Entscheidungsstichwort (Thema)
Verwirkung eines Leistungsanspruchs in der KOV
Leitsatz (redaktionell)
1. Auch bei unbekanntem Aufenthalt eines Versorgungsberechtigten muß die Versorgungsverwaltung auf die Entziehung der Rente schriftlich - notfalls im Wege der öffentlichen Bekanntmachung - hinweisen, bevor sie von ihrem Recht nach BVG § 63 Gebrauch macht.
2. Zur Verwirkung - als Rechtsinstitut, das sich aus dem umfassenderen und älteren Grundsatz von Treu und Glauben (BGB § 242) entwickelt und auch in das öffentliche Recht Eingang gefunden hat und das auch im Sozialrecht gilt - genügt nicht ohne weiteres bloße Untätigkeit; der Zeitablauf muß vielmehr so lang sein, daß der zur Leistung Verpflichtete nicht mehr mit der Geltendmachung des Anspruchs zu rechnen braucht. Weitere Voraussetzung der Verwirkung ist, daß die Interessen der Rechtspartner gegeneinander abgewogen werden und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwischen dem Verhalten des Berechtigten und dem darauf ergehenden Bescheid der Verwaltung beachtet wird.
Orientierungssatz
Zur Verwirkung eines Leistungsanspruchs in der KOV:
Die Lebensbescheinigung ist nicht eine Bedingung, von der der Anspruch auf Versorgung schlechthin abhängig gemacht ist, sondern nur ein Beweismittel für die Berechtigung.
Normenkette
BVG § 63 Fassung: 1950-12-20; BGB § 242; KOVVfG § 27 Abs. 2 Fassung: 1955-05-02; VwZG § 15 Fassung: 1952-07-03
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 18. März 1965 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Der Kläger bezieht Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v. H. Vom 1. Mai 1951 an zahlte die Versorgungsverwaltung ihm die Versorgungsrente nicht aus, weil er am 8. August 1950 "nach unbekannt" polizeilich abgemeldet war. Mit Schreiben vom 7. Juni 1951 und 22. September 1952 erinnerte der Kläger an die Zahlung der Rente. Am 28. August 1957 beantragte er Nachzahlung der Versorgungsrente und teilte mit, daß er sich der Verbüßung einer Gefängnisstrafe zunächst entzogen habe, die Strafe aber seit dem 4. August 1957 verbüße. Seit 12. November 1957 ist er wieder polizeilich gemeldet. Mit Bescheid vom 25. April 1958 gewährte der Beklagte wieder Rente vom 1. August 1957 an, lehnte aber Zahlung für die Zeit vom 1. Mai 1951 bis 31. Juli 1957 ab. Der Kläger hatte mit seinem Widerspruch keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 9. September 1958). Auf seine Klage auf Nachzahlung der Rente verurteilte das Sozialgericht (SG) Speyer den Beklagten, vom 1. Mai 1951 bis zum 31. Juli 1957 die Versorgungsgebührnisse nachzuzahlen. Der Kläger habe seinen Anspruch nicht verwirkt; der Anspruch sei auch nicht verjährt. Auf die Berufung des Beklagten änderte das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz mit Urteil vom 18. März 1965 das erstinstanzliche Urteil dahin ab, daß der Beklagte Rente vom 1. Januar 1953 bis zum 31. Juli 1957 nachzuzahlen habe. Das Gericht wies die weitergehende Klage ab und die weitergehende Berufung zurück. Es hielt den Anspruch des Klägers für nicht verwirkt. Die vergeblichen Versuche des Beklagten, vom Kläger eine Lebensbescheinigung zu erhalten, hätten seinen Anspruch auf Rente nicht vernichtet. Der Beklagte könne auf seine Einrede der Verjährung jedoch die Leistung der Rentenbeträge vom 1. Mai 1951 bis 31. Dezember 1952 verweigern, weil sie mehr als vier Jahre - vom Schluß des Kalenderjahres an gerechnet - zurücklägen; denn diese Ansprüche seien verjährt (§ 197 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -; BSG 19, 90; Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 26. November 1963 - 10 RV 191,61 - in BVBl 1964, 115). Der Nachzahlungsantrag vom 28. August 1957 habe eine Verjährung nach dem 31. Dezember 1952 unterbrochen (§ 209 Abs. 1 BGB). Der Klageerhebung stehe der bei der Verwaltungsbehörde eingereichte Antrag gleich (§ 210 Satz 1 BGB).
Mit der zugelassenen Revision rügt der Beklagte, das LSG habe verkannt, daß sich der Kläger gegenüber dem Staat illoyal verhalten und deshalb auch für die Zeit der Flucht den Rentenauszahlungsanspruch verwirkt habe, zumal er keine Lebensbescheinigung abgegeben habe. Das Rechtsinstitut der Verwirkung gelte auch im öffentlichen Recht (BSG 7, 199). Der Kläger habe längere Zeit hindurch das Recht auf Auszahlung der Versorgungsrente nicht ausgeübt, so daß der Schluß auf Verwirkung nach Treu und Glauben gerechtfertigt sei. Seit der Renteneinstellung im Mai 1951 seien sechs Jahre vergangen; in dieser Zeit sei der Kläger nicht erreichbar gewesen; er habe auch die Meldeauflagen gegenüber der Verwaltung nicht erfüllt. Diese Voraussetzungen genügten, den Auszahlungsanspruch zur Verwirkung zu bringen.
Der Beklagte beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage in vollem Umfange abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision des Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Er sei von 1950 bis 1957 nicht im Ausland gewesen. Er habe jedes Jahr einmal vom 23. September 1952 bis 22. August 1957 die Rente verlangt. Die Verurteilung zur Gefängnisstrafe sei ein Fehlurteil gewesen. Er habe nicht gegen Treu und Glauben verstoßen. Im übrigen werde auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen Urteils verwiesen.
Die Revision des Beklagten ist frist- und formgerecht eingelegt worden und durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sie ist jedoch nicht begründet.
Streitig ist, ob der Kläger seine noch nicht verjährten Rentenansprüche vom 1. Januar 1953 bis zum 31. Juli 1957 dadurch verwirkt hat, daß er für die Versorgungsverwaltung nicht erreichbar war und die jährlich vorgeschriebenen Lebensbescheinigungen nicht abgegeben hat.
Die Verwirkung ist ein Rechtsinstitut, das sich aus dem umfassenderen und älteren Grundsätzen von "Treu und Glauben" (§ 242 BGB) entwickelt und auch in das öffentliche Recht Eingang gefunden hat. Danach kann die Ausübung eines Rechts verwirkt werden, wenn der Berechtigte dem Grundsatz von Treu und Glauben zuwiderhandelt. Das Verhältnis der Über- und Unterordnung der Rechtsträger im Verwaltungsrecht schließt die Verwirkung nicht aus. Allerdings genügt zur Verwirkung nicht ohne weiteres bloße Untätigkeit; der Zeitablauf muß vielmehr so lang sein, daß der zur Leistung Verpflichtete nicht mehr mit der Geltendmachung des Anspruchs zu rechnen braucht (s. dazu BVerwGE 6, 204 f; 12, 177; Bachof, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Verfahrensrecht 1963, S. 270/271 unter 39). Das Rechtsinstitut der Verwirkung gilt auch im Sozialrecht (BSG 7, 199; 16, 83; 16, 210; 23, 65 f; Entscheidung des erkennenden Senats vom 23. November 1962, BVBl 1963 S. 90 Nr. 33). Dabei hat das BSG als weitere Voraussetzung für die Verwirkung gefordert, daß die Interessen der Rechtspartner gegeneinander abgewogen werden und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwischen dem Verhalten des Berechtigten und dem darauf ergehenden Bescheid der Verwaltung beachtet wird.
Vorliegend hat der Kläger sechs Jahre sein Recht auf Auszahlung der Versorgungsrente nicht, jedenfalls nicht ernsthaft wahrgenommen. Er hat zunächst zwar zu erkennen gegeben, daß er die Rente begehrt, er hat der Versorgungsverwaltung aber nicht zugleich die Möglichkeit gegeben, die Rente unter einer bestimmten, im Inland erreichbaren Anschrift auszuzahlen. Der Kläger hat ferner unterlassen, die für den Nachweis der Berechtigung und des Aufenthalts im Inland erforderlichen Lebensbescheinigungen der Behörde vorzulegen. Aus den wenigstens in den ersten Jahren ausgesprochenen Ersuchen, die Rente auszuzahlen, mußte aber die Versorgungsverwaltung erkennen, daß sie mit einer nachträglichen Forderung des Klägers rechnen mußte. Der Kläger beabsichtigte mit seinem Verhalten auch nicht, Maßnahmen der Versorgungsverwaltung zu vereiteln, sondern er wollte sich einer Freiheitsstrafe entziehen. Dazu kommt, daß der Berechtigte nicht in so günstigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebt, daß der Versorgungsträger schon aus seinem Schweigen schließen durfte, daß es dem Kläger auf eine Bewirkung der Rentenauszahlung nicht oder nicht wesentlich ankomme. Schließlich ist auch die Lebensbescheinigung nicht eine Bedingung, von der der Anspruch auf Versorgung schlechthin abhängig gemacht ist, sondern nur ein Beweismittel über die Berechtigung. Allerdings hat das Bundesversorgungsgesetz - BVG - (idF vor dem Ersten Neuordnungsgesetz - 1. NOG -) in seinem § 63 (ebenso §§ 18 und 19 des Verwaltungsverfahrensgesetzes - VerwVG - für die Zeit nach dem 30. April 1955) der Verwaltung die Möglichkeit eingeräumt, die Rente auf Zeit zu entziehen, ohne sie für diese Zeit der Entziehung nachzahlen zu müssen. Diese in § 63 Satz 1 BVG schon in seiner ursprünglichen Fassung normierte Rechtsfolge ist jedoch davon abhängig, daß die Verwaltung den Rentenberechtigten auf die Folgen der Rentenentziehung schriftlich hingewiesen hat. Der Beklagte hat zwar den Kläger nicht schriftlich darauf hinweisen können, weil sich dieser einer Benachrichtigung unter einer inländischen Anschrift (im Geltungsbereich des Grundgesetzes) entzogen hat. Aber er hätte die Möglichkeit gehabt, die Zustellung der Aufforderung im Sinne des § 63 Satz 1 BVG idF vom 20. Dezember 1950 (BGBl I 791) durch öffentliche Bekanntmachung zu bewirken (§ 15 des Verwaltungszustellungsgesetzes vom 3. Juli 1952, BGBl I 379). Hat aber die Verwaltung die für eine Entziehung der Rente gesetzlich vorgeschriebenen Voraussetzungen nicht erfüllt, bleibt der Anspruch auf Rente unberührt. Da sonach der Rentenanspruch des Klägers weder unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung (§ 242 BGB) noch des § 63 BVG entfällt, konnte dieser seine Rechte auch noch 1957 insoweit mit Erfolg geltend machen, als dem Anspruch nicht das Leistungsverweigerungsrecht des Beklagten infolge der Verjährung der für die Zeit vor dem 1. Januar 1953 fällig gewordenen Beträge entgegensteht.
Diesem Anspruch auf Nachzahlung kann der Beklagte auch nicht mit Erfolg entgegenhalten, daß sich der Kläger illoyal verhalten habe; denn auch ein "illoyales" Verhalten führt nicht zur Rechtlosigkeit des Rentenberechtigten. Außerdem ist das Verhalten eines Bürgers, welcher sich dem Strafanspruch des Staates durch Aufgabe seines Wohnsitzes oder durch Flucht entzieht, nicht mit Strafe bedroht.
Das LSG hat bei dieser Sach- und Rechtslage ohne Rechtsirrtum den Beklagten zur Nachzahlung der noch nicht verjährten Beträge der Versorgungsrente verurteilt. Die Revision des Beklagten war daher als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen