und Ausfallzeiten berücksichtigt. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt deshalb - wie das LSG insoweit auch nicht verkannt hat - davon ab, wann die Klägerin eu geworden ist.
Nach § 24 Abs 2 Satz 1 AVG ist die Versicherte eu, die infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche ihrer körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte aus Erwerbstätigkeit erzielen kann. Zwar hat das LSG festgestellt, die Klägerin sei - wie sie selbst betont habe - infolge ihrer Erkrankung (vor allem: Asthma bronchiale) ab 16. Juni 1981 nicht mehr in der Lage gewesen, die rein geistige, mit keiner körperlichen Belastung verbundene Tätigkeit als Bankkaufmann zu verrichten. Auch sei eine noch leichtere Arbeit nicht vorstellbar und eine Behebung des Zustandes in absehbarer Zeit nicht zu erwarten gewesen. Daraus hat das LSG gefolgert, am 30. Juni 1981 habe EU vorgelegen.
An diese Feststellungen ist der Senat aber nicht gebunden, weil die Klägerin dagegen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht hat (§ 163 SGG). Zu Recht rügt sie nämlich, das LSG habe ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) verletzt. Wie bereits der 11a Senat des BSG im Beschluß vom 27. Oktober 1987 auch nach Ansicht des erkennenden Senats zutreffend ausgeführt hat, liegt dieser wesentliche Mangel des berufungsgerichtlichen Verfahrens vor. Das LSG hätte nämlich der Klägerin ihre Angabe in der Anlage zum Rentenantrag nicht in Abwesenheit ihres verhinderten Prozeßbevollmächtigten erstmalig im Termin überraschend vorhalten und darauf seine Entscheidung stützen dürfen. Vielmehr hatte es dem Antrag des auf dem Weg zum Termin von einem Unfall betroffenen Prozeßbevollmächtigten auf Terminsverlegung bzw Vertagung gemäß § 202 SGG iVm § 227 Abs 1 Satz 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) stattzugeben. Der Anwalt der Klägerin war nämlich aus einem erheblichen Grund, dem Unfall, verhindert. Er hatte die Geschäftsstelle des LSG nicht nur davon unterrichtet, sondern ausdrücklich einen "Vertagungsantrag" gestellt, wie er anwaltlich versichert hat und sich aus der Fernsprechnotiz des Geschäftsstellenbeamten des LSG vom 4. Februar 1987 ergibt. Die Zustimmung der Klägerin, ohne den Prozeßbevollmächtigten zu verhandeln, war kein wirksamer Verzicht (§ 202 SGG iVm § 295 ZPO) auf ihren Anspruch (§ 62 SGG), daß ihr Bevollmächtigter in der mündlichen Verhandlung Gehör findet. Das LSG durfte sich nämlich nicht darauf beschränken, die Entscheidung darüber, ob verhandelt werden solle, dem Ermessen der Klägerin zu überlassen, ohne sie vollständig auch darüber zu unterrichten, daß ihr Prozeßbevollmächtigter einen "Vertagungsantrag" gestellt hatte. Diese durch die Fürsorgepflicht des Gerichts gebotene, weil für ihr Vorgehen im Verhandlungstermin belangvolle Unterrichtung der Klägerin ist jedoch unterblieben.
Das angefochtene Urteil beruht auf dem Verfahrensmangel. Denn es besteht die Möglichkeit, daß das LSG ohne ihn bei Ausübung seines Rechts, nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG), zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre. Hätte die Klägerin zu dem ihr erstmals im Termin gemachten Vorhalt des Gerichts unter Mitwirkung ihres Prozeßbevollmächtigten vortragen und das LSG, was nicht auszuschließen ist, überzeugen können, sie habe sich über den Inhalt der Frage nach dem Beginn der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit in der Anlage zum Rentenantrag und deswegen auch über den ihrer Antwort geirrt, entfiele ein wesentlicher Bestandteil der Begründung, auf welche die Vorinstanz die Zurückweisung der Berufung gestützt hat. Den Ausführungen des LSG ist zu entnehmen, daß keiner der im Rechtsstreit und im Verwaltungsverfahren tätig gewesenen Gutachter und auch kein anderer Arzt ausdrücklich die Auffassung vertreten hat, die Klägerin sei beginnend im Juni 1981 auf nicht absehbare Zeit, dh ununterbrochen für mehr als 26 Wochen (vgl BSG SozR 2200 § 1247 Nr 16), leistungsunfähig gewesen. Die Grundlage für die nach Ansicht des LSG "richtige Auslegung" der im Rechtsstreit eingeholten Gutachten hat das Berufungsgericht darin gefunden, daß bis zum Erlaß des Rentenbewilligungsbescheides vom 26. Juli 1983 die Äußerungen der Klägerin und die der Ärzte "ein einheitliches Bild" ergeben hätten, während das spätere Vorbringen der Klägerin offensichtlich zweckgerichtet gewesen sei. Hiervon ausgehend hat es den Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles in erster Linie anhand der Angabe der Klägerin in der Anlage zum Rentenantrag, einer weiteren Äußerung der Klägerin aus dem März 1983, von zwei Behandlungsmitteilungen des Dr. U. und der seit dem 16. Juni 1981 lückenlos ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen bestimmt. Dabei hat es die in der dem Rentenantrag beigefügten Bescheinigung der Frau Dr. E. vom 12. November 1981 enthaltene Angabe, die Klägerin fühle sich ihrer Arbeit nicht gewachsen, ausdrücklich im Zusammenhang mit der Antwort der Klägerin in der Anlage zum Rentenantrag so ausgelegt, sie habe sich seit Juni 1981 zu jeglicher Tätigkeit als Bankkauffrau außerstande gesehen. Das vom Berufungsgericht angenommene "einheitliche Bild" der Äußerungen der Klägerin und der behandelnden Ärzte bis zur Klageerhebung bestände nicht mehr, wenn die Annahme des LSG nicht zuträfe, die Klägerin habe sich bei der Antragstellung als seit Juni 1981 völlig leistungsunfähig bezeichnet. Es ist nicht auszuschließen, daß die Vorinstanz ohne diese Annahme einen anderen Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles festgestellt hätte. Da es dem Revisionsgericht aber grundsätzlich verwehrt ist, eine eigene Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des Berufungsgerichts zu setzen, ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Das LSG wird bei der erneuten Prüfung zu beachten haben, daß eine Bankkauffrau nicht in jedem Fall schon dann eu ist, wenn arbeitsplatzbedingte Umstände ein Leiden derart verschlimmern, daß sie ihren bisherigen Beruf nicht mehr an dieser Arbeitsstelle, uU aber noch bei einem anderen Arbeitgeber verrichten kann. Ferner wird das Berufungsgericht zu prüfen haben, ob es seine Überzeugungsbildung fehlerfrei auf die "Gutachten" des Professor Dr. I. und des Chefarztes Dr. T. wird stützen dürfen (vgl BSG SozR Nr 42 zu § 128 SGG).
Das LSG wird abschließend über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen