Leitsatz (redaktionell)
Unberechtigte Ablehnung eines Antrags nach SGG § 109 als wesentlicher Verfahrensmangel.
Normenkette
SGG § 109 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03, § 150 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 14. Juli 1960 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Mit Bescheid vom 21. Juni 1956 stellte das Versorgungsamt G... bei dem Kläger "1. Gebrauchsbehinderung der rechten Hand infolge psychogener Fixierung einer abgeklungenen Schädigung des Ellennervs, 2. reizlose Narben am rechten Ohr, am Unterbauch, in der Kreuzgegend, am rechten Unterarm, am linken Daumen und am linken Bein" als Schädigungsfolgen im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) fest; eine Versorgungsrente gewährte es dem Kläger nicht, weil er durch die (anerkannten) Gesundheitsstörungen nicht um wenigstens 25 v. H. in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert sei. Das Versorgungsamt führte ferner aus, Durchblutungsstörungen der Herzkranzgefäße seien bei dem Kläger nicht festzustellen, Folgen eines Fleckfiebers lägen nicht vor, die Blutdruckerniedrigung und die leichte Schilddrüsenüberfunktion seien anlagebedingte Leiden.
Den Widerspruch des Klägers wies das Landesversorgungsamt Hessen am 22. September 1956 zurück. Das Sozialgericht (SG) Gießen wies die Klage mit Urteil vom 3. Juni 1957 ab. Mit der Berufung machte der Kläger erneut geltend, daß auch die "Durchblutungsstörung der Herzkranzgefäße" sowie die "hypotonische Dysregulation mit vegetativen Symptomen", die der Facharzt für innere Medizin Dr. R... festgestellt habe, Schädigungsfolgen seien; diese Gesundheitsstörungen seien auf eine Fleckfiebererkrankung, die er im Jahre 1942 an der Ostfront durchgemacht habe, zurückzuführen. Er beantragte, ein Gutachten des Prof. Dr. W... in W... nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einzuholen über die Frage, ob die genannten Gesundheitsstörungen Schädigungsfolgen seien.
Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung des Klägers mit Urteil vom 14. Juli 1960 zurück. Es führte aus, "Durchblutungsstörung der Herzkranzgefäße sowie eine hypotonische Dysregulation" seien nach dem Gutachten des Facharztes für Chirurgie Dr. E... bei dem Kläger nicht festzustellen; für diese "von dem Kläger geklagten, aber objektiv nicht feststellbaren Leiden" sei auch nicht, wie der Kläger angegeben habe, eine Fleckfiebererkrankung verantwortlich; es sei ganz unwahrscheinlich, daß die Krankheit, an der der Kläger nach seinen Angaben im Jahre 1942 an der Ostfront gelitten habe, Fleckfieber gewesen sei; nachdem das LSG fest??? gestellt habe, daß der Kläger keine Fleckfiebererkrankung erlitten habe, sei für ein Gutachten nach § 109 SGG kein Raum mehr.
Das Urteil des LSG wurde dem Kläger am 9. September 1960 zugestellt. Der Kläger legte am 6. Oktober 1960 Revision ein und beantragte,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger begründete die Revision - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist - am 9. Dezember 1960. Er trug vor, das LSG habe die Verfahrensvorschriften der §§ 103 und 109 SGG verletzt.
Der Beklagte beantragte,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Zu Recht rügt der Kläger, das Verfahren des LSG leide an einem wesentlichen Mangel, weil das LSG gegen § 109 SGG verstoßen habe.
Das LSG hat den Antrag des Klägers, Prof. Dr. W... nach § 109 SGG gutachtlich zu hören, abgelehnt, weil "durch eine medizinische Beurteilung, daß die heute bei dem Kläger bestehenden Herzbeschwerden mit Wahrscheinlichkeit auf eine überstandene Fleckfiebererkrankung zurückzuführen seien, für den Kläger nichts gewonnen werde, solange feststehe, daß er kein Fleckfieber gehabt habe". Das LSG ist dabei davon ausgegangen, daß der Kläger für die von ihm "geklagten, aber objektiv nicht feststellbaren Leiden" eine Fleckfiebererkrankung verantwortlich gemacht habe, daß aber nach den Angaben des Klägers über die Art und den Verlauf seiner Erkrankung im Jahre 1942 an der Ostfront "ein Fleckfieber ganz unwahrscheinlich sei". Das LSG hat hiernach den Antrag nach § 109 SGG abgelehnt, weil es die in das Wissen des ärztlichen Sachverständigen gestellte Beweisfrage nicht für erheblich gehalten hat. Diese Beweisfrage ist aber auch nach der sachlich-rechtlichen Auffassung des LSG erheblich gewesen; es ist für die Entscheidung des LSG darauf angekommen, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den "Herzbeschwerden" des Klägers und seinem (unstreitigen) militärischen Dienst besteht (vgl. insoweit Urteil des BSG vom 16. Dezember 1958, SozR Nr. 25 zu § 103 SGG); auf diese Frage (den medizinischen Zusammenhang) hat sich der Antrag nach § 109 SGG auch bezogen. Zu der medizinischen Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs hat auch die Frage gehört, ob der Kläger an einer Fleckfiebererkrankung oder möglicherweise an einer anderen wehrdienstbedingten und für seine jetzigen Herzbeschwerden bedeutsamen Erkrankung gelitten hat. Auch soweit es darauf angekommen ist, aus den Angaben des Klägers und der Zeugen über die Art und den Verlauf der Krankheit, an der der Kläger im Jahre 1942 gelitten hat, sowie aus sonstigen Umständen, Schlüsse darauf zu ziehen, ob der Kläger damals an einer bedeutsamen Erkrankung gelitten hat, hat es sich um eine Frage gehandelt, die zur medizinischen Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs gehört hat.
Die medizinische Beurteilung, ob die "Herzbeschwerden" des Klägers Schädigungsfolgen seien, hat sich darauf erstrecken sollen, wie die Beschwerden des Klägers medizinisch zu diagnostizieren und ursächlich zu erklären seien, sie hat alle damit zusammenhängenden medizinischen Fragen umfassen müssen. Den Antrag, hierüber ein Gutachten nach § 109 SGG einzuholen, hat das LSG nicht deshalb ablehnen dürfen, weil es eine medizinische Einzelfrage, nämlich die Frage, ob der Kläger an einer Fleckfiebererkrankung gelitten habe, bereits als hinreichend geklärt angesehen hat; es hat insoweit keine Feststellung treffen dürfen, ohne die Beweise zu erheben und zu würdigen, die es nach § 109 SGG hat erheben und würdigen müssen.
Wenn das LSG dies nicht getan hat, weil es überzeugt gewesen ist, das Gutachten könne seine Entscheidung nicht mehr beeinflussen, so hat es § 109 SGG verletzt (BSG 2, 255).
In dem Verstoß gegen § 109 SGG liegt ein wesentlicher Mangel des Verfahrens (vgl. auch BSG 2, 255 und 258); der Kläger hat diesen Mangel in der nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG gebotenen Form gerügt. Die Revision ist daher nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Da sie der Kläger frist- und formgerecht eingelegt und begründet hat, ist sie auch zulässig. Die Revision ist auch begründet. Es ist möglich, daß das LSG, wenn es die Verfahrensvorschrift des § 109 SGG richtig anwendet, zu einem anderen Ergebnis kommt. Der Senat kann in der Sache selbst nicht entscheiden, der Sachverhalt ist infolge des Verstoßes des LSG gegen eine verfahrensrechtliche Vorschrift nicht ausreichend geklärt. Die Sache ist daher zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen