Leitsatz (redaktionell)
Ein LSG prüft den Streitfall im gleichen Umfang wie ein SG und hat hierbei auch neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel zu berücksichtigen, selbst wenn über den neuen Streitstoff weder von der Verwaltungsbehörde noch vom SG entschieden worden war.
Normenkette
SGG § 157 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 10. Januar 1956 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Celle zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Landesversicherungsanstalt Hannover, Außenstelle Oldenburg, bewilligte dem Kläger auf Grund des Gesetzes über Leistungen an Körperbeschädigte (KBLG) mit Bescheid vom 31. Oktober 1950, das Versorgungsamt Oldenburg auf Grund des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) mit Umanerkennungsbescheid vom 6. Februar 1952 eine Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 30 v.H. Als Leistungsgrund wurde hierbei anerkannt "Bronchialasthma mit Neigung zu asthmatischen Beschwerden im Sinne einer einmaligen, nicht richtunggebenden Verschlimmerung". Der Einspruch des Klägers gegen beide Bescheide wurde vom Beschwerdeausschuß für den Versorgungsamtsbezirk Oldenburg mit Entscheidung vom 20. Juli 1953 zurückgewiesen. Mit der Berufung alten Rechts, die am 1.1.1954 als Klage auf das Sozialgericht (SG.) Aurich überging, begehrte der Kläger, den Beklagten zu verurteilen, ihm eine höhere Rente zu gewähren. Das SG. wies mit Urteil vom 2. Juli 1954 die Klage als unbegründet ab.
Gegen dieses Urteil legte der Kläger Berufung zum Landessozialgericht (LSG.) Celle ein. Nach der Darstellung des LSG. in der Urteilsbegründung begehrte er die Anerkennung bestimmter Gesundheitsstörungen und die Zuerkennung einer höheren Rente. Das LSG. wies die Berufung des Klägers mit Urteil vom 10. Januar 1956 zurück. Es befaßte sich in der Urteilsbegründung mit den vom Kläger vorgebrachten Leiden und führte hierzu im einzelnen aus: Für die Anerkennung einer "richtunggebenden" Verschlimmerung des Bronchialkatarrhs, der bisher im Sinne einer einmaligen, nicht richtunggebenden Verschlimmerung anerkannt war, bestehe kein Rechtsschutzinteresse des Klägers. Die MDE. infolge der Bronchitis sei mit 30 % ausreichend bewertet. Der Kläger habe seinen Antrag, das Platt-Knick-Spreizfußleiden als Schädigungsfolge anzuerkennen, schon vor dem Beschwerdeausschuß fallen lassen; der ablehnende Bescheid vom 31. Oktober 1950 sei daher insoweit rechtsverbindlich geworden. Das SG. habe sich wegen der eingetretenen Rechtskraft nicht mehr mit diesem Leiden befassen dürfen. Wegen des Herzleidens habe der Kläger vor dem SG. keinen Antrag mehr gestellt; insoweit komme sein Verhalten der Zurücknahme seiner Klage gleich. Über die Frage, ob Rheumatismus in den Kniegelenken Folgen eines Sturzes auf den Kopf und Magenbeschwerden Schädigungsfolgen sind, sei bisher weder von der Verwaltungsbehörde noch vom SG. entschieden worden, weshalb diese Frage der sachlichen Prüfung durch das LSG. entzogen sei. Der Kläger mache hierdurch völlig neue Ansprüche geltend, die nicht den Tatbestand einer zulässigen Klageänderung im Sinne des § 99 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erfüllten. Es sei unzulässig, neue Ansprüche erst in der Berufungsinstanz geltend zu machen.
Gegen das am 4. Februar 1956 zugestellte Urteil des LSG. hat der Kläger mit Schriftsatz vom 28. Februar 1956 - beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangen am 29. Februar 1956 - Revision eingelegt und beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen. In der Revisionsbegründungsschrift vom 21. März 1956 - eingegangen am 22. März 1956 - rügt der Kläger, das LSG. habe den Sachverhalt nur mangelhaft aufgeklärt und deshalb die Vorschriften in den §§ 103 und 106 SGG verletzt. Das Gutachten von Prof. Dr. Hessel vom 14. Dezember 1953, auf das sich die Beurteilung des Bronchialasthmas durch das LSG. stütze, sei nicht schlüssig; das LSG. hätte deshalb ein weiteres Gutachten einholen müssen. Bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhanges zwischen dem Asthma und dem Militärdienst (§ 1 BVG in Verb. mit § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG) habe das LSG. das Gesetz verletzt, weil es verkannt habe, daß die häufigen Erkältungskrankheiten des Klägers in russischer Kriegsgefangenschaft im weiteren Verlauf des Asthmaleidens die entscheidende Wendung herbeigeführt haben und somit als wesentliche Ursache für den gesamten weiteren Krankheitsverlauf angesehen werden müßten. Schließlich rügt der Kläger, daß das LSG. wegen der Magenbeschwerden und wegen der Folgen des Sturzes auf den Kopf keine Ermittelungen angestellt und daß es diese Schädigungsfolgen nicht zum Gegenstand der Urteilsfindung gemacht habe.
Der Beklagte stellte in der mündlichen Verhandlung keinen Antrag.
Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision (§ 164 SGG) ist statthaft, weil der Kläger einen wesentlichen Verfahrensmangel gerügt hat, der tatsächlich vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Der Kläger rügt mit Recht, daß das LSG. seine Prüfung des Sachverhalts nur auf jenen Teil der Schädigungsfolgen beschränkte, auf die er sich im ersten Rechtszug berufen hatte. Nach § 157 SGG prüft das LSG. den Streitfall im gleichen Umfang wie das SG.; es hat hierbei auch neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel zu berücksichtigen. In der Revisionsbegründung ist der § 157 SGG nicht ausdrücklich als die verletzte Rechtsnorm angeführt. Der Kläger hat aber in der Revisionsbegründungsschrift die Auffassung des LSG., daß es über die Frage, ob die Folgen eines Sturzes auf den Kopf und Magenbeschwerden als Schädigungsfolgen anzuerkennen sind, nicht entscheiden dürfe, hinreichend deutlich als irrig bezeichnet. Das LSG. hat diese Frage in seine sachlich-rechtliche Beurteilung nicht miteinbezogen, weil über diesen Streitstoff im vorangegangenen Verfahren weder von der Verwaltungsbehörde noch vom Sozialgericht entschieden worden war. Dies trifft zwar zu, jedoch vereinbart sich der hieraus vom LSG. gezogene Schluß nicht mit der Pflicht des Gerichts, den gesamten Streitstoff zu prüfen und seiner Entscheidung zugrunde zu legen (§ 157 SGG). Wie in dem Urteil des erkennenden Senats vom 11. Februar 1958 - 10 RV 657/56 - näher begründet ist, hat auch das Berufungsgericht alle Gesundheitsstörungen, die der Versorgungsberechtigte zur Begründung seines Anspruches auf eine höhere Rente als die ihm bewilligte geltend macht, daraufhin zu prüfen, ob sie vorliegen, ob sie Schädigungsfolgen i.S. des BVG sind und in welchem Grade sie insgesamt die Erwerbsfähigkeit mindern. Die Auffassung des LSG., daß der Kläger mit seinem im Berufungsverfahren erhobenen Antrag, rheumatische Beschwerden und eine Kopfverletzung als Schädigungsfolgen anzuerkennen, "völlig neue Ansprüche geltend gemacht habe, die nicht den Tatbestand einer zulässigen Klageänderung i.S. des § 99 SGG erfüllen", ist unrichtig. Der Kläger, der bisher keine Feststellungklage erhoben hat, sondern nur eine Anfechtungs- und Leistungsklage, hat auch im Berufungsverfahren nicht eine förmliche Feststellung neuer Leiden begehrt, sondern nur die Anerkennung gewisser Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen und als Grundlage seines Klagebegehrens. Alles, was der Kläger im Berufungsverfahren in Bezug auf seinen Krankheitszustand vorgebracht hat, sei es erstmals oder wiederholt, hatte nur den Zweck, gegenüber dem Gericht zu begründen daß der mit der Leistungsklage verfolgte Anspruch auf Zuerkennung einer höheren Rente ihm zusteht.
Das Verfahren des LSG. verstößt gegen § 157 SGG und leidet mithin an einem wesentlichen Mangel. Die Revision ist daher zulässig. Sie ist auch begründet, da das angefochtene Urteil auf diesem Mangel beruht (§ 162 Abs. 2 SGG). Das Berufungsurteil mußte daher nach § 170 Abs. 2 SGG aufgehoben werden. Die Zurückverweisung der Sache an das LSG. war notwendig, weil das BSG. nicht selbst entscheiden kennte. Das LSG. wird nach der erneuten Verhandlung darüber zu entscheiden haben, ob das Asthma, das Fußleiden, der Herzschaden, das Rheuma, die Kopfverletzung und die Magenbeschwerden des Klägers seinen Anspruch rechtfertigen, auch wenn der Kläger das eine oder andere Leiden erst im Berufungsverfahren geltend gemacht oder in einem früheren Abschnitt des Verfahrens unerwähnt gelassen hat. Diese Entscheidung entfällt nicht hinsichtlich des Fuß- und Herzleidens. Die Annahme des LSG., der angefochtene Bescheid vom 31. Oktober 1950 sei teilweise - in Bezug auf das Fußleiden - rechtskräftig geworden und der Kläger habe seine Klage teilweise - in Bezug auf das Herzleiden - zurückgenommen, trifft nach dem Vorhergesagten nicht zu; denn die Leiden sind vom Kläger nur zur Begründung seines Anspruchs vorgebracht, und der Streitgegenstand, die Zuerkennung einer höheren Rente, ist während des ganzen Verfahrens unverändert geblieben. Auch hinsichtlich des Bronchialasthmas wird das LSG. nochmals zu beurteilen haben, in welchem Grade durch dieses Leiden die Erwerbsfähigkeit des Klägers gemindert und hierdurch die Höhe seiner Rente beeinflußt wird. Dabei wird das LSG. zu prüfen haben, ob im Hinblick auf das Verlangen einer höheren Rente oder im Hinblick auf die Begründung der angefochtenen Bescheide (Bronchialasthma als Schädigungsfolge im Sinne einmaliger Verschlimmerung) dem Begehren des Klägers, das Bronchialasthma im Sinne der Entstehung anzuerkennen, eine rechtliche Bedeutung zukommt.
Die Entscheidung über die Erstattung außergerichtlicher Kosten bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten
Fundstellen