Leitsatz (amtlich)
Läßt der Kammervorsitzende des SG nachträglich die Sprungrevision gemäß SGG § 161 Abs 1 S 1 ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter zu, dann ist das Gericht bei diesem Beschluß nicht vorschriftsmäßig besetzt. Gleichwohl ist eine so zustandegekommene Zulassungsentscheidung - jedenfalls noch für eine Übergangszeit - als wirksam anzusehen (vergleiche BSG 1975-12-17 2 RU 77/75 = SozR 1500 § 161 Nr 4).
Leitsatz (redaktionell)
Für den Bezug von flexiblem Altersruhegeld wegen Vollendung des 63. Lebensjahres nach AVG § 25 Abs 1 ist es grundsätzlich rentenschädlich, wenn die bisherige Dauerbeschäftigung über den beabsichtigten Rentenbeginn hinaus einfach 3 Monate lang fortgesetzt wird.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1 Fassung: 1974-07-30, § 161 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1974-07-30; AVG § 25 Abs. 1 Fassung: 1972-10-16; RVO § 1248 Abs. 1 Fassung: 1972-10-16
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Speyer - Zweigstelle Mainz - vom 3. April 1975 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der am 23. Juni 1910 geborene Ehemann der Klägerin war als Verwaltungsangestellter mit einem monatlichen Bruttoarbeitsentgelt von 2.268,- DM tätig. Im März 1973 hatte er bei der Beklagten die Gewährung von Altersruhegeld nach § 25 Abs. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) ab 1. Juli 1973 beantragt; sein Dienstverhältnis sollte am 30. September 1973 enden. Am 3. September 1973 ist er verstorben. Die Klägerin beantragte die Fortsetzung des Verfahrens gemäß § 65 Abs. 2 AVG; die Beklagte lehnte das ab, weil der Versicherungsfall erst am 30. September 1973 eingetreten wäre (Bescheid vom 29. Oktober 1973).
Mit der Klage beansprucht die Klägerin das Altersruhegeld ab 1. Juli bis 3. September 1973. Unter Hinweis auf den vom Arbeitgeber mit ihrem Ehemann am 5. Juni 1973 geschlossenen "Auflösungsvertrag" vertritt sie die Auffassung, daß die Beschäftigung von Juli 1973 an nur noch eine befristete Aushilfe im Sinne des § 25 Abs. 4 Satz 1 Buchst. a AVG gewesen sei.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Im Urteil vom 3. April 1975 hat es ausgeführt: Laut dem Auflösungsvertrag sei die "flexible Altersgrenze" der Grund für die Vereinbarung gewesen, zum 30. September 1973 aus dem Dienst auszuscheiden; der Ehemann der Klägerin habe ab Juli 1973 Altersruhegeld haben wollen. Das Arbeitsverhältnis habe nach Juni 1973 somit auf der Grundlage einer gelegentlichen Beschäftigung ausgeübt werden sollen. Damit seien die Erfordernisse des § 25 Abs. 4 Satz 1 Buchst. a AVG erfüllt.
Der Vorsitzende der Kammer hat durch Beschluß vom 18. Juni 1975 die Revision nach §§ 161, 160 Abs. 2 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen.
Die Beklagte hat die Revision eingelegt. Sie beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie rügt die Verletzung des § 25 Abs. 1 und 4 AVG. Nach Abs. 4 Satz 1 Buchst. a solle neben dem Bezug des Altersruhegeldes nicht schlechthin eine dreimonatige Weiterbeschäftigung zugestanden werden; nur das gelegentliche Tätigwerden bleibe rentenunschädlich; "gelegentlich" sei aber nicht beschäftigt, wer eine langjährige Beschäftigung noch drei Monate fortsetze.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist statthaft. Der Beschluß über die nachträgliche Zulassung der Sprungrevision (§ 161 Abs. 1 Satz 1 SGG) ist zwar allein von dem Vorsitzenden der Kammer des SG erlassen worden. Der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat in seinem Urteil vom 17. Dezember 1975 (SozR 1500 § 161 Nr. 4) bereits dargelegt, daß an derartigen Beschlüssen die ehrenamtlichen Richter mitwirken müssen. Dem sind der 10. Senat (Urteil vom 10. März 1976 - 10 RV 193/75) und der 8. Senat (Urteil vom 30. April 1976 - 8 RU 74/75) gefolgt. Auch der erkennende Senat hält diese Auffassung für zutreffend und schließt sich ihr an. Mit den genannten Senaten kommt er ferner, wenn auch aus anderen Gründen, zu dem Ergebnis, daß gleichwohl die ausgesprochene Zulassung wirksam ist. Dabei hält der erkennende Senat zwar nicht für entscheidend, ob heute noch angesichts der Vorschriften in § 160 Abs. 2 und § 161 Abs. 2 Satz 2 SGG eine Bindung an eine offensichtlich gesetzwidrige Zulassung verneint werden könnte (vgl. dazu Urteil des 9. Senats vom 19. Mai 1976 - 9 RV 216/75, das die Zulassung der Revision als "unbedingt bindend" bezeichnet). Hier geht es nämlich nicht darum, ob die Zulassungsentscheidung unrichtig (offensichtlich unrichtig) war, sondern ob sie fehlerhaft zustandegekommen ist (vgl. hierzu und für das Folgende: Rosenberg-Schwab, Zivilprozeßrecht, 11. Aufl., 1974, § 61 Anm. I bis IV; Baumbach-Lauterbach, ZPO, 32. Aufl., 1974, Übersicht vor § 300 ZPO Anm. 3); der Mangel liegt in der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts. Deswegen kann zwar keine sog. "Nichtentscheidung" angenommen werden; es stellt sich aber die Frage, ob der Zulassungsbeschluß wegen dieses ihm anhaftenden Mangels wirkungslos ist. Die Fälle der Wirkungslosigkeit von Entscheidungen sind in der Rechtsprechung bisher nicht zureichend geklärt, nach Rosenberg-Schwab aaO. S. 312 herrscht hierüber "noch viel Unklarheit und Streit". Eine Feststellung der Wirkungslosigkeit hält der Senat hier jedoch aus mehreren Gründen nicht für gerechtfertigt. Schon der 2. Senat hat darauf hingewiesen, daß eine ausdrückliche gesetzliche Regelung fehlt und daß sich die richtige Besetzung bei nachträglichen Zulassungsbeschlüssen erst aus verschiedenen Auslegungskriterien ergibt. Zumindest bis zur Klärung durch Entscheidungen des BSG bestand somit für die erstinstanzlichen Gerichte erhebliche Unklarheit, wie sie verfahren sollten. Hinzu kommt, daß die nachträglichen Zulassungsbeschlüsse nicht einseitig von einem Beteiligten herbeigeführt werden, vielmehr auch die Zustimmung des Gegners voraussetzen, somit dem Willen aller Beteiligten entsprechen, und schließlich, daß es für die Beteiligten höchst ungewiß wäre, ob und wie sie jetzt noch zur Zulassungsentscheidung einer ordnungsgemäß besetzten ersten Instanz gelangen könnten. Bei Abwägen aller dieser Gesichtspunkte bejaht der Senat - jedenfalls zur Zeit noch (so auch der 8. Senat) - die Wirksamkeit der nur von dem Vorsitzenden erlassenen Beschlüsse nach § 161 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Die Revision ist auch begründet.
Entgegen dem Urteil des SG ist die Klägerin zum Bezug des von ihrem verstorbenen Ehemann gemäß § 25 Abs. 1 AVG idF des Rentenreformgesetzes mit vollendetem 63. Lebensjahr beanspruchten Altersruhegeldes nicht berechtigt (§ 65 Abs. 2 AVG), weil er ab 1. Juli 1973 nicht nur gelegentlich, insbesondere zur Aushilfe für eine Zeitdauer tätig war, die auf nicht mehr als drei Monate nach der Natur der Sache beschränkt zu sein pflegte oder im voraus durch Vertrag beschränkt war (§ 25 Abs. 4 Buchst. a AVG idF des 4. RVÄndG).
Mit dieser Auffassung schließt sich der Senat der bisherigen Rechtsprechung des BSG zu der streitigen Frage an (vgl. SozR 2200 § 1248 Nr. 4; Urteile vom 12. Februar 1975 - 12 RJ 332/74; 24. Oktober 1975 - 5 RJ 112/75; 28. November 1975 - 4 RJ 123/75 und neuerdings vom 29. April 1976 - 4 RJ 97/75). Hiernach ist die Fortsetzung der bisherigen Beschäftigung über den beabsichtigten Rentenbeginn hinaus grundsätzlich rentenschädlich, wenn sie einfach zeitlich auf drei Monate begrenzt ist (SozR aaO). Denn nach § 25 Abs. 4 Buchst. a AVG (= § 1248 Abs. 4 Buchst. a RVO) muß die zeitliche Beschränkung aus der Natur der Sache oder einer vorherigen vertraglichen Vereinbarung herzuleiten sein. Anders als aufgrund einer solchen innewohnenden oder vereinbarten Zeitbegrenzung kann die Beschäftigung keine nur gelegentliche sein, die "insbesondere zur Aushilfe" verrichtet wird. Diese Erfordernisse sind hier indessen nicht gegeben.
Nach den Feststellungen des SG hatte der Ehemann der Klägerin einen "Auflösungsvertrag" geschlossen, der die Dauer des unbefristet laufenden Arbeitsvertrages auf den 30. September 1973 begrenzte. Als Grund für das Ausscheiden ist die "flexible Altersgrenze" genannt. Daß mit diesem Auflösungsvertrag das bestehende Arbeitsverhältnis zum 1. Juli 1973 gekündigt und gleichzeitig eine neue Vereinbarung über ein sich anschließendes bis zum 30. September 1973 befristetes Arbeitsverhältnis getroffen wurde, hat das SG dagegen nicht festgestellt. Deshalb hat es den Vertrag dahin ausgelegt, er habe nach dem Willen der Parteien das Arbeitsverhältnis ab Juli so gestalten sollen, daß es den Ehemann der Klägerin zum Bezug des Altersruhegeldes berechtigte. Sonach hat der Senat von einer mit September 1973 auslaufenden Dauerbeschäftigung auszugehen, die nach den weiteren Feststellungen des SG auch nicht von Juli an nach der Natur der Sache auf drei Monate beschränkt war. Diese Tatsachen lassen die Gewährung von Altersruhegeld nach § 25 Abs. 1 iVm Abs. 4 Buchst. a AVG nicht zu (BSG in SozR aaO; Urteil des 12. Senats des BSG vom 12. Februar 1975 - 12 RJ 332/74).
Etwas anderes könnte auch nicht gelten, wenn der Arbeitsvertrag durch Kündigung beendet und für die Zeit ab Juli 1973 ein neuer befristeter Arbeitsvertrag geschlossen worden wäre. Ob die zeitlich begrenzte Beschäftigung "nur gelegentlich" ausgeübt wird, muß nämlich aus äußeren Umständen erkennbar sein; sie können in der Art der Arbeit, im Umfang und in der Verteilung der täglichen bzw. wöchentlichen Arbeitszeit oder in der Höhe des Entgelts liegen. Wird eine langjährige Beschäftigung ohne wesentlich veränderte Bedingungen fortgesetzt, wird sie jedenfalls nicht nur gelegentlich verrichtet (Urteile des BSG vom 24. Oktober und 28. November 1975 aaO). Das SG hat indessen nicht festgestellt, daß die Arbeitsbedingungen für den Ehemann der Klägerin von Juli 1973 an wesentlich verändert gewesen sind; er ist nach dem Sachverhalt vielmehr seiner Beschäftigung weiterhin in gewohnter Weise nachgegangen.
Hiernach mußte die Revision Erfolg haben.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen