Leitsatz (amtlich)
Die Bindungswirkung des Rentenbescheids erstreckt sich nicht auch auf die darin enthaltene Mitteilung über eine Rentennachzahlung, wenn der an den Berechtigten zur Auszahlung kommende Nachzahlungsbetrag (zB wegen noch nicht geklärter Ersatzanspruch) noch nicht endgültig festgesetzt ist.
Normenkette
RVO § 1631 Abs. 1; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03, § 54 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 27. September 1968 und das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 28. Juni 1967 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin war mit einem Angehörigen der Waffen-SS verheiratet gewesen. Dieser ist am 24. April 1945 gefallen. Sie bezieht deshalb vom Versorgungsamt H Witwenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Außerdem erhält sie aufgrund der fiktiven Nachversicherung des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen (G 131) von der Beklagten Witwenrente aus der Angestelltenversicherung (AnV) seit dem 1.April 1951.
Am 17. März 1965 erging das Gesetz zur Regelung der Verbindlichkeiten nationalsozialistischer Einrichtungen und der Rechtsverhältnisse an deren Vermögen (NS-AbwG, BGBl I 79). Durch Art. XII des Dritten Gesetzes zur Änderung beamtenrechtlicher und besoldungsrechtlicher Vorschriften vom 31. August 1965 (BGBl I 1007) wurde in das vorgenannte Gesetz der § 23 a eingefügt, wodurch weitere Dienstzeiten des früheren Ehemannes der Klägerin als nachversichert galten; diese Regelung galt nach Art. XV mit Wirkung vom 1. April 1965 an.
Aufgrund der erwähnten gesetzlichen Regelungen berechnete die Beklagte die Rente der Klägerin durch Bescheid vom 14. November 1966 neu. Dabei ergab sich einmal statt einer monatlichen Rente von bisher 242,30 DM eine solche von nunmehr 385,30 DM vom 1. Januar 1967 an. Außerdem aber ging die Beklagte irrtümlich davon aus, daß die Neuregelung bereits mit Wirkung vom 1. April 1951 an gelte. Sie errechnete deshalb eine Rentenleistung von insgesamt 38.810,20 DM für die Zeit bis zum 31. Dezember 1966, worauf 25.321,10 DM bereits gezahlt waren. Gleichwohl wurde die Differenz nicht als Auszahlungsbetrag festgestellt und in die dafür vorgesehene Spalte im Rentenbescheid eingetragen. Dazu heißt es in dem Bescheid, das sei nicht möglich, weil zunächst noch etwaige Ersatzansprüche anderer Stellen befriedigt werden müßten; nach Klärung der Sachlage erfolge sofortige Verrechnung bzw. Auszahlung.
Mit Schreiben vom 7. Dezember 1966 meldete darauf das Versorgungsamt einen Erstattungsanspruch in Höhe von 2.279,- DM an.
Durch Bescheid vom 15. Dezember 1966 teilte die Beklagte der Klägerin mit, daß die nach § 23 a NS-AbwG erhöhte Leistung frühestens vom 1. April 1965 an zu gewähren sei. In Abänderung des Bescheides vom 14. November 1966 ergebe sich somit eine Nachzahlung nur für die Zeit vom 1. April 1965 bis 31. Dezember 1966, und zwar in Höhe von 2.904,- DM; auch sie werde für einen etwaigen Erstattungsanspruch des Versorgungsamts Hamburg einbehalten. Nachdem dieses sodann seinen Erstattungsanspruch anderweitig auf 1.008,- DM berechnet hatte, wurde schließlich der verbleibende Differenzbetrag von 1.896,- DM Anfang März 1967 an die Klägerin ausgezahlt.
Inzwischen hatte diese bereits Klage erhoben, zunächst mit dem Antrage,
den Bescheid vom 15. Dezember 1966 ersatzlos aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an sie DM 11.210,10 zu zahlen.
Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat im Verfahren nach § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), in dem es davon ausging, der Klageantrag gehe nach Aktenlage dahin, den Bescheid vom 15. Dezember 1966 aufzuheben, der Klage durch Urteil vom 28. Juni 1967 stattgegeben. Die hiergegen von der Beklagten eingelegte Berufung mit dem Antrage, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen, ist vom Landessozialgericht (LSG) Hamburg nach mündlicher Verhandlung durch Urteil vom 27. September 1968 zurückgewiesen worden. Die Vorinstanzen sind übereinstimmend der Auffassung, die in dem bindend gewordenen Bescheid vom 14. November 1966 festgestellte Rentennachzahlung beruhe hinsichtlich der Zeit vom 1. April 1951 bis 31. März 1965 zweifelsfrei auf einer fehlerhaften Anwendung der §§ 21, 23 a, 34 NS-AbwG. Eine höhere Rente habe der Klägerin erst ab 1.April 1965 zugestanden. Der angefochtene Bescheid vom 15. Dezember 1966 enthalte daher die teilweise Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes. Das sei nur unter den Voraussetzungen des § 1744 RVO möglich, die aber unstreitig nicht gegeben seien. Entgegen der Ansicht der Beklagten könne auch nicht von einem berichtigungsfähigen Berechnungsfaktor gesprochen werden. Eine analoge Anwendung des § 138 SGG scheide aus. Nach den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen seien nur Fehler im Ausdruck des Willens, nicht aber Fehler bei der Bildung des Willens als offenbare Unrichtigkeiten einer Berichtigung zugänglich. Nach § 77 SGG sei somit der fehlerhafte Verwaltungsakt vom 14. November 1966 für die Beteiligten bindend. Zwar sei nicht zu verkennen, daß in manchen Fällen die Berufung auf § 77 SGG als Verstoß gegen Treu und Glauben oder als Rechtsmißbrauch empfunden werden könne. Der Gesetzgeber habe aber diese Regelung in Kauf genommen, und die Rechtsprechung habe insoweit, jedenfalls soweit es sich um den Versicherten handele, eine Berufung auf einen Rechtsmißbrauch nicht zugelassen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu § 77 SGG könne die Beklagte den unrichtigen Bescheid vom 14. November 1966 nicht zu Ungunsten der Klägerin ändern.
Hiergegen hat die Beklagte die vom LSG zugelassene Revision eingelegt mit dem Antrage,
das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG Hamburg vom 28. Juni 1967 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Zwar lägen die Voraussetzungen des § 1744 RVO nicht vor. Das LSG habe jedoch § 77 SGG verkannt. Sein Sinn und Zweck erforderten es nicht, die Bindungswirkung auch insoweit zu erstrecken, als es nicht um die Erhöhung der laufenden Rente für die Zukunft, sondern um die Rentenerhöhung für abgeschlossene, in der Vergangenheit liegende Zeiträume gehe, für die die falsch errechnete Nachzahlung noch nicht ausgezahlt worden sei. Indem das LSG die Bindungswirkung des Bescheides vom 14. November 1966 auch hierauf erstreckt habe, habe es die sich bereits aus dem Sinn und Zweck des § 77 SGG ergebenden Grenzen dieser Vorschrift nicht beachtet und sie losgelöst von ihrem zugrundeliegenden Zweck betrachtet und angewendet. Außerdem habe das LSG mit seiner Auslegung entgegen der ständigen Rechtsprechung des BSG die Bindungswirkung auch auf die Berechnungsfaktoren einer Rente erstreckt. In Bindung erwachse nur die Entscheidung über den geltend gemachten Rentenanspruch nach Art, Dauer und Höhe. Zwar gehöre hierzu bei der Erstfeststellung einer Rente auch deren Beginn. Anders sei es aber bei einer späteren Neuberechnung. Dann habe der Rentenbeginn weitgehend nur noch die Bedeutung eines berichtigungsfähigen Berechnungselementes. Schließlich hätte das LSG noch § 138 SGG unrichtig angewendet.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig. Im Hinblick auf § 77 SGG sei die Rechtslage eindeutig. Das Gesetz habe mit dieser Bestimmung bewußt auch rechtspolitisch unbefriedigende Ergebnisse in Kauf genommen. Der Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung seien dem Grundsatz der Rechtssicherheit nachgeordnet worden. Davon, daß lediglich ein Berechnungsfaktor berichtigt worden sei, könne keine Rede sein. Die aus dem Bescheid vom 14. November 1966 sich ergebende Nachzahlung sei leicht zu errechnen gewesen und unantastbar. In ihm sei klar zum Ausdruck gebracht worden, daß lediglich noch zu klären sei, was von der errechneten und festgestellten Summe der Klägerin zustehe und was an das Versorgungsamt abzuführen sei. Ein Fall des § 138 SGG liege nicht vor. Die Beklagte habe somit 11.210,- DM nachzuzahlen.
II
Die Vorinstanzen sind davon ausgegangen, daß die Klägerin ausschließlich eine Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG erhoben hat, und zwar gegen den Bescheid vom 15. Dezember 1966, der ein Verwaltungsakt sei. Diese Auffassung ist nicht unbedenklich. In dem genannten Bescheid könnte man auch nur eine Mitteilung der Beklagten sehen, daß die Rente für die Vergangenheit falsch berechnet worden sei, und wie sie richtig zu berechnen wäre, und daß die danach sich ergebende Nachzahlung bis zur Klärung der Ersatzansprüche des Versorgungsamts einbehalten werde. Alsdann hätte die Beklagte ihre Zahlungsverpflichtung gegenüber der Klägerin noch nicht endgültig geregelt. Es würde sich somit auch um keinen Verwaltungsakt handeln, so daß die Klage als unzulässig hätte abgewiesen werden müssen (vgl. das Urteil vom 15. Februar 1966 - 11 RA 289/65 -, insoweit in BSG 24, 236, 237 nicht abgedruckt, wohl aber u.a. in DAngVers 1966, 70). Der streitige Bescheid muß jedoch im Zusammenhang mit der Auszahlung des Restbetrages gesehen werden, der nach Ermittlung des Ersatzanspruchs des Versorgungsamts verblieb. Dieser Vorgang i.V. mit dem angefochtenen Bescheid stellt jedenfalls den die Klägerin belastenden Verwaltungsakt dar (BSG 25, 181, 182). Seine Rechtmäßigkeit beurteilt sich danach, ob die Beklagte nach dem Erlaß ihres Bescheides vom 14. November 1966 die Nachzahlung noch anderweitig berechnen konnte.
Diese Frage ist im Gegensatz zur Auffassung der Vorinstanzen zu bejahen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG erstreckt sich die Bindungswirkung eines Rentenbescheides in den gesetzlichen Rentenversicherungen entsprechend der Rechtskraftwirkung bei gerichtlichen Urteilen nur auf die Höhe und Dauer der Rente und allenfalls noch auf ihre Art. Die Bindungswirkung nach § 77 SGG bezieht sich dagegen weder auf die rechtliche Beurteilung von Vorfragen noch auf die dem Bescheid zu Grunde gelegten Erwägungen und insbesondere nicht auf die Berechnungsfaktoren der Rente (vgl. u.a. BSG 26, 266, 269). Von dieser Auffassung abzugehen, besteht kein Anlaß, da es sich dabei um einen allgemeinen Grundsatz des Verwaltungsrechts handelt (vgl. u.a. Schroecker in NJW 1968, 2035). Insoweit kann auch für die gesetzliche Rentenversicherung nichts anderes gelten.
In dem Bescheid vom 14. November 1966 war die der Klägerin zustehende Nachzahlung noch nicht bindend festgesetzt worden. Die Beklagte hatte zu beachten und hat auch berücksichtigt, daß nach § 71 b BVG u.a. Ansprüche des Versorgungsberechtigten gegen einen Träger der Sozialversicherung insoweit auf die zuständige Verwaltungsbehörde der Kriegsopferversorgung übergehen, als sie zur Minderung oder zum Wegfall der Versorgungsbezüge führen. Hierbei handelt es sich um einen gesetzlichen Forderungsübergang, der nicht von einer entsprechenden schriftlichen Anzeige abhängig ist (vgl. Wilke, Komm. zum BVG, 3. Aufl., § 71 b Erl. I). Deshalb konnte die Beklagte der Klägerin gegenüber die Nachzahlung noch nicht feststellen, bevor nicht geklärt war, inwieweit die Verwaltungsbehörde der Kriegsopferversorgung noch forderungsberechtigt war. Denn die Höhe der Hinterbliebenenrente beeinflußte die Höhe der Ausgleichsrente. Zugleich muß davon ausgegangen werden, daß die Beklagte diese Rechtslage beachten und nicht etwas aussprechen wollte, was sie zur Zeit noch nicht tun durfte. Dementsprechend enthält der Bescheid der Beklagten vom 14. November 1966 auch nicht den der Klägerin endgültig zustehenden Betrag der Rentennachzahlung, vielmehr blieb die dafür im Rentenbescheid vorgesehene Spalte ohne Eintragung. Diesem Sachverhalt haben die Vorinstanzen nicht genügend Rechnung getragen.
Die in dem Bescheid vom 14. November 1966 enthaltene Mitteilung, der Klägerin stünden für die Zeit bis zum 31. Dezember 1966 Rentenzahlungen im Betrage von insgesamt 38.810,20 DM zu, woraus sich diese die ihr vermeintlich zustehende Nachzahlung errechnet hat, kann deshalb auch nicht etwa mit einem Grundurteil entsprechend § 304 der Zivilprozeßordnung (ZPO) oder § 130 SGG verglichen oder als Zusage einer Rentennachzahlung auf Grund feststehender Berechnungsfaktoren angesehen werden. Vielmehr ist das "Anerkenntnis" in dem Bescheid vom 14. November 1966 lediglich dahin zu verstehen, daß damit eine Nachzahlung erst in Aussicht gestellt wurde. Es handelte sich insoweit lediglich um die Ankündigung einer zu erwartenden Nachzahlung unter ziffernmäßiger Angabe der bisher berechneten Beträge. Da die Begründung jedoch einschließlich der etwa mitgeteilten Berechnungsfaktoren aus den oben angeführten Gründen nicht zum Verfügungssatz gehört, nahm auch der aufgeführte Ausgangsbetrag für die zu erwartende Nachzahlung nicht an der Bindungswirkung des Bescheides (§ 77 SGG) teil.
Damit konnte die Beklagte die endgültige Berechnung der Rentennachzahlung noch richtigstellen. Der angefochtene Bescheid und die Auszahlung des berichtigten Betrages sind deshalb nicht zu beanstanden, sie bedeuteten keine Verletzung des § 77 SGG.
Danach muß die Revision schon aus diesem Grunde den aus der Urteilsformel ersichtlichen Erfolg haben, ohne daß es noch auf das übrige Vorbringen der Beteiligten ankäme.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen