Leitsatz (amtlich)
1. Stellt die Verwaltung fest, daß eine von mehreren Gesundheitsstörungen zu Unrecht als Schädigungsfolge anerkannt worden ist und kann die fehlerhaft bemessene Rente nicht mehr herabgesetzt werden, haben im Rahmen des § 48 Abs 3 SGB 10 Rentenerhöhungen zu unterbleiben.
2. Auch die regelmäßige gesetzliche Rentenanpassung ist eine Änderung zugunsten des Betroffenen iS des § 48 Abs 3 SGB 10; der Bestandsschutz des SGB erfaßt nur den aktuellen Zahlbetrag, nicht den sozialen Besitzstand.
Normenkette
SGB 10 § 48 Abs. 3; BVG § 56
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 24.02.1987; Aktenzeichen L 4 V 112/86) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 18.09.1986; Aktenzeichen S 6 V 129/86) |
Tatbestand
Das Versorgungsamt hat bei dem Kläger im Wege einer Neufeststellung verschiedene Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) anerkannt (Herzmuskelschaden, Bauchverwachsungen und Steißbeindefekt) und dem Kläger Beschädigtenversorgung entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 vH unter Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins (§30 Abs 1 und 2 BVG) zuerkannt (Bescheid vom 5. August 1971). Durch Bescheid vom 17. August 1984 stellte das Versorgungsamt fest, daß der anerkannte Steißbeindefekt nicht vorliege. Die schädigungsbedingte MdE bewertete es mit nur noch 30 vH. Zugleich hob es zwei Bescheide über die Rentenerhöhung im Jahre 1983 mit der Begründung auf, sie seien rechtswidrig, weil die Aussparungsvorschrift des § 48 Abs 3 SGB 10 (Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren -) damals nicht beachtet worden sei. Diese beiden Bescheide könnten noch zurückgenommen werden, weil die Zweijahresfrist des § 45 Abs 3 SGB 10 nicht abgelaufen sei. Die dagegen gerichtete Klage hatte Erfolg. Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) waren der Auffassung, Rentenerhöhungen vor dem Zeitpunkt, zu dem die Rechtswidrigkeit des Ursprungsbescheides erkannt worden sei, könnten nicht zurückgenommen werden. Das Urteil des LSG ist rechtskräftig geworden.
Mit dem hier angefochtenen Bescheid vom 20. Juni 1986 stellte das Versorgungsamt fest, der Bescheid vom 5. August 1971 sei rechtswidrig. Zur Begründung verwies es auf die Gründe des rechtskräftig gewordenen Bescheids vom 17. August 1984. Zugleich lehnte es die Rentenerhöhung nach dem 15. Rentenanpassungsgesetz (RAG) vom 23. Juni 1986 (BGBl I 915) ab, die mit Wirkung vom 1. Juli 1986 geschehen sollte.
Diesen Bescheid hat das SG aufgehoben (Urteil vom 18. September 1986). Das LSG hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 24. Februar 1987). Es hält eine auf § 48 Abs 3 SGB 10 gestützte Aussparung der Versorgungsbezüge von der Anpassung für rechtswidrig; denn die jährliche Anpassung, wie sie nach § 56 BVG in Verbindung mit den Anpassungsgesetzen vorgesehen sei, sei keine Änderung der Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 SGB 10. Für die Anpassung sei nach wie vor die bestandskräftige Feststellung des Anspruchsgrundes von 1971 maßgebend. Der Kläger könne eine Anpassung entsprechend einer MdE von 60 vH beanspruchen.
Der Beklagte vertritt mit seiner - vom LSG zugelassenen - Revision weiterhin die Auffassung, § 48 Abs 3 SGB 10 solle auch verhindern, daß ein dem Grunde nach unrichtig festgestellter Versorgungsanspruch zu weiteren Anpassungen der Rentenhöhe führe.
Der Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung als Vertreter der Beigeladenen tritt der Rechtsansicht des Beklagten bei.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist insoweit erfolgreich, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist.
Die Vorinstanzen hätten § 48 Abs 3 SGB 10 (vom 18. August 1980 -BGBl I 1469-/22. Dezember 1983 -BGBl I 1532-) nicht für schlechthin unanwendbar halten dürfen. Sie hätten nicht allein aus diesem Grund den auf diese Vorschrift gestützten Bescheid vom 20. Juni 1986 als rechtswidrig beurteilen dürfen.
Unter der von der Vorinstanz noch zu prüfenden Voraussetzung, daß der Bewilligungsbescheid vom 5. August 1971 von Anfang an rechtswidrig war, weil dem Kläger fälschlicherweise eine MdE von 60 vH statt von 30 vH zuerkannt worden ist, kann der angefochtene Bescheid vom 20. Juni 1986 nicht beanstandet werden. Der Kläger kann nicht verlangen, daß die Anpassungen, die nach § 56 BVG jährlich durch Gesetz angeordnet werden, auf der Grundlage einer MdE von 60 vH geschehen.
Dem steht nicht entgegen, daß der Bewilligungsbescheid vom 5. August 1971, in dem dem Kläger eine MdE von 60 vH zuerkannt worden ist, bestandskräftig geworden ist. § 48 Abs 3 SGB 10 beschränkt vielmehr die Wirkung der Bestandskraft auf den finanziellen Bestandsschutz. Soweit die Leistung rechtswidrig bewilligt ist, wird sie nach § 48 Abs 3 SGB 10 von Leistungserhöhungen ausgespart. Die Zweifel daran, ob diese Aussparungsvorschrift auch dann gilt, wenn eine Grundlage der Leistungsbewilligung rechtswidrig ist, die von der Änderung iS des § 48 Abs 3 iVm § 48 Abs 1 SGB 10 nicht erfaßt wird und die Leistungserhöhung nur zum Zwecke der Anpassung geschieht, sind nicht begründet.
Das LSG stützt seine Ansicht zunächst darauf, daß § 48 Abs 3 SGB 10 auf § 48 Abs 1 SGB 10 Bezug nimmt, wo geregelt ist, daß ein rechtswidrig gewordener Verwaltungsakt nur "soweit" aufzuheben ist, wie sich die tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse geändert haben. Daraus schließt das LSG, daß auch ein von Anfang an rechtswidriger Verwaltungsakt nur dann nicht Grundlage einer Leistungserhöhung sein solle, wenn eine Änderung gerade in den Verhältnissen eingetreten ist, die ursprünglich rechtswidrig geregelt worden sind. Das würde - bezogen auf die zu hoch festgestellte MdE - nur dann nicht Grundlage einer Leistungserhöhung sein, wenn sich eine Änderung bezüglich der Schädigungsfolgen ergeben hätte, etwa eine Verschlimmerung eingetreten wäre. Dann müßte bei der Beurteilung der Änderung nicht von der rechtswidrig festgestellten MdE von 60 vH, sondern von der zutreffenden MdE von 30 vH ausgegangen werden. Eine Veränderung in bezug auf die Höhe der Geldleistung, die durch eine neue Berechnungsvorschrift eingetreten sei, müßte sich aber zu Gunsten des Klägers auswirken.
Dieser Auffassung folgt der Senat nicht. Der Hinweis in der Aussparungsvorschrift des § 48 Abs 3 SGB 10 auf die Änderungsvorschrift des § 48 Abs 1 SGB 10 besagt nur, daß eine nach dieser Vorschrift an sich gebotene Leistungserhöhung zu unterbleiben hat, wenn die übrigen Voraussetzungen des § 48 Abs 3 SGB 10 vorliegen. Die Verpflichtung, die § 48 Abs 3 SGB 10 der Verwaltung auferlegt, ist nicht so beschränkt, daß sie nur entsteht, wenn die tatsächliche oder rechtliche Veränderung die ursprünglich unrichtig beurteilten Faktoren betrifft. Eine solche Beschränkung folgt weder aus dem Wortlaut noch aus dem Sinn dieser Vorschrift. Es soll vielmehr verhindert werden, daß die zu hohe Zahlung, die durch irgendeinen Fehler entstanden ist, durch irgendeine Veränderung zu Gunsten des Betroffenen immer noch höher wird (vgl Hauck/Haines, SGB 10 1, 2 Stand Mai 1988, Randnote 27 und Anm 11 mH auch auf andere Meinung; vgl auch Schneider-Danwitz, Gesamtkommentar Bd 2 Stand Juni 1986 Anm 68 b und c). Soweit die Änderung iS des § 48 Abs 1 SGB 10 den Leistungsbetrag iS des §48 Abs 3 SGB 10 betrifft und soweit sich die Rechtswidrigkeit des Bescheides ebenfalls auf diesen Leistungsbetrag ausgewirkt hat, ist die Aussparung geboten.
Das macht das Gesetz dadurch deutlich, daß es in § 48 SGB 10 nur noch den Zahlbetrag einer Leistung, der in einem Verwaltungsakt zugesprochen wurde, nicht aber den Berechnungsgrundlagen Bestandsschutz zuschreibt. Es ist eine Vergleichsberechnung mit den richtigen Berechnungsfaktoren vorzunehmen. Erst wenn die danach berechnete Rente den bisherigen Zahlbetrag übersteigt, ergibt sich ein neuer Zahlbetrag, den der Betroffene beanspruchen kann. Letztlich darf sich ein Begünstigter nur auf das Ergebnis, nicht aber auf die - vielleicht sogar selbständiger Regelung zugänglichen - Elemente des nicht mehr aufhebbaren, aber rechtswidrigen Verwaltungsakts verlassen. Er darf auch nicht mit einer Erhöhung rechnen, wenn die Leistung - aus welchen Gründen auch immer - zu hoch angesetzt worden ist.
Der Senat folgt nicht der Meinung des LSG, die jährlichen Anpassungen nach § 56 BVG seien keine "Änderungen zu Gunsten des Betroffenen" nach § 48 Abs 3 SGB 10, auch soweit sie, wie bisher immer, zu einer Anhebung der Leistung führten. Für die Meinung des LSG mögen allerdings beachtliche sozialpolitische Gründe sprechen. Seit der großen Rentenreform im Jahre 1957 hat sich die Überzeugung durchgesetzt, daß der Staat dafür sorgen muß, daß soziale Dauerleistungen auch dauernd ihren Zweck erfüllen. Da die sozialen Leistungen in aller Regel die Erhaltung des Lebensstandards bezwecken, genügte dafür eine Wertsicherungsklausel nicht. Es mußten vielmehr Vorkehrungen dafür getroffen werden, daß die Sozialleistungsempfänger gegenüber den uneingeschränkt Erwerbstätigen nicht zurückbleiben. Diesem Gedanken trägt auch § 56 BVG Rechnung, indem er die regelmäßige Anpassung an die Änderung der Renten in der Arbeiterrentenversicherung vorschreibt. Diese Änderung richtet sich nach der Veränderung des durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelts aller Versicherten der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten (§§ 1272, 1255 RVO).
Es kann eingeräumt werden, daß derjenige, dem eine Dauerleistung bestandskräftig zuerkannt ist, darauf vertraut, daß diese Dauerleistung so erhöht wird, daß sie ihren Zweck auch in Zukunft erfüllt. Das Gesetz schützt aber dieses Vertrauen nicht, soweit der Bewilligungsbescheid rechtswidrig war. Selbst wenn man annehmen wollte, daß die "Anpassung" wesensmäßig keine "Änderung" ist, muß doch festgestellt werden, daß jedenfalls das Gesetz, das die Anpassung anordnet (§ 56 BVG), die Anpassung in der Arbeiterrentenversicherung, an die sich die Anpassung in der Kriegsopferversorgung anschließt, als Änderung bezeichnet. Daß der Schutz des Lebensstandards der Aussparungsvorschrift des § 48 Abs 3 SGB 10 gegenüber nicht resistent ist, macht diese Aussparungsvorschrift aber schon selbst deutlich: Der Bestandsschutz wird ausdrücklich nur dem "Betrag" und nicht dem dadurch begründeten Lebensstandard zugesprochen, der durch die Anpassungsgesetze erhalten werden soll. Nach § 48 Abs 3 SGB 10 wird nicht mehr der soziale, sondern nur noch der finanzielle Besitzstand geschützt.
Der Beklagte ist bei Anwendung des § 48 Abs 3 SGB 10 verfahrensrechtlich richtig vorgegangen (vgl das zur Veröffentlichung vorgesehene Urteil des erkennenden Senats vom 22. Juni 1988 9/9a RV 46/86). Er hat zunächst festgestellt, daß und inwieweit der Bewilligungsbescheid rechtswidrig ist. Sodann hat er die zukünftig vorgesehene Leistungserhöhung abgelehnt.
Das LSG hat nunmehr zu prüfen, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für den angefochtenen Verwaltungsakt vorliegen. Es wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen