Leitsatz (amtlich)
Für die Bemessung des Arbeitslosengeldes ist der letzte Lohnabrechnungszeitraum dann nicht zwingende Grundlage, wenn der Betroffene gerade in dieser Zeitspanne aus Krankheitsgründen ein erheblich niedrigeres Entgelt, jedoch nicht den zuvor jahrelang erzielten weit höheren Monatsverdienst erhalten hat. Alsdann können die Grundsätze des Härteausgleichs nach AVAVG § 90 Abs 7 entsprechend angewendet werden.
Normenkette
AVAVG § 90 Abs. 1 Fassung: 1959-12-07, Abs. 2 Fassung: 1959-12-07, Abs. 3 Fassung: 1959-12-07, Abs. 7 Fassung: 1959-12-07
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. April 1964 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Der 1895 geborene, inzwischen verstorbene Vater der Klägerin (M.) war von Ende 1955 bis Juni 1960 bei einer Fahrschule in M als Fahrlehrer beschäftigt. Er erhielt laut Anstellungsvertrag ein monatliches Festgehalt von 300,- DM und außerdem für jede abgeleistete Fahr- oder Unterrichtsstunde 2,50 DM brutto. Ferner war vereinbart, daß er im Fall unverschuldeter Krankheit sein Gehalt für die Dauer von zwei Monaten weiter beziehen sollte. M. war zuletzt ab 2. März 1960 dienstunfähig krank und gab schließlich sein Arbeitsverhältnis am 30. Juni 1960 auf. Für die Monate März und April 1960 erhielt er von seinem Arbeitgeber jeweils noch das Festgehalt von 300,- DM. Nachdem er wieder arbeitsfähig war, meldete sich M. am 2. September 1960 arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld (Alg.) Der Arbeitsamtsarzt war der Auffassung, daß er nur noch für leichte sitzende und stehende Tätigkeit, zB Büroarbeiten, vermittlungsfähig sei. Das Arbeitsamt gewährte ihm ab 5. September 1960 ein Alg von wöchentlich 31,50 DM, dessen Berechnung es das im Monat April erhaltene Entgelt von 300,- DM zugrunde gelegt hatte. Der Widerspruch des M. hatte keinen Erfolg.
Auf Klage hin wurde die beklagte Bundesanstalt verurteilt, vom 5. bis 27. September 1960 Alg unter Zugrundelegung eines täglichen Arbeitsverdienstes von 25,- DM zu gewähren. In der Begründung führte das Sozialgericht (SG) aus, die Krankheitszeit des M. sei keine Beschäftigungszeit gewesen, sondern ein Zeitraum, in dem der Arbeitgeber Geld aus einem anderen Rechtsgrund (vertragliche Abmachung) gewährt habe. Somit laufe der Bemessungszeitraum rückwirkend vom 1. März 1960 an und damals habe M. mehr als 750,- DM monatlich verdient. Im übrigen träfen aber auch die Voraussetzungen des § 90 Abs. 7 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) zu, so daß ebenfalls von einem täglichen Arbeitsverdienst von 25,- DM auszugehen sei Berufung wurde zugelassen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die von der Beklagten eingelegte Berufung als unbegründet zurückgewiesen. Bemessungszeitraum seien die letzten zwanzig Tage des Monats April, weil M. nach dem Anstellungsvertrag im Falle unverschuldeter Krankheit jedenfalls für die Dauer von zwei Monaten noch Anspruch auf Gehalt hätte. Dabei sei der Bemessung des Alg nicht das tatsächlich erhaltene Fixum von 300,- DM, sondern das Entgelt zugrunde zu legen, auf das im Bemessungszeitraum ein Anspruch bestand. Nach § 616 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) habe M. Anspruch auf das volle Gehalt gehabt, das auf über 750,- DM anzusetzen sei, wie sein vor der Erkrankung erzielter Durchschnittsverdienst zeige. Deshalb müsse von einem täglichen Arbeitsverdienst von 25,- DM ausgegangen werden.
Revision wurde zugelassen.
Die Beklagte legte Revision ein und beantragte,
das angefochtene Urteil des LSG vom 29. April 1964 sowie das Urteil des SG vom 14. April 1961 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Sie ist der Auffassung, für die Bemessung des Alg könne nur von dem Betrag, den dieser im Bemessungszeitraum tatsächlich erhalten habe (300,- DM), ausgegangen werden. Der Begriff "Arbeitsentgelt" in § 90 Abs. 1 AVAVG sei in enger Anlehnung an § 160 der Reichsversicherungsordnung (RVO) auszulegen. Als Arbeitsentgelt sei deshalb nur das Entgelt anzusehen, das für die Berechnung der Beiträge zur Sozialversicherung maßgebend sei. Nach § 19 Abs. 1 Satz 1 der Zweiten Lohnabzugsverordnung vom 24. April 1942 i. V. m. dem gemeinsamen Erlaß über weitere Vereinfachung des Lohnabzugs vom 10. September 1944 würden die Beiträge zur Sozialversicherung grundsätzlich von dem Betrag berechnet, der für die Berechnung der Lohnsteuer maßgebend ist. Danach bestimme sich das Entgelt im Sinne der Sozialversicherung nach den Vorschriften des Lohnsteuerrechts. Nach § 1 Abs. 3 Nr. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG), § 2 Abs. 1 der Lohnsteuerdurchführungsverordnung (LStDV) seien lohnsteuerpflichtig alle Einnahmen, die dem Arbeitnehmer aus dem Dienstverhältnis zufließen. Es sei unerheblich, ob dem Arbeitnehmer ein arbeitsrechtlicher Anspruch auf höheres Entgelt zustehe. Solange er keine Verfügungsgewalt darüber habe, bestehe keine Lohnsteuer- und keine Beitragspflicht. Aus diesem Grunde könne auch nur der tatsächlich erhaltene Betrag - der lohnsteuer- und beitragspflichtig ist - als Arbeitsentgelt im Sinne des § 90 Abs. 1 AVAVG der Berechnung des Alg zugrunde gelegt werden. Hier sei auch § 90 Abs. 7 AVAVG nicht anwendbar, denn diese Vorschrift setze voraus, daß der Arbeitslose im Bemessungszeitraum eine andere Tätigkeit als in den letzten drei Jahren vor der Arbeitslosmeldung überwiegend ausgeübt habe. Unabhängig davon wäre auch bei einer Anwendung der Härteregelung des § 90 Abs. 7 AVAVG für M. nur von einem Bemessungsentgelt von 337,25 DM zuzüglich 20,- DM Haushaltszulagen auszugehen, weil er seinem Lebensalter und seinem Leistungsvermögen nach unter billiger Berücksichtigung seines Berufs lediglich noch als Hilfskraft im Ersatzteillager einer Autoreparaturwerkstatt hätte tätig sein können.
Während des Revisionsverfahrens ist M. verstorben (15. August 1964). Er wurde von seiner Tochter, der Ehefrau S G-H beerbt; diese hat gemäß § 68 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i. V. m. § 239 der Zivilprozeßordnung (ZPO) den Rechtsstreit aufgenommen (Klägerin und Revisionsbeklagte).
Die Klägerin ist im Verfahren vor dem Revisionsgericht nicht vertreten gewesen.
II. Die nach § 162 Abs. 1 SGG statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Revision ist zulässig (§§ 164, 166 SGG). Zwar war die Klägerin vor dem Bundessozialgericht (BSG) nicht nach der Vorschrift des § 166 SGG durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten. Das Gesetz kennt jedoch für den Revisionsbeklagten keine den § 169 Satz 1 SGG entsprechende Vorschrift. Für die Entscheidung genügt es, dem Revisionsbeklagten nach § 110 SGG Ort und Zeit der mündlichen Verhandlung mitzuteilen (vgl. BSG 3, 106, 109; Peters/Sautter/Wolff, § 166 III, 82-1).
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Nach § 90 Abs. 1 und 3 AVAVG idF vom 7. Dezember 1959 (BGBl I 705) bemißt sich der Hauptbetrag des Alg nach dem im Bemessungszeitraum durchschnittlich erzielten Arbeitsentgelt.
Bemessungszeitraum sind nach § 90 Abs. 2 AVAVG die letzten, insgesamt zwanzig Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt umfassenden Lohnabrechnungszeiträume der versicherungspflichtigen Beschäftigung, durch die die Anwartschaftszeit erfüllt wird. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG liegt ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis dann vor, wenn der dem Arbeitgeber rechtlich und tatsächlich zur Verfügung stehende Arbeitnehmer in persönlicher Abhängigkeit Dienstleistungen gegen Entgelt erbringt (BSG 1, 115, 118; 20, 6, 8). Dabei ist jedoch nicht Voraussetzung, daß der Arbeitnehmer stets eine wirkliche Arbeitsleistung verrichtet. Ein Beschäftigungsverhältnis besteht auch dann fort, wenn es durch eine Zeit der Nichttätigkeit unterbrochen wird, so bei Urlaub, Krankheit oder vorübergehender Betriebsruhe. Allerdings wird in diesen Fällen gefordert, daß sowohl der Arbeitgeber als auch der Arbeitnehmer den Willen haben, das Beschäftigungsverhältnis nach Beendigung der Unterbrechung fortzusetzen, der Arbeitnehmer grundsätzlich dienstbereit ist und der Arbeitgeber grundsätzlich die Verfügungsgewalt über den Arbeitnehmer behält (BSG 1, 115, 119 mit weiteren Fundstellen). Aus § 85 Abs. 1 Satz 2 AVAVG ist zu schließen, daß Krankheitszeiten, in denen Arbeitsentgelt gezahlt wird, als Bemessungszeitraum im Sinne des § 90 Abs. 2 AVAVG der Berechnung des Alg zugrunde zu legen sind, soweit das Beschäftigungsverhältnis fortbesteht, weil diese Zeiten zur Erfüllung der Anwartschaft dienen (BSG, Urteil vom 21. April 1961 - 7 RAr 31/60 -). In Anwendung vorstehender Grundsätze ergibt sich, daß M. und sein Arbeitgeber bereit waren, das Beschäftigungsverhältnis nach Gesundung des M. fortzusetzen. M. war während seiner Krankheit weiterhin dienstbereit und sein Arbeitgeber hatte über ihn ferner die Verfügungsgewalt. Dies geht schon aus der Tatsache hervor, daß nach dem Anstellungsvertrag M. für den Fall der Krankheit das monatliche Fixum für zwei Monate weiter erhalten sollte und auch tatsächlich erhielt. Das Beschäftigungsverhältnis bestand somit im vorliegenden Fall zumindest bis Ende April 1960 fort. Folglich hat auch das LSG die letzten zwanzig Tage des Monats April zutreffend als Bemessungszeitraum angesehen.
Die M. im Bemessungszeitraum vom Arbeitgeber tatsächlich gewährten 300,- DM sind das lohn- und beitragspflichtige Arbeitseinkommen. Soweit ihm allenfalls arbeitsrechtlich etwa ein höherer Gehaltsanspruch (§ 616 BGB) zustehen sollte, bleibt das in diesem Zusammenhang unbeachtlich. Für die Berechnung des Bemessungsentgelts nach § 90 Abs. 1 und 3 AVAVG ist nur das Entgelt, das für die Berechnung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zugrunde zu legen ist, maßgebend. Diese Auffassung entspricht der Entscheidung des erkennenden Senats vom 29. März 1960 - 7 RAr 48/59 - (BSG 12, 55). Dort hatte der Senat festgestellt, daß eine spätere Nachzahlung, auf die der Arbeitslose während seiner Arbeitnehmertätigkeit noch keinen Rechtsanspruch hatte, für die Bemessung des Alg nicht zu berücksichtigen ist. Ein solches Ergebnis steht im Einklang mit der Rechtsprechung des BSG über die beitragsrechtliche Behandlung von rückwirkenden Lohnnachzahlungen (BSG 22, 162, 167). Eine Lohnnachzahlung für die Vergangenheit, auf die der Arbeitnehmer zunächst keinen Anspruch hatte, vermag keine rückwirkende Beitragsberechnung auszulösen; ebensowenig kann sie bei der Berechnung der Bemessungsgrundlage, soweit eine zurückliegende Zeit in Betracht kommt, berücksichtigt werden. Infolgedessen waren lediglich die an M. im April gewährten 300,- DM lohnsteuer- und beitragspflichtig; somit war von diesem Betrag als Arbeitsentgelt nach Wortlaut des § 90 Abs. 3 AVAVG für die Bemessung des Alg auszugehen.
Im vorliegenden Falle erweist sich indessen die Errechnung nach den Regelvorschriften des § 90 AVAVG als "unbillige Härte". Den tatsächlichen Feststellungen des LSG zufolge, die von keiner Seite angegriffen wurden (§ 163 SGG), hatte M. in den seiner Arbeitslosmeldung vorausgegangenen mehr als drei Jahren - jedenfalls seit dem 1. März 1957 - ständig mit seinem Arbeitseinkommen als Fahrlehrer über einer Monatsverdienstgrenze von 750,- DM gelegen. Er wäre also wirtschaftlich hart betroffen sowie erheblich benachteiligt, würde für ihn das Alg allein auf das ihm vom Arbeitgeber für April 1960 gezahlte Fixum von 300,- DM abgestellt. Anerkanntermaßen beinhaltet das Arbeitslosengeld eine soziale Schutz- und Ersatzfunktion für den unverschuldet ausgefallenen Arbeitsverdienst. In entsprechender Anwendung der Grundgedanken aus § 90 Abs. 7 AVAVG hält es hier der Senat daher für gerechtfertigt und geboten, das Arbeitslosengeld nach dem am Wohnort oder Aufenthaltsort des verstorbenen M. maßgeblichen tariflichen oder mangels einer tariflichen Regelung, nach dem ortsüblichen Arbeitsentgelt derjenigen Beschäftigung zu bemessen, für die er nach seinem Lebensalter und seinem Leistungsvermögen unter billiger Berücksichtigung von Beruf und Ausbildung in Betracht kam. Es wird kein sachbedingter oder vernunftgerechter Grund erkennbar, eine solche Vergünstigung (Härteausgleich) auf Arbeitslose zu beschränken, die zuletzt anderweit Berufstätigkeiten verrichtet hatten, die nicht ihrer vordem überwiegend ausgeübten beruflichen Beschäftigung entsprachen. Der Gesetzeswortlaut selbst steht jedenfalls einer entsprechenden Anwendung nicht entgegen. Die amtliche Begründung zur Neufassung des § 90 AVAVG hat vielmehr gerade ausdrücklich darauf hingewiesen, daß für die Zukunft eine "großzügigere Behandlung" bei der Bemessung des Arbeitslosengeldes ermöglicht werden solle (BT-Drucks. Nr. 1240, III. Wahlperiode, S. 14). Offenbar unter dieser Zielsetzung waren die in den vorausgegangenen Fassungen der Vorschrift (§ 105 Abs. 2 AVAVG idF vom 29. März 1951 - BGBl I 219; § 105 Abs. 2 AVAVG idF vom 23. Dezember 1956 - BGBl I 1018; § 90 Abs. 2 AVAVG idF vom 3. April 1957 - BGBl I 322 -) noch enthaltenen Voraussetzungen weggefallen, daß das im Bemessungszeitraum von dem Arbeitslosen bezogene geringere (verminderte) Arbeitsentgelt aus einer berufsfremden oder anderen Tätigkeit, als er bisher überwiegend ausgeübt hatte, herrührt.
Da das LSG von seinem Rechtsstandpunkt aus über die hiernach anzuwendenden tariflichen oder ortsüblichen Entgelte (erzielbares Arbeitsentgelt) tatsächliche Feststellungen nicht getroffen hatte, fehlt es insoweit an der notwendigen Sachaufklärung. Der Senat kann die erforderlichen Feststellungen selbst nicht nachholen. Deshalb mußte das Urteil des Berufungsgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung dorthin zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen